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Interview / 14.03.2025

Ist die AfD eine Partei der abgehängten Regionen? Politikwissenschaftler Haffert über Stadt-Land-Gegensätze in Deutschland

Meist werden ganze Wahlkreise in den Farben der stimmenstärksten Partei dargestellt, was zu einer verzerrten Wahrnehmung der Stärke und des geografischen Profils der Parteien führen kann. Die obige Darstellung, bei der jeder Wahlkreis als Punkt dargestellt wird, vermittelt einen präziseren Eindruck. Darstellung: Ansgar Wolsing

Rot-grüne Innenstädte, schwarz-blaue Fläche. Die Polarisierung zwischen Stadt und Land spiegelt sich auch in den jüngsten Wahlergebnissen wider. Lukas Haffert forscht seit Jahren zu Stadt-Land-Gegensätzen und spricht im Interview über die wichtigsten Erkenntnisse aus der Bundestagswahl sowie die dahinterliegenden Trends. Geht die Polarisierung vom Land und von der Stadt aus? Was sind die ökonomischen und kulturellen Ursachen für diese wachsende Entfremdung? Und ist die Stärke der AfD Ausdruck einer internationalen „ländlichen Revolte“ gegen die Städte?

Herr Haffert, Sie befassen sich politikwissenschaftlich mit dem Gegensatz von Stadt und Land und haben dazu 2022 ein Buch geschrieben. Wie sieht die politische Geografie der Bundestagswahl 2025 aus?

Das aus der Stadt-Land-Perspektive bemerkenswerteste Ergebnis ist sicher die Stärke der Linken in den Großstädten. Noch 2009 hatte die Linke eine ähnlich ländliche Wählerschaft wie die Union. Seitdem ist die Wählerschaft der Linken mit jeder Wahl städtischer geworden und ist nun so städtisch wie die der Grünen. Sie ist ja nicht nur in Berlin stärkste Kraft geworden, sondern hat auch in westdeutschen Großstädten wie Bremen, Hannover oder Köln Ergebnisse von bis zu 15 Prozent geholt.  Zugleich wird die Partei westdeutscher: 2025 kommt nur noch jeder fünfte Wähler der Linken aus einem ostdeutschen Flächenland, das ist der mit Abstand niedrigste Wert in der Geschichte der Partei.

Auf den Karten, in denen das Wahlergebnis auf Wahlkreisebene dargestellt wird, dominiert in Ostdeutschland mit einigen wenigen Farbtupfern in den Städten die Farbe Blau. Ist die AfD eine Partei des ländlichen Raums?

Zwar ist die AfD im Osten inzwischen fast überall die stärkste Partei, tatsächlich hat sie im Westen aber sogar verhältnismäßig stärker zugelegt als im Osten. Auch die Wählerschaft der AfD ist bei dieser Wahl westdeutscher geworden. Die am stärksten ostdeutsche Wählerschaft hatte diesmal das BSW. Weil der Westen insgesamt deutlich urbaner ist als der Osten, ist damit auch die Wählerschaft der AfD wieder etwas urbaner geworden. Sie bleibt aber von allen im Bundestag vertretenen Parteien diejenige mit dem klar ländlichsten Profil.

beitrag ost

In ihrem Buch kamen Sie für die Bundestagwahl 2021 zu dem Schluss, dass die Grünen eine Partei der Städte und daher die eigentlichen Repräsentanten der wachsenden Stadt-Land-Polarisierung sind. Gilt das auch für diese Wahl?

Tatsächlich hat sich die geografische Verteilung der Grünenwähler gegenüber 2021 kaum verändert. Insofern gilt das auch weiterhin. Bloß ist jetzt eben die Linke als zweite Großstadtpartei hinzugekommen. Allgemein finde ich jedenfalls wichtig, bei diesem Thema nicht immer nur einseitig auf das Land zu schauen. Die zunehmende Polarisierung des Wahlverhaltens geht von beiden Seiten aus, wir können die dahinterliegenden Mechanismen aber nicht richtig in den Blick bekommen, wenn wir immer nur das Land zur erklärungsbedürftigen Abweichung von der Norm erklären.

Wie sieht das Stadt-Land-Profil der anderen Parteien aus?

Da hat sich nicht so viel getan. Die Union bleibt in ländlichen Räumen besonders stark, die SPD eher in den Städten. Das sind sehr alte Muster. Sie sind aber deutlich weniger stark ausgeprägt als bei AfD, Grünen und Linken.

wählerschaft der parteien

In der Literatur zur geografischen Dimension des Rechtspopulismus ist teilweise auch von der „Rache der Orte, die nicht zählen“[1] oder der „ländlichen Revolte“[2] die Rede. Warum fügt sich die AfD nicht vollends bzw. nicht so stark wie rechtspopulistische Parteien in anderen Ländern in dieses Erklärungsmuster ein?

Das hat viel mit der deutschen Wirtschaftsstruktur zu tun, die viel dezentraler und heterogener als beispielsweise in Frankreich oder Großbritannien ist. Die „Champions“ der deutschen Exportindustrie sind oft gerade nicht in den großen Städten zuhause, sondern „hidden“ in Ostwestfalen, Niederbayern oder der schwäbischen Alb. In vielen ländlichen Regionen Westdeutschlands hat die Wirtschaft lange prosperiert, die Einkommen sind hoch und die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Die simple Erzählung von den abgehängten Regionen ohne wirtschaftliche Perspektive haut für Westdeutschland nicht hin, wenn man beispielsweise den starken Zuspruch zur AfD im Süden erklären möchte. Allerdings hat die AfD in diesem Jahr sicher davon profitiert, dass die Krise der deutschen Wirtschaft besonders eine Krise genau dieses Wirtschaftsmodells ist. Da sind Abstiegsängste neu entstanden, die die AfD mobilisieren konnte.

Grundsätzlich anders stellt sich die Lage in Ostdeutschland dar, aber auch in einigen Gegenden im Westen, wie der Eifel oder der Pfalz, wo die AfD ja zum Teil sogar stärkste Kraft geworden ist. Hier passt die These von der „Rache der Orte, die nicht zählen“ besser. Der wichtigste Indikator ist dabei vermutlich nicht das Einkommen oder die Arbeitslosigkeit, sondern der Rückgang der Bevölkerung: Wo die jungen und höherqualifizierten Menschen, besonders die jungen Frauen, in die Städte abwandern, bleiben ein Männerüberschuss, leerstehende Häuser und ganz viel Frust zurück. Das ist vor allem in Ostdeutschland ein großes Problem.

Kann man also sagen, dass Deutschland in Bezug auf die Städte und die dortige Stärke progressiver Parteien wie den Grünen und den Linken dem westeuropäischen Standardfall entspricht, in Bezug auf das Land und die politische Geografie des Rechtspopulismus aber zumindest in Westdeutschland von diesem Standardmuster abweicht? 

Ja, das fasst es aus meiner Sicht gut zusammen. Wie sich das künftig entwickelt, muss man abwarten. Denn auch wenn sich momentan keine simple Unterscheidung zwischen boomenden Städten und abgehängtem Land wie in anderen Ländern feststellen lässt, nimmt auch in Deutschland die regionale Ungleichheit zu.

Dass Menschen auf dem Land und in der Stadt unterschiedliche Interessen haben, ist nicht neu. Schon Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan identifizierten 1967 die Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie zwischen Zentrum und Peripherie als zentrale Konfliktlinien, anhand derer sich die klassischen europäischen Parteiensysteme herausbildeten. [3] Ist der Stadt-Land-Konflikt nicht ein alter Hut?

Im Zuge der industriellen Revolution und der damit einhergehenden Verstädterung wurde der Konflikt zwischen den Städten und dem weiterhin agrarisch geprägten Land zu einer möglichen Spaltungslinie bei der Herausbildung europäischer Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg trat dieser Konflikt jedoch in den Hintergrund, weil die Bedeutung der Landwirtschaft abnahm und sich nun auch das Land industrialisierte. Zudem sank in dieser Zeit nicht nur die Ungleichheit zwischen den Klassen, sondern auch die zwischen den Regionen eines Landes.[4] Stattdessen wurde der ökonomische Links-Rechts-Gegensatz zur dominierenden Konfliktlinie, die im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dann jedoch auch an Schärfe verloren hat. Seit den 1980er-Jahren beobachten wir wieder ein Auseinanderdriften von Stadt und Land, das dazu geführt hat, dass dieser alte Konflikt wieder auf die politische Bühne zurückkehrt.

Woran liegt das?

Das hat mit einer Veränderung der Wirtschaftsstruktur und der kulturellen Werte zu tun, die wir in praktisch allen kapitalistischen Gesellschaften beobachten. Wirtschaftlich ist der Wandel zur postindustriellen Wissensökonomie entscheidend. Während es heute das Land ist, das seine Wirtschaftskraft vor allem der Industrie verdankt, haben sich viele Städte zu Zentren wissensintensiver Dienstleistungen entwickelt. Insbesondere die großen Metropolen und Universitätsstädte, in denen ganze wirtschaftliche Ökosysteme um die Universitäten herum entstanden sind, profitieren davon.

Die Effekte dieser „wissensbasierten Agglomerationseffekte“ in Universitätsstädten und Metropolen bleiben auch kulturell nicht ohne Folgen. Denn diese Städte sind nicht nur wissensökonomische Motoren, sondern auch Quellen und Repräsentanten eines bestimmten Lebensstils. Die „neue Mittelklasse“[5], die dort dominiert, legt großen Wert auf Selbstverwirklichung, kulturelle Offenheit und verfügt über universalistische Einstellungen. Gleichzeitig werden andere Milieus, etwa die traditionelle Arbeiterklasse, aus den großen Städten verdrängt und auch die Menschen auf dem Land vollziehen die kulturelle Liberalisierung viel langsamer. Dass die Lücke zwischen Stadt und Land immer größer wird, ist also nicht so sehr Ausdruck von kultureller Polarisierung, wo beide in unterschiedliche Richtungen ziehen. Sie liegt vielmehr vor allem daran, dass sich die Städte viel schneller liberalisiert haben und dies hängt wiederrum mit der beschriebenen ökonomischen Transformation zusammen. 

Wie übersetzen sich diese Transformationen in Unterschiede in den politischen Einstellungen zwischen Stadt und Land? Ziehen Großstädte schlicht Menschen an, die bereits kosmopolitische Einstellungen mitbringen, oder macht der Kontext „Stadt“ Menschen zu Kosmopolit*innen?

Aus der Forschung wissen wir, dass beides Einfluss hat, aber der Zuzug von Kosmopoliten in die Städte eine größere Rolle spielt. Ich denke aber, dass uns etwas entgeht, wenn wir nicht auch den Kontext berücksichtigen, auch wenn es empirisch schwer ist, den entsprechenden Effekt zu isolieren. Schließlich entstehen die soziodemografischen Profile, nach denen sich Menschen sortieren, nicht im luftleeren Raum, sondern hängen beispielsweise von dem Kontext ab, in dem sie aufwachsen. Das beginnt schon damit, dass Menschen, wenn sie in der Stadt aufwachsen, mit höherer Wahrscheinlichkeit studieren. Außerdem haben wir relativ stabile empirische Befunde, dass etwa Einstellungen zur Migration auch davon abhängen, ob Menschen überhaupt Kontakt mit Zugewanderten hatten und natürlich ist dies in Städten deutlich ausgeprägter. Noch wichtiger als bei den politischen Einstellungen ist der Effekt des Kontextes vermutlich auf die politische Problemwahrnehmung. Die Linke hat bei der Bundestagswahl ja zum Beispiel stark über das Thema Mieten mobilisiert. Ob man das für ein drängendes Problem hält, hängt ganz erheblich vom Wohnort ab.

Damit der Stadt-Land-Konflikt parteipolitisch wirksam werden kann, braucht es ein entsprechendes Mobilisierungspotential. Es reicht nicht, dass Menschen in der Stadt oder auf dem Land leben, sie müssen sich auch als Städter*innen oder Landbewohner*innen identifizieren. Was wissen wir empirisch über das Vorhandensein solcher Identitäten?

Bezüge auf „Stadt“ und „Land“ können ein wirksames Mittel sein, um ein „Wir“ zu konstruieren, weil sie sehr unterschiedliche individuelle Erfahrungen auf einen gemeinsamen Begriff bringen. Für die politische Mobilisierbarkeit ist aber ganz entscheidend, dass die Menschen nicht nur eine gemeinsame Identität haben, sondern sich auch im Konflikt mit einer Gruppe der „Anderen“ wahrnehmen.

Diese Konfliktwahrnehmung ist in der Stadt und auf dem Land aber sehr unterschiedlich ausgeprägt.[6] Städterinnen und Städter sehen hier oft gar keinen Konflikt, die Grünen würden zum Beispiel niemals von sich behaupten, sie seien die Vertreter der Städte im politischen System. Vielmehr hat man durchaus Sympathien für die Landbevölkerung und sieht die politische Herausforderung vor allem darin, städtische Mobilität und Infrastruktur möglichst auch aufs Land zu bringen. Etwas zugespitzt ist das Ziel der „Stärkung des ländlichen Raums“ dann, dass alle so leben können sollen wie in der Stadt. Man könnte auch sagen, die städtische Seite des Konflikts identifiziert ihre eigene Position relativ umstandslos mit dem Gemeinwohl.

Auf der ländlichen Seite gibt es hingegen die sehr klare Wahrnehmung eines Konflikts zwischen zwei Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und das Land zieht dabei in dieser Perspektive regelmäßig den Kürzeren. In der Literatur ist vom „Rural resentment“ die Rede, das sich unter anderem aus der Wahrnehmung speist, dass Steuergelder eher in die Städte als aufs Land fließen und sozialer Status viel stärker mit dem städtischen Leben verbunden ist.[7] Es gibt das Gefühl einer fehlenden Repräsentation und diese Verbitterung nutzt die rechtspopulistische Seite sehr gezielt aus, etwa indem sie gegen das „Feindbild Berlin“ polemisiert.

Die Linke und AfD waren bei den 18 bis 24-Jährigen bei dieser Wahl die stärksten Parteien. Hat der Stadt-Land-Konflikt auch eine Altersdimension?

Der Stadt-Land-Konflikt hat tatsächlich eine starke demografische Dimension. Es ist aber gerade kein Gegensatz zwischen Jung und Alt, sondern der Gegensatz ist vielmehr bei den Jungen besonders ausgeprägt. Zugespitzt: Junge Männer auf dem Land wählen die AfD, junge Frauen in der Stadt die Grünen oder, wie bei dieser Bundestagswahl, die Linken. Wenn man so möchte, denken und wählen die älteren Generationen noch in den Verhältnissen der 1980er-Jahre mit ihren zwei Volksparteien und den nivellierten Verhältnissen von Stadt und Land. Jüngere Generationen werden dagegen in eine Konfliktlage hineinsozialisiert, in der die wachsenden soziostrukturellen Unterschiede viel spürbarer sind. Insofern ist es nur logisch, dass sich diese neuen Lebensrealitäten bei den Jungen auch in ihren politischen Einstellungen und ihrem Wahlverhalten widerspiegeln.

Auch zwischen ländlichen Regionen gibt es große Unterschiede im Wahlverhalten. So fährt die AfD im ländlichen katholischen Münsterland regelmäßig sehr schlechte Ergebnisse ein, im ländlichen katholischen Südosten Bayerns ist sie hingegen sehr stark. Sie haben diese Unterschiede untersucht und kommen zu dem Schluss, dass sie ausgerechnet mit dem preußischen Kulturkampf aus dem 19. Jahrhundert zusammenhängen könnten. Was haben Sie herausgefunden?[8]

Ich habe mich gefragt, was diese Varianz der AfD-Ergebnisse erklärt, obwohl beide Regionen tiefkatholisch sind und der Südosten Bayerns auch ökonomisch gut dasteht. Trotzdem fährt die AfD ausgerechnet hier ihre stärksten Ergebnisse in Westdeutschland ein, während sie im Münsterland sehr schwach ist. Noch erklärungsbedürftiger wird dieses Muster, wenn man bedenkt, dass die NSDAP in den 1930er-Jahren in beiden Regionen schwach abschnitt. Also warum verhalten sich die ländlichen Katholikinnen und Katholiken regional so unterschiedlich in Bezug auf die AfD? Mein Argument ist, dass dies zumindest teilweise ein Erbe des preußischen Kulturkampfes gegen die katholische Kirche im 19. Jahrhundert darstellt. In Regionen, in denen der Katholizismus durch den preußischen Staat unterdrückt wurde, bildete sich in Reaktion darauf ein enges und gut organisiertes laienkatholisches Milieu aus Vereinen, Initiativen und Zeitungen. Hier entstand eine Form von Sozialkapital und Vereinsleben, das die Menschen mit autoritären Politikangeboten fremdeln lässt. Im Gegensatz dazu war der Katholizismus in Süddeutschland stets Mehrheitsreligion und blieb stark mit der Kirche verbunden. Als die Kirche begann, ihren Einfluss auf das Wahlverhalten der Gläubigen zu verlieren, gab es daher keinen Mechanismus mehr, der die katholischen Wählerinnen und Wähler davon abhielt, die radikale Rechte zu unterstützen. Allgemein denke ich, dass es sich lohnt, auch über die historischen Wurzeln heutigen Wahlverhaltens nachzudenken, weil Erklärungen, die nur in der Gegenwart ansetzen, an die schon diskutierten Grenzen stoßen. Aber solche historischen Ansätze können natürlich nur ein Teil der Erklärung sein und es gibt sicher auch eine Gefahr, die Geschichte linearer darzustellen als sie war.

Bei dieser Wahl wurde erstmals nach dem neuen Wahlrecht gewählt. Durch das neu Verfahren der Zweitstimmendeckung ist die Größe des Parlaments auf 630 Mandate gedeckelt, das geht allerdings auf Kosten einiger Wahlkreisgewinner*innen, die künftig nicht mehr direkt in den Bundestag einziehen dürften. Hat das Auswirkungen auf die geografische Repräsentation des neuen Bundestags?

Man muss erstmal festhalten, dass das deutsche Wahlsystem durch Landeslisten und 299 Wahlkreise insgesamt eine ziemlich gleichmäßige Repräsentation von Stadt und Land sicherstellt. Dennoch war bei den letzten Wahlperioden die urbane Perspektive etwas überrepräsentiert. Das liegt daran, dass auch Abgeordnete, die einen ländlichen Wahlkreis vertreten, häufig eine städtische Biografie haben. Hinzu kommt, dass die aussichtsreichsten Listenplätze tendenziell an städtische Kandidaten vergeben werden, weil diese in der Regel über ein größeres Netzwerk verfügen und mitgliedsstärkere Kreisverbände im Rücken haben. Das ist ein großer Unterschied beispielsweise zu den USA, in denen aufgrund des Wahlsystems gerade die dünn besiedelten ländlichen Bundestaaten im Senat und dem Electoral College ganz massiv überrepräsentiert sind.

Die Nichtzuteilung von insgesamt 23 Wahlkreisen bei der Bundestagswahl wirkt allerdings in die entgegengesetzte Richtung, weil davon vor allem städtische Wahlkreise betroffen sind. Paradoxerweise führt sie außerdem dazu, dass die Zusammensetzung der Unions- und AfD-Fraktionen stärker dem Profil ihrer Wählerschaft entspricht. Wenn die CSU alle bayerischen Wahlkreise besetzt, egal ob sie diese mit 30 oder mit 50 Prozent der Stimmen gewinnt, kommt das ländliche Profil ihrer Wählerschaft nämlich in der Fraktion gar nicht zum Ausdruck.

Wie lautet Ihre Prognose: Wird sich der Stadt-Land-Konflikt längerfristig als Konfliktlinie im deutschen Parteiensystem etablieren?

Das wird er aus zwei Gründen: Erstens aufgrund der Alterskomponente, über die wir gesprochen haben. Die Generationen, für die dieser Konflikt eine geringere Rolle spielt, werden kleiner und es kommen Wählerinnen und Wähler nach, die entlang dieses Gegensatzes politisiert und polarisiert sind. Das trägt dazu bei, dass die alten Volksparteien an Bedeutung verlieren und Parteien erstarken, die ein deutlicheres Stadt- oder Land-Profil haben.

Zweitens sieht es bisher auch nicht danach aus, als würden die strukturellen Prozesse, die diesen Konflikt antreiben, an Bedeutung verlieren. Am Anfang der Pandemie gab es die Vorstellung, jetzt würde sich der Trend hin zu den Städten wieder umkehren. Aber das ist nicht der Fall. Vielmehr ist es so, dass das industrielle Exportmodell, auf dem der Wohlstand des ländlichen Raums in Deutschland basiert, seitdem stark unter Druck geraten ist. Insofern spricht sogar manches dafür, dass sich auch die ländliche Seite dieses Gegensatzes zunehmend der europäischen Normalität annähern wird. Und damit dürfte auch der politische Gegensatz zwischen Stadt und Land noch prägender werden.


Anmerkungen:

[1] Rodríguez-Pose, Andrés (2018): The revenge of the places that don’t matter (and what to do about it), in: Cambridge Journal of Regions, Economy and Society, 11 (1), S. 189-209.

[2] Monnat, Shannon/Brown, David (2017): More than a Rural Revolt: Landscapes of Despair and the 2016 Presidential Election, in: Journal of Rural Studies, 55, S. 227-236.

[3] Lipset, Seymour Martin/Rokkan, Stein (1967): Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives, Free Press, New York.

[4] Rosés, Joan R./Nikolaus Wolf (2021): Regional growth and inequality in the long-run: Europe, 1900–2015, in: Oxford Review of Economic Policy, 37 (1), S. 17-48.

[5] Reckwitz, Andreas (2019): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag, S. 9.

[6] Haffert, Lukas/Palmtag, Tabea/Schraff, Dominik (2024): When Group Appeals Backfire: Explaining the Asymmetric Effects of Place-Based Appeals, in: British Journal of Political Science, 54 (4), S. 1217-1238.

[7] Cramer, Katherine J. (2016): The Politics of Resentment. Rural Consciousness in Wisconsin and the Rise of Scott Walker. Chicago: The University of Chicago Press.

[8] Die Frage bezieht sich auf Haffert, Lukas (2022): The long-term effects of oppression: Prussia, Political Catholicism, and the Alternative für Deutschland. American Political. Science Review 116 (2), S. 595–614. Für eine Kritik der Studie siehe Arzheimer, Kai/Bernemann, Theresa/Sprang, Timo (2024): Oppression of Catholics in Prussia does not explain spatial differences in support for the radical right in Germany. A critique of Haffert (2022), in: Electoral Studies 89.



DOI: https://doi.org/10.36206/IV25.3
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