Tagungsbericht „75 Jahre Fraktionen im Deutschen Bundestag: Motor der parlamentarischen Demokratie“
Der Deutsche Bundestag gilt als „Fraktionenparlament“, doch wie genau tragen die Fraktionen zum Funktionieren des parlamentarischen Betriebs bei? Wer übt in ihnen Macht aus, welche Unterschiede zeigen sich im internationalen Vergleich und vor welchen Herausforderungen stehen sie? Diese Fragen standen im Zentrum einer wissenschaftlichen Tagung in den Räumen des Bundestages, über die Leon Panzer und Daniel Hellmann vom Institut für Parlamentarismusforschung berichten.
Eine Analyse von Leon Panzer und Daniel Hellmann
Das Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) und die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen (DVParl) luden am 17. und 18. Oktober 2024 zu einer Tagung anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der wichtigsten Arbeitseinheiten des Deutschen Bundestages ein: die Fraktionen. Sie sind, so zitierte Dr. Danny Schindler, Direktor des IParl, aus wissenschaftlichen Interviews: „Hühnerhaufen“. Prof. Dr. Werner Jann von der Universität Potsdam bezeichnete sie hingegen als „Bürokratien“ und Konstantin Kuhle, MdB und Vorsitzender der DVParl, nannte sie „Heimat, Argument und Kristallisationspunkt“. Rein formell sind Fraktionen Zusammenschlüsse von Abgeordneten, grundsätzlich gleicher Parteizugehörigkeit. Sie sind also ohne jede Frage facettenreiche Gebilde.
Ziel und Beitrag der Tagung war es, diese Vielschichtigkeit sichtbar zu machen und das Verständnis zur Arbeit und Bedeutung von Fraktionen und ihrem Verhältnis zu anderen Institutionen aufzuzeigen. Denn, so mahnte Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer, Gründungsdirektorin des IParl, das geringe Wissen über die Funktionsweise des Bundestags und damit auch über die Fraktionen trage zu einem falschen Bild und auch negativem Urteil über Parlament und Parlamentarismus in der Öffentlichkeit bei. Daher sei es für den Fortbestand der parlamentarischen Demokratie unerlässlich, diese Funktionsweisen immer wieder zu erläutern und weiter zu erforschen.
Fraktion und einzelner Abgeordneter
Ein zentrales Thema des ersten Tages, dessen Gespräche von Prof. Dr. Heinrich Oberreuther und Prof. Dr. Thomas Poguntke moderiert wurden, war das Verhältnis einzelner Abgeordneter zu ihrer Fraktion. Bereits in ihrem Eröffnungsstatement verwies Bundestagspräsidentin Bärbel Bas darauf, dass mitunter der Eindruck herrsche, der sogenannte Fraktionszwang verhindere den freien Meinungsaustausch der Abgeordneten und es bräuchte mehr Rebellen, die sich mutig gegen Regierung und Fraktionsvorstände auflehnten. So betonte auch Prof. Dr. Melanie Walter-Rogg von der Universität Regensburg in ihrem Redebeitrag unter anderem, dass der Ausbruch aus den Zwängen von Koalition und Fraktion helfe, das Vertrauensproblem der Bürger*innen zu beheben, wenn sie sehen, dass ihre Abgeordneten in ihrem Sinne handeln. Da das Grundgesetz die Fraktion nur am Rande erwähnt, tut sich auch das BVerfG schwer damit, deren Bedeutung herauszuarbeiten. Wie Prof. Dr. Horst Risse, ehemaliger Direktor des Deutschen Bundestags, ausführte, sieht das Gericht die Fraktionen als Ausfluss der Assoziationsfreiheit der Abgeordneten und als notwendige parlamentarische Einrichtung.
Prof. Dr. Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages fasste kurz und knapp zusammen: „Das Grundgesetz denkt den Parlamentarismus vom Abgeordneten her und in der Verfassungswirklichkeit dominieren die Fraktionen“. Dass dieses historisch gewachsene Parlamentsverständnis des Grundgesetzes an der politischen Realität vorbeigehe, sah auch Prof. Dr. Wolfgang Zeh, ehemaliger Direktor des Deutschen Bundestags. Ihm zufolge hätte selbst in der frühen Geschichte des modernen Parlamentarismus der oft vermittelte Eindruck des Honoratiorenparlaments nicht zugetroffen. Schon die Abgeordneten der Paulskirche hätten sich in Klubs organisiert, um gemeinsam ihre Ziele durchsetzen zu können. Zeh folgerte gar, dass der Bundestag ohne Fraktionen lediglich „eine hohle Form“ sei. Die Gefahr, dass das BVerfG mit seinen zu sehr am Idealbild des einzelnen Abgeordneten orientierten Entscheidungen den Handlungsspielraum der Fraktionen potentiell einschränke, thematisierte auch Dr. Astrid Kuhn, Vorsitzende der Stiftung Wissenschaft und Demokratie. Die Fraktionen und nicht das Gericht könnten am ehesten einschätzen, wann sie und damit der Bundestag an die Grenzen der Arbeitsfähigkeit kämen.
Spezialisten und Generalisten
Noch einmal auf den kolportierten „Fraktionszwang“ eingehend, der die Abgeordneten zu einem einheitlichen Abstimmungsverhalten unter Androhung von Sanktionen zwinge, unterstrich Prof. Dr. Martin Morlok von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf nachdrücklich, dass das Abstimmen entlang der Fraktionslinien vielmehr Ausdruck der Spezialisierung und der Arbeitsteilung sei. Die einzelnen Abgeordneten könnten kaum die volle Bandbreite der Themen als Generalisten abdecken, müssten sich daher auf Politikfelder konzentrieren und sich in den anderen Feldern auf ihre Kolleg*innen verlassen. Selbst innerhalb der Politikfelder, etwa Wirtschafts-, Innen- oder Umweltpolitik, werde die Arbeit durch das Berichterstattersystem nochmals weiter ausdifferenziert, wie Konstantin Kuhle und Armand Zorn, beide MdB und Mitglied im DVParl-Vorstand, aus der Praxis ausführten. Allerdings betonten sie auch, dass Abgeordnete zwar im Bundestag als Spezialist*innen auftreten, im Wahlkreis und im Kontakt mit den Wähler*innen aber Generalisten sein müssten. Dafür sei ein regelmäßiger Informationsaustausch in der Fraktion notwendig.
Werner Jann zufolge könne dieses – überspitzt bezeichnet – „Fachidiotentum“, das auch er für unerlässlich erachte, bei „wicked problems“, also Herausforderungen, die, wie der Klimawandel, nicht an den Grenzen von Politikfeldern Halt machen, ein Problem werden. Dementsprechend seien Fraktionen für den Informationsaustausch von höchster Bedeutung. Und auch für die Wissensgenerierung spielen sie eine herausgehobene Rolle, wie Dr. Marc Geddes von der University of Edinburgh herausstellte. Dieser Befund mag für Deutschland wenig überraschen, ist aber im internationalen Vergleich durchaus beachtlich. Durch Mitarbeiter*innen, Arbeitsgruppen und den innerfraktionellen Austausch würden die Parlamentarier*innen zu Erkenntnissen gelangen, die sie für die Problemlösung verwenden können.
Zwar seien die Arbeitsgruppen, so führte Prof. Dr. Sven T. Siefken von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung aus, mehr noch als Plenum und Ausschüsse die zentralen Arbeitseinheiten des Parlaments, aber auch sie schrieben in aller Regel nicht alleine die Gesetze. Stattdessen kämen die meisten Vorlagen aus den Ministerien, deren Handeln wiederum von Koalitionsverträgen determiniert werde. Innerhalb dieses vielschichtigen Prozesses können die einzelnen Abgeordneten Einfluss nehmen. Diese Erkenntnisse öffentlich bekannter zu machen, sei essenziell für ein realistisches Verständnis von Gesetzgebung und Parlamentsarbeit, so Siefken.
Fraktion und Partei
Es gibt eine Funktion, die alle Parlamente erfüllen müssen: Vernetzung. Prof. Dr. Werner J. Patzelt von der TU Dresden erklärte, wie die Abgeordneten des Deutschen Bundestags dies bewerkstelligen: Durch Mitarbeiter*innen, NGOs und Medien würden Informationen über die Interessen der Bürger*innen gesammelt und so Responsivität erzeugt. Besonders bedeutsam sei der Kontakt, den die Parlamentarier*innen über ihre Parteien in die Gesellschaft haben. Denn die Parteien ermöglichten es, wenn sie ausreichend in der Gesellschaft verankert sind, Interessen zu aggregieren und in den politischen Prozess zu übertragen.
Dabei sei das Verhältnis von Fraktion und Partei nicht problembefreit, wie Dr. Alexandra Bäcker von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf erklärte. Zwar seien Fraktion und Partei in der Praxis eng miteinander verwoben, aber rechtlich streng getrennt, denn anders als Parteien seien Fraktionen komplett vom Staat finanziert. Daher sei eine Querfinanzierung von Parteiarbeit unzulässig. Bäcker wies darauf hin, dass der Versuch, hier eine Trennlinie zu ziehen, nicht immer eindeutig sei – wenn etwa die Fraktionen Inhalte mit Parteibotschaften verbreiten.
Fraktionen im Vergleich
Im Zentrum des zweiten Tags der Fraktionstagung stand ein Forschungsworkshop zum internationalen Vergleich von Fraktionen bzw. parlamentarischen Zusammenschlüssen. In insgesamt sechs Runden moderierten Sven T. Siefken und Suzanne S. Schüttemeyer diverse ausgewählte Fragestellungen. Erste Unterschiede ließen sich schnell hinsichtlich der Begriffsbildung feststellen. Prof. Dr. Andreas Maurer von der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und Experte für die Europäische Union (EU), erläuterte, dass die Bezeichnung „Fraktion“ (vom lateinischen fractio=Bruchteil) in der EU neben den Niederlanden, Estland und Finnland nur in Deutschland vorkomme. Dies gelte auch für die Länder, die für die Fraktionstagung ausgewählt worden waren. In Österreich, Tschechien und der Slowakei werden Fraktionen als „Klubs“ bezeichnet. Die am weitesten verbreitetste und in den Ländern Großbritannien, Türkei und Frankreich vorzufindende Bezeichnung, sei jedoch die der „Parliamentary Party Groups“.
Die Frage nach der rechtlichen Verankerung von Fraktionen in den jeweiligen Ländern wurde von Danny Schindler, Experte für Fraktionsgeschäftsordnungen in Deutschland und im Vergleich, länderübergreifend zusammengefasst: „Was wir im Vergleich sehen, ist eine große Bandbreite: von ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Erwähnung bis keine Erwähnung von speziellen Fraktionsgesetzen bis zur beiläufigen Nennung im Abgeordnetengesetz.“
Fraktionen und Ressourcenausstattung
Hinsichtlich der finanziellen Ressourcenausstattung von Fraktionen rückte Prof. Dr. Melanie Sully vom Go-Governance Institute die Logik des Machtausgleichs zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen in den Mittelpunkt. Dies führe in Großbritannien dazu, dass lediglich die Opposition einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung für ihre parlamentarische Arbeit besitze. Kritisch angemerkt wurde hierbei, dass dies eine größere Abhängigkeit der Regierungsmehrheit von privaten Sponsoren schaffe. Des Weiteren ging Sully darauf ein, dass entgegen der Erwartungen im Majorzsystem auch die Stimmen der Wähler*innen der im Wahlkreis unterlegenen Parteien eine Rolle spielten, da sich hieraus die jeweilige finanzielle Unterstützung der Oppositionsfraktionen ableite. Für die Türkei erklärte Dr. Mahir Tokatlı von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, dass aufgrund der vorherrschenden Dominanz der Partei gegenüber der Fraktion hingegen keine separate Finanzierung letzterer existiere. Die Parteien erhielten bei Erreichen der Fraktionsstärke nach einer Wahl lediglich eine Wahlkampfkostenerstattung. Ob diese den Fraktionen zukomme, bleibe allerdings den Parteien überlassen.
Kontinuitätslinien zeichneten sich in Tschechien und Österreich, nicht zuletzt aufgrund der historisch engen Verflechtungen ab. Dies wurde immer wieder durch die Beiträge von Prof. Dr. Petra Guasti, Karls-Universität Prag und Prof. Dr. Marcelo Jenny von der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck deutlich. Sowohl das tschechische Parlament als auch der österreichische Nationalrat könnten als ausgeprägte Fraktionenparlamente bezeichnet werden, in denen fraktionslose Abgeordnete den Sonderfall bilden. Des Weiteren hätten die Länder gemein, dass den Fraktionsführungen die Verteilung der eigenen Fraktionsmitglieder auf die jeweiligen Ausschüsse vorbehalten sei. Und auch das Vorrecht, das Amt des Parlamentspräsidenten zu bekleiden, liege in beiden Ländern jeweils stets bei der größten Fraktion.
Fraktionen und Personalrekrutierung
Ausgiebig wurde die Beziehung zwischen Regierung und Parlament bzw. zwischen Regierung und Mehrheitsfraktion(en) diskutiert. Die Beschreibung Frankreichs als parlamentarisches System mit Regierungsdominanz ließe sich nach Dr. Calixte Bloquet und Anastasia Pyschny, M.A., vom IParl, auch im Verhältnis von Regierung und Mehrheitsfraktion(en) wiederfinden. Entgegen der eigentlichen rechtlichen Regulierungen sei es Bestandteil der Politischen Kultur, dass die Minister*innen an den Fraktionssitzungen teilnehmen. Außerdem diene die Fraktion, allen voran die Positionen des Ausschussvorsitzenden und des Berichterstatters, als Anlaufstelle der Regierungen, wenn es um die Rekrutierung von Fachpersonal gehe.
Für Österreich attestierte Marcelo Jenny hinsichtlich des Verhältnisses von Regierung und Mehrheitsfraktion(en), dass dieses „zwischen Dominanz und Interdependenz [schwanke]“. Als zentrale Variable gelte hierbei die politische Autorität des Parteiobmanns oder der Parteiobfrau. Ob die Fraktion als Rekrutierungsstätte für ministerielles Personal diene, sei situationsabhängig. Es unterscheide sich stark, ob eine Partei aus der Opposition Regierungsverantwortung erlange oder schon länger die Regierung stelle. Suzanne S. Schüttemeyer ergänzte diesbezüglich mit Bezug auf Deutschland, dass sich hier zusätzlich die Rolle der föderalen Struktur bemerkbar mache. Wenn eine Partei nach langer Zeit der Opposition wieder in Regierungsverantwortung komme, verlagere sich die Personalrekrutierung von den Fraktionen auf die Länder.
Auch auf der Ebene der Europäischen Union sollte ursprünglich aus dem Parlament und somit aus den Fraktionen Personal für die Kommission rekrutiert werden, erklärte Andreas Maurer. In der Praxis bleibe dies jedoch aufgrund der Sonderstellung und Sonderfunktion des Europäischen Parlaments im Vergleich mit den nationalstaatlichen Parlamenten aus. Eine länderübergreifende Gemeinsamkeit liege in der führenden Rolle der Parteien gegenüber den Fraktionen, Kandidat*innen für Wahlen zu bestimmen. Jedoch unterschieden sich diese teils deutlich hinsichtlich demokratischer Aspekte. In der Türkei obliege die Kandidatenaufstellung den Parteivorsitzenden im Zusammenspiel mit den Parteiräten. Mahir Tokatlı erklärte, dass diese top-down loyale Kandidat*innen für die einzelnen Wahlkreise auswählten, woraus sich enge Loyalitätsstrukturen und eine hohe Fraktionskohäsion ergeben. Für Deutschland bleibe die Kandidatenaufstellung, so Danny Schindler, eine Domäne der Kreisverbände. Der Schlüssel zur Nominierung sei demzufolge nicht die Loyalität zur Parteiführung, sondern die Verantwortungsübernahme vor Ort.
Der voraussetzungsvolle Versuch des Workshops, den Fokus auf ausgewählte Aspekte und Perspektiven zu legen, anstatt fortlaufend Land für Land zu analysieren, mündete erfolgreich in dem Erhalt einer einschlägigen Vergleichsperspektive. Es bleibt zu hoffen, dass sowohl die deutsche Perspektive als auch der Blick über den Tellerrand die öffentliche und wissenschaftliche Debatte befruchten und so zu einem besseren Verständnis parlamentarischer Praxis beitragen.
Repräsentation und Parlamentarismus