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Analyse / 21.02.2025

Der Mythos der Stimmenverluste an die radikale Rechte

Wie viele ehemalige sozialdemokratische Wähler*innen wählen inzwischen rechtsradikal? Bild: DBT / Thomas Köhler / photothek

Eine häufige Erklärung für den Niedergang der Sozialdemokratie lautet, dass er in einem direkten Zusammenhang mit dem Aufstieg der radikalen Rechten stehe. Anhand verschiedener Datenquellen zeigen Tarik Abou-Chadi, Daniel Bischof, Thomas Kurer und Markus Wagner jedoch, dass die Sozialdemokraten in Westeuropa nur einen kleinen Teil ihrer Wählerschaft an die radikale Rechte verloren haben. Zudem haben sich nur wenige der heutigen Anhänger*innen der radikalen Rechten früher mit der Sozialdemokratie identifiziert und nur wenige erwägen, sowohl eine sozialdemokratische als auch eine rechtsradikale Partei zu wählen.

Die sozialdemokratischen Parteien in Westeuropa haben in den letzten zwei Jahrzehnten einen starken Wähler*innenrückgang erlebt. Gleichzeitig haben die rechtsradikalen Parteien bei den Wahlen deutlich zugelegt. Auf den ersten Blick scheint es naheliegend, diese beiden Trends miteinander zu verbinden, da der Aufstieg der radikalen Rechten mit dem Niedergang der Sozialdemokraten zusammenfiel. Dieser Zusammenhang scheint oberflächlich betrachtet plausibel. Denn in vielen Ländern erhalten rechtsradikale Parteien starke Unterstützung von Wähler*innen aus der Arbeiterklasse.

Dieses Muster, das in vielen Ländern zu beobachten ist, hat einen doppelten Mythos geschaffen, den viele Wissenschaftler*innen, Journalist*innen und andere Beobachter*innen der Politik teilen und anscheinend verinnerlicht haben. Erstens hätten sozialdemokratische Wähler*innen aus der Arbeiterklasse ihrer „natürlichen politischen Heimat“ den Rücken gekehrt und sich stattdessen rechtsradikalen Parteien zugewandt. Zweitens könnten die sozialdemokratischen Parteien diese Wähler*innen zurückgewinnen, wenn sie sie direkter ansprechen würden, beispielsweise durch eine härtere Haltung in Einwanderungsfragen. Dies würde - so die Überlegung - Wähler*innen von der radikalen Rechten zurückgewinnen und so gleichermaßen die Sozialdemokratie stärken und die radikale Rechte schwächen.

Beweisstück I - Kein direkter Wählerwechsel von den Sozialdemokraten zur radikalen Rechten

In diesem Abschnitt geht es um zwei entscheidende Fragen: 1) An welche Parteien haben die sozialdemokratischen Parteien ihre Wähler*innen verloren? 2) Welches Segment von Wähler*innen haben die sozialdemokratischen Parteien überproportional verloren, und an wen?

Um diese Fragen zu untersuchen, haben wir Umfragedaten zusammengefasst, die es uns ermöglichen, die Muster des Wählerwechsels zu analysieren. Wir stellen Daten über die aktuelle und frühere Wahlentscheidung in Österreich, Dänemark, Finnland, Deutschland, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich zusammen.

Abbildung 1: Wählerwechsel von sozialdemokratischen Parteien zu anderen Parteienfamilien

Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto

In Abbildung 1 zeigen wir, zu welchen Parteienfamilien sozialdemokratische Wähler*innen gewandert sind. Drei bemerkenswerte Muster stechen hervor. Erstens haben die Sozialdemokraten den bei weitem größten Anteil ihrer Wähler*innen an Parteien verloren, die im Allgemeinen wirtschaftlich und/oder kulturell links von ihnen stehen, nämlich grüne/linksliberale und radikal-linke Parteien. Zweitens ist ein bedeutender Anteil zur Konkurrenz Mitte-Rechts gewechselt. Drittens ist nur ein kleiner Teil der Wähler*innen von einer sozialdemokratischen zu einer rechtsradikalen Partei gewechselt. Unsere ersten Ergebnisse sprechen also eindeutig gegen den Mythos der Stimmenverluste an die radikale Rechte. Stattdessen machen Wanderungen an die Mitte und an die progressive Linke den Kern sozialdemokratischer Stimmenverluste aus und nicht etwa Verluste an die radikale Rechte. Außerdem lässt sich feststellen, dass die Wähler*innen, die den sozialdemokratischen Parteien den Rücken kehren, sich hinsichtlich ihres Bildungsgrads unterscheiden. Während Wähler*innen mit mittlerem und hohem Bildungsniveau tendenziell zu den grünen/linksliberalen Parteien wechseln, entscheiden sich die Wähler*innen mit geringerem Bildungsgrad eher für die radikale Rechte.

Beweisstück II - Langfristige Muster des Wählerwechsels

Um die langfristigen Muster dahinter zu verstehen, wenden wir uns Paneldaten zu, die es erlauben, dieselbe Gruppe von Befragten in Deutschland, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich über eine Zeitspanne von 30 Jahren zu verfolgen. Für unsere Analysen benötigen wir eine konsistente Identifizierung der sozialdemokratischen „Kernwähler*innen“ über Zeit und Raum hinweg. Wir definieren sozialdemokratische Wähler*innen als diejenigen, die wiederholt für die Sozialdemokraten gestimmt haben.

Im Gegensatz zum öffentlichen Narrativ finden wir wenig Unterstützung für die These, dass sozialdemokratische Wähler*innen zu einer bestimmten Partei überlaufen. Unsere Ergebnisse deuten stattdessen darauf hin, dass die Sozialdemokraten ihre Wähler*innen in alle Richtungen verlieren und ein großer Teil so demobilisiert ist, dass er gar nicht mehr wählt.

Die größten Wählerwanderungen sind in allen drei Ländern zu progressiven Parteien zu verzeichnen - zu den Grünen in Deutschland, den Liberaldemokraten im Vereinigten Königreich und den Grünen, insbesondere der Grünliberalen Partei, in der Schweiz. Für die Sozialdemokraten noch beunruhigender ist jedoch, dass sie in allen drei Ländern Schwierigkeiten haben, neue Wähler*innen zu gewinnen. Dieses Muster ist bei der deutschen SPD am stärksten ausgeprägt, die ihre Kernwählerschaft verloren hat, ohne Mittel und Wege zu finden, um neue Wähler*innen zu gewinnen.

Abbildung 2: Abkehr von den Sozialdemokraten in Großbritannien, Deutschland und der Schweiz

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Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto

Beweisstück III - Wahrscheinlichkeit, für andere Parteien zu stimmen

Wir liefern drittens eine Reihe von weiteren Belegen, die gegen den Mythos sprechen, dass die elektorale Krise der sozialdemokratischen Parteien auf Stimmenverluste an die radikale Rechte zurückzuführen ist. Um herausfinden, wie viele Personen, die in Erwägung ziehen, eine sozialdemokratische Partei zu wählen, auch in Erwägung ziehen, eine rechtsradikale Partei zu wählen, verwenden wir Umfragedaten aus Österreich, Dänemark, Finnland, Deutschland, den Niederlanden, Schweden und dem Vereinigten Königreich. Die Personen werden auf einer Skala von 0 bis 10 gefragt, wie wahrscheinlich es ist, dass sie jemals eine bestimmte Partei in ihrem Land wählen würden. Wir stufen jemanden als potenzielle*n Wähler*in einer Partei ein, wenn er*sie eine Partei auf dieser Skala höher als 5 bewertet.

Abbildung 3: Anteil der Personen, die erwägen würden, die Sozialdemokraten zu wählen, die auch erwägen würden, die radikale Rechte, die Grünen oder die radikale Linke zu wählen

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Abbildung: Alix d’Agostino, DeFacto

Abbildung 3 zeigt jeweils den Anteil derjenigen Personen, die es in Erwägung ziehen, eine sozialdemokratische Partei zu wählen, sich aber auch vorstellen können, eine rechtsradikale bzw. eine grüne/linksliberale Partei zu wählen. Es ist zu erkennen, dass in den letzten 20 Jahren weniger als 20 Prozent der Personen, die eine sozialdemokratische Partei wählen würden, sich auch vorstellen können, eine rechtsradikale Partei zu wählen. Diesem Anteil stehen über 60 Prozent potenzieller sozialdemokratischer Wähler*innen gegenüber, die angeben, dass sie sich vorstellen können, eine grüne/radikal-linke Partei zu wählen. Dieser Befund steht im Einklang mit Forschungsergebnissen, die zeigen, dass sozialdemokratische und grüne/radikal-linke Wähler*innen in vielen Fragen, einschließlich der Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaates, ähnliche politische Positionen vertreten. Dies unterstreicht zwei Dinge. Erstens gibt es nur einen kleinen Anteil an rechtsradikalen Anhängern, den sozialdemokratische Parteien potenziell erreichen können. Zweitens bergen Strategien, explizit diese Wähler*innen anzusprechen, das sehr hohe Risiko, viele weitere Wähler*innen an progressivere Parteien zu verlieren.

Schlussfolgerungen und Implikationen

In diesem Kurzbericht haben wir empirische Belege aus verschiedenen Quellen vorgelegt, die dem Mythos widersprechen, dass der Rückgang sozialdemokratischer Wähler*innen auf Stimmenverluste an die radikale Rechte zurückzuführen ist. Unsere Ergebnisse sprechen auch gegen die Vorstellung, dass Strategien zur Rückgewinnung von Arbeiter*innen von der radikalen Rechten durch einwanderungsfeindliche oder andere weniger fortschrittliche Positionen für sozialdemokratische Parteien erfolgreich sein werden. Ein wichtiges und oft übersehenes Muster ist, dass sich sozialdemokratische Parteien schwertun, neue Wähler*innen zu gewinnen. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, wen sie verloren haben, sollten die sozialdemokratischen Parteien daher eher Strategien entwickeln, um neue Wähler*innen zu gewinnen.


Dieser Beitrag basiert auf:

  • Abou-Chadi, Tarik und Markus Wagner (2023): Losing the Middle Ground. The electoral decline of Social Democratic parties since 2000, in: Häusermann/Kitschelt Beyond Social Democracy. The Transformation of the Left in Emerging Knowledge Societies, online unter https://osf.io/m7azv/.
  • Bischof, Daniel und Thomas Kurer (2023): Lost in Transition – Where Are All the Social Democrats Today?” In Häusermann/Kitschelt Beyond Social Democracy: The Transformation of the Left in Emerging Knowledge Societies, online unter https://osf.io/n2hbu/.

Referenzen: 

  • Abou-Chadi, Tarik, Denis Cohen und Markus Wagner (2022): The centre-right versus the radical right. The role of migration issues and economic grievances, Journal of Ethnic and Migration Studies 48(2):366–384.
  • Krause, Werner, Denis Cohen und Tarik Abou-Chadi (2023): Does accommodation work? Mainstream party strategies and the success of radical right parties, Political Science Research and Methods 11(1): 172–179.

Dieser Beitrag ist Teil einer Serie von Policy Briefs des Progressive Politics Research Networks

In Kooperation mit DeFacto



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