Rebellen im Unterhaus des britischen Parlaments
Warum halten sich Abgeordnete im britischen Unterhaus oft weniger streng an die Parteilinie als in Deutschland? Melanie Sully zeigt, dass Untergruppen innerhalb der Parteien immer wieder zu Rebellionen gegen die Partei führen, wie zuletzt bei Labour und zuvor bei den Konservativen. Solche Revolten schwächen die Parteiführung und machen die Regierungsarbeit instabiler.
Ein Essay von Melanie Sully
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Fraktionsdisziplin bei Abstimmungen innerhalb von parlamentarischen Gruppen im britischen Unterhaus. Anders als der Deutsche Bundestag, der oft als Fraktionsparlament bezeichnet wird, kennt der britische Parlamentarismus kein vergleichbares Konzept[1]. Begriffe wie Fraktion, Partei im Parlament oder parlamentarische Gruppe werden in Großbritannien synonym verwendet.
In Deutschland ist eine Parlamentsfraktion der Ort, an dem Informationen ausgetauscht und spezialisiertes Wissen erworben werden kann. Dies erfordert jedoch ein gewisses Maß an Disziplin und Kompromissfähigkeit als Teil des demokratischen Entscheidungsprozesses. Rechtlich ist eine Fraktion im Bundestag von der politischen Partei zu trennen, wenngleich diese beiden Einrichtungen eng miteinander verbunden sind.
Im britischen Unterhaus verstehen sich die parlamentarischen Hauptgruppierungen eher als Dachorganisationen, innerhalb derer sich unterschiedliche Untergruppierungen formieren. Oftmals weisen diese Untergruppen einen so hohen Organisationsgrad auf, dass sie quasi als „Partei innerhalb einer Partei“ bezeichnet werden können. Während Koalitionsregierungen in Großbritannien seltener sind als in Deutschland, bilden sich im Parlament immer wieder Koalitionen auf Subgruppenebene. Dabei können Abgeordnete in verschiedenen Subgruppen derselben Parlamentsfraktion aktiv sein. Diese tauschen untereinander spezialisierte Informationen aus. Die Parteiführungen erwarten von ihren Abgeordneten, dass sie bei Abstimmungen und wichtigen Themen nicht von der Parteilinie abweichen und investieren mitunter viel Zeit und Energie, um Abweichler*innen zu überzeugen. Dabei wird nicht selten mit Zuckerbrot und Peitsche gearbeitet, indem bestimmte Privilegien entweder eingeräumt oder aber wieder entzogen werden. Die Macht der Fraktionsführer (Whips) ist seit 2010 allerdings etwas geringer. Eine Reform führte dazu, dass die Vorsitzende bestimmten Ausschüssen vom Plenum gewählt werden. Dadurch haben Abgeordnete die Chance eine Karriere zu machen, ohne dabei auf die Gunst ihren jeweiligen Whip angewiesen zu sein[2].
Rebellen und das Wahlsystem
Das britische Mehrheitswahlrecht (‚First Past the Post‘) schafft eine spezifische Verbindung zwischen den Wähler*innen, den Abgeordneten und der Parlamentsfraktion. Alle 650 Parlamentssitze werden ausschließlich nach dem Persönlichkeitswahlsystem gewählt.
Eine Kandidatur für das britische Unterhaus ist auf dem Papier eine einfache Angelegenheit. Kandidat*innen können sich um die Unterstützung einer bestimmten Partei bewerben, beispielsweise indem sie es auf eine Shortlist bevorzugter Bewerber*innen schaffen. Mechanismen zur Überprüfung der Kandidat*innen gewinnen jedoch zunehmend an Bedeutung, um einzelne Bewerber*innen, die die Partei später im Parlament in Verlegenheit bringen könnten, frühzeitig auszusortieren.[3]
Kandidierende zum britischen Unterhaus können sich auch als Unabhängige ohne offizielle Unterstützung durch eine bei der Wahlkommission registrierte Partei aufstellen lassen. Dafür müssen Kandidat*innen eine Kaution von 500 Pfund hinterlegen, die ihnen zurückerstattet wird, wenn sie mehr als fünf Prozent der Stimmen in ihrem Wahlkreis gewinnen. Bei den letzten Unterhauswahlen trat der frühere Parteichef der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, als unabhängiger Kandidat an und wurde gewählt. Vor seiner Zeit als Parteivorsitzender hatte Corbyn den Ruf eines notorischen Parteirebellen, der den Sozialismus mehr als die Sozialdemokratie Tony Blair’scher Prägung propagierte.
Ob Kandidierende auf einem Parteiticket oder unabhängig antreten, kann sich in der Folge auf ihr Abstimmungsverhalten als Abgeordnete auswirken. Mit einer politischen Partei im Rücken können die Kandidat*innen Unterstützung für ihren Wahlkampf und die dafür erforderliche Infrastruktur erwarten. Im Gegenzug erwartet die Partei im Parlament eine gewisse Loyalität bei Abstimmungen. Für Unabhängige, die bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben, mag die Unterstützung des Parteiapparats jedoch weniger wichtig sein. Die Unabhängigen müssen dabei nicht zwangsläufig als Einzelkämpfer auftreten. Sie können auch gemeinsam Politik machen, wie jüngst das Beispiel zur Unterstützung der Gründung eines eigenen Palästinenserstaates zeigt.
Abgeordnete, die auf eine Partei angewiesen sind, sind sowohl der Partei als auch der Bevölkerung ihres Wahlkreises, die ihnen zum Wahlsieg verholfen hat, zur Loyalität verpflichtet. Bei den letzten britischen Unterhauswahlen im Jahr 2024 wurde eine große Anzahl an „Überraschungs-Abgeordneten“ gewählt, die auf einem Ticket der Labour-Partei antraten.[4] Dabei handelte es sich um Kandidat*innen, die nicht damit rechneten, einen Abgeordnetensitz zu gewinnen. Aufgrund des Erdrutschsieges der Labour-Partei sitzen sie nun jedoch im Parlament. Im Jahr 2024 gab es insgesamt eine rekordverdächtige Anzahl (52 Prozent) an Abgeordneten ohne vorherige Erfahrung im Unterhaus; 56 Prozent der Labour Abgeordnete konnten ein Mandat erlangen, ohne die übliche ‚Ochsentour‘ durch die Parteigremien gemacht zu haben. Viele dieser Abgeordneten, die nur mit einem geringen Vorsprung gewählt wurden, fürchten nun, ihr Mandat bei der nächsten Wahl zu verlieren. Somit schielen diese Abgeordneten nicht nur auf die Parteispitze, sondern auch auf ihre lokale Wählerschaft. Parlamentarier*innen, die zum ersten Mal gewählt werden, geraten schnell in die Mühlen der Politik des Westminster Unterhauses. Der geringe Einfluss, über den sie in einer großen parlamentarischen Gruppe tatsächlich verfügen, führt nicht selten zur Desillusionierung. Viele davon sind nicht so stark in einer politischen Partei oder nahestehenden Organisation verankert. Sie sind auf Rückschläge oder schlechte Werte in Meinungsumfragen, mit denen eine Regierungspartei unweigerlich zu rechnen hat, nicht vorbereitet und das Potential einer Meuterei innerhalb der Fraktion ist groß.
Parteirevolten innerhalb der Labour-Partei
Inhaltliche Vorbehalte gegen politische Vorhaben sind ein wichtiger Faktor, um Abgeordnete dazu zu motivieren, gegen die Parteilinie zu stimmen. Die von der aktuellen britischen Regierung zur Bekämpfung der Budgetkrise auf den Weg gebrachten Gesetzesvorhaben wurden beispielsweise von vielen Abgeordneten aus ihren eigenen Reihen kritisiert. Diese Maßnahmen beinhalteten Einschnitte bei den Sozialleistungen und standen somit in einem Widerspruch zum Wahlprogramm der Labour-Partei. Die Parteirebellen führten an, dass Vorhaben, die zu Lasten von Rentner*innen und Menschen mit Behinderung beschlossen werden sollten, nicht der Grund dafür waren, dass Labour die Wahl gewonnen hatte.
Obwohl Labour über eine große Mehrheit im Parlament verfügt, ist eine innerparteiliche Rebellion für die Partei dennoch besorgniserregend. Die Rebellion kann ein Gesetzesvorhaben zu Fall bringen, untergräbt die Autorität der Regierung und des Parteiobmanns und führt zu erhöhter Instabilität innerhalb der Parlamentsfraktion. Die (‚Whips‘) versuchten deshalb, eine große Rebellion gegen die geplanten Kürzungen von Sozialleistungen mit Zugeständnissen zu verhindern. Viele gaben daraufhin ihren Widerstand auf, eine eingefleischte Gruppe hielt jedoch weiterhin dagegen. Einige dieser Abgeordneten wurden daraufhin aus der Parlamentsfraktion ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss kann vorübergehend oder dauerhaft ausgesprochen werden. Bei einem permanenten Ausschluss wird der oder die Abgeordnete bei künftigen Wahlen nicht mehr von der Partei unterstützt.
Die Suspendierung einiger aufständischer Abgeordneter der Labour-Partei im Sommer 2025 diente als Abschreckung für all jene, die in Zukunft gegen die Partei rebellieren wollten. Ein Ausschluss aus der Fraktion ist dabei nicht das einzige Mittel zur „Disziplinierung“ von Abgeordneten. Ebenso kann das Streichen von Vergünstigungen, worunter Auslandsbesuche, Angebote zur Beförderung oder der Besuch eines Ministers im Wahlkreis des Abgeordneten zählen, ausgesprochen werden. Zwar werden isolierte Fälle einer Rebellion gegen die Partei bis zu einem gewissen Grad toleriert, Wiederholungstäter*innen müssen jedoch mit Vergeltungsaktionen rechnen.
Parteirevolten bei den britischen Konservativen
Auch unter konservativen Regierungen kam es in der Vergangenheit zu Parteiaufständen. Boris Johnson verzeichnete bei den Unterhauswahlen 2019 mit dem Slogan „Get Brexit done“ einen Erdrutschsieg. Nach mehreren Jahren nervenzehrender Verhandlungen einigte sich die britische Regierung schließlich mit der Europäischen Union auf einen Deal. Dieser musste allerdings noch durchs Parlament. Boris Johnson war der Ansicht, dass die Parteidisziplin in dieser Frage essenziell sei und die Abgeordneten einer Partei geschlossen entweder für oder gegen den Deal abstimmen müssten. In der Folge wurde eine große Gruppe von Dissidenten kollektiv aus der konservativen Fraktion ausgeschlossen – inklusive des Enkels von Winston Churchill.
In einer Regierungspartei ist das Potenzial für eine innerparteiliche Meuterei im Parlament besonders groß, da nicht alle Abgeordneten mit einem Regierungsposten versorgt werden können. Diejenigen, die keinen Posten erhalten, werden auf den Hinterbänken unruhig. Von denjenigen, die mit einer Regierungsfunktion ausgestattet sind, wird erwartet, dass sie sich der Regierungslinie anschließen oder zurücktreten. In der Praxis wird diese ungeschriebene Regel auch meistens befolgt. Seit der innerparteilichen Demokratisierung der Konservativen Partei, lebt die Parteispitze ständig unter dem Damoklesschwert eines Misstrauensvotums der eigenen Fraktion. Konservative Regierungschef*innen können dadurch gezwungen werden zurückzutreten; was wiederum zu einer verstärkten Destabilisierung der Regierungsarbeit geführt hat.
Während der zahlreichen Brexit-Debatten (2016-2020) schossen einflussreiche Untergruppierungen innerhalb der konservativen Parlamentsfraktion wie Pilze aus dem Boden. Sie machten sowohl Theresa May als auch Boris Johnson das Leben als Parteivorsitzende und Regierungschefs schwer. Gruppierungen, wie die European Research Group (ERG) innerhalb der Reihen der Konservativen, trafen sich regelmäßig, gaben improvisierte Pressekonferenzen, aber stimmten nicht immer einheitlich ab. Die ERG hatte sogar ihre eigenen Rechtsexpert*innen, die penibel die Vereinbarungen zwischen der konservativen Regierung und der EU, kontrollierten.
Die Frage nach dem Verhältnis zur EU zog sich quer über Parteilinien hinweg durch das Parlament. Dies führte 2019 für kurze Zeit zum Entstehen einer neuen zentristischen, pro-europäischen Gruppierung namens „Change UK“, die sich aus Abgeordneten der Konservativen und von Labour zusammensetzte, die aus ihrer jeweiligen Parlamentsfraktion freiwillig ausgetreten waren.
Abgeordnete, die sich nicht mehr mit der Parteilinie identifizieren können, haben auch die Möglichkeit, zu einer anderen Parlamentsfraktion überzulaufen oder bei der nächsten Wahl als unabhängige Kandidaten anzutreten. David Cameron wurde während seiner Zeit als konservativer Premierminister der Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten von 2010 bis 2015 zunehmend von den Euroskeptikern in seiner Partei unter Druck gesetzt, ein Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU anzusetzen. Dazu gehörte beispielsweise auch der Fall von Douglas Carswell, der auch zeigt, wie verbreitet Partei- und Fraktionswechsel sind: Im Jahr 2014 verließ der Abgeordnete die konservative Parlamentsfraktion und trat der UK Independence Party (UKIP) bei, die eine Volksabstimmung über einen EU-Austritt Großbritanniens durchsetzen wollte. Dafür trat er als konservativer Abgeordneter zurück und gewann eine Nachwahl als Kandidat von UKIP. Später verließ er UKIP wieder und trat als unabhängiger Kandidat an.
Zusammenfassung
Auch wenn Abgeordnete im Allgemeinen nicht von ihren Kollegen gemieden oder als Verräter dargestellt werden möchten, kommt es im britischen Parlament immer wieder zu Rebellionen. Je größer die Gruppe der Rebellen wird, desto schwieriger wird es für die Parteiführung, eine Untergruppierung innerhalb einer Fraktion im Zaum zu halten – insbesondere dann, wenn diese gut organisiert ist.
So hatten die Instabilitäten innerhalb der Konservativen im Parlament nach dem Brexit Referendum negative Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Der hohe Organisationsgrad der Untergruppierungen führte zu einem Gefühl wechselseitiger Solidarität und wirkte stigmatisierenden Ausgrenzungen durch die Parteiführung entgegen.
Auch die aktuelle Labour-Regierung wurde gezwungen, Zugeständnisse an Rebellen aus ihren Reihen zuzugestehen, die den Haushalt erheblich belasten. Dadurch wird in Zukunft noch schwieriger sein, das Wahlprogramm der Partei umzusetzen.
Weitere Revolte gegen die Parteilinien in den beiden vormals „Großparteien“ sind zu erwarten. Nicht nur im britischen Unterhaus, sondern auch in anderen Parlamenten sind zunehmend Gruppierungen aus dem linken und rechten Spektrum vertreten. Diese üben auf der parlamentarischen Bühne eine Anziehungskraft auf Wähler*innen aus, indem sie einen Widerspruch zwischen dem ‚Volk draußen‘ und dem Parlament betonen.
Anmerkungen:
[1] Siehe dazu Portal für Politikwissenschaft, 21.11.2024, Veranstaltungsbericht, Hellmann, D., Panzer, L. „75 Jahre Fraktionen im Deutschen Bundestag: Motor der parlamentarischen Demokratie“, online unter Portal für Politikwissenschaft – Tagungsbericht „75 Jahre Fraktionen im Deutschen Bundestag: Motor der parlamentarischen Demokratie“ (letzter Zugriff 15.08.2025) sowie Schüttemeyer, S. S. (1998), Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949-1997, Opladen: Westd. Verlag.
[2] Siehe dazu, Geddes, M. (2019), Dramas at Westminster: Select Committees and the Quest for Accountability, Manchester University Press.
[3] Vergleichsweise ist die Aufstellung von Kandidaten in Deutschland kaum untersucht worden: „Von Ochsentour, Hinterzimmern und der Parteiendemokratie: Interview zur Aufstellung der Kandidaten für den Deutschen Bundestag“, online unter Portal für Politikwissenschaft – Von Ochsentouren, Hinterzimmern und der Parteiendemokratie: Interview zur Aufstellung der Kandidaten für den Deutschen Bundestag, (letzter Zugriff 30.8.2025), Interview 25.10.2024, Schindler, D., Kirchner, D. Schüttemeyer, S.S.,
[4] Sully, Melanie (2024): Das britische Zweiparteien System im Wandel, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3, S. 588-605.