Julia Reuschenbach, Korbinian Frenzel: Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen
Wie gelingen respektvolle und konstruktive Diskurse? Julia Reuschenbach und Korbinian Frenzel belassen es in „Defekte Debatten“ nicht bei Zustands- und Ursachenbeschreibungen für die Schwächen unserer Streitkultur, sondern unterbreiten auch Lösungsvorschläge, wie sowohl der*die Einzelne und als auch die Gesellschaft Populismus und gesellschaftlicher Unversöhnlichkeit entgegenwirken könnten. Für unseren Rezensenten Marcus Maurer legen die Politikwissenschaftlerin und der Journalist damit „das richtige Buch zur richtigen Zeit“ vor. Dieses mache „Lust, das ein oder andere weiterzudenken und auszuprobieren“.
Eine Rezension von Marcus Maurer
Der Erfolg populistischer Parteien, die (gefühlte) Polarisierung der Gesellschaft und die zunehmende Kritik an den Nachrichtenmedien als Vierte Gewalt sind Themen, die zuletzt in nicht wenigen, auch kommerziell sehr erfolgreichen Sachbüchern aufgegriffen wurden. Man könnte deshalb fast meinen, hierzu sei mittlerweile alles gesagt worden. Die Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach und der Journalist Korbinian Frenzel haben nun aber ein weiteres Buch zu diesem Themenkreis vorgelegt, das sich auf zweierlei Art von seinen Vorgängern unterscheidet: Zum einen bezieht es seinen Reiz aus der Kombination der beiden Autor*innen. Reuschenbach forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der FU Berlin und ist durch viele Medienauftritte zu politischen Themen bekannt. Frenzel war Print-Journalist, hat für verschiedene Abgeordnete gearbeitet und moderiert mittlerweile seit über zehn Jahren Nachrichten- und Talkformate bei Deutschlandfunk Kultur. Beide gemeinsam können das Thema folglich aus allen nur denkbaren Richtungen beleuchten.
Zum anderen betrachtet „Defekte Debatten“ das Thema aus einer etwas anderen Perspektive als seine Vorgänger. Es stellt die mangelnde Debattenfähigkeit in der Gesellschaft in den Mittelpunkt und beschränkt sich dabei nicht nur auf Diagnose und Ursachenforschung. Das Ziel des Buches besteht vielmehr vor allem darin, Lösungsansätze aufzuzeigen, die Populismus und gesellschaftlicher Polarisierung entgegenwirken. Was können wir als Einzelne und als Gesellschaft dazu beitragen, öffentliche Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten respektvoll und konstruktiv auszutragen?
Eine Zustandsbeschreibung vorweg
Der erste von drei Teilen des Buches ist der Zustandsbeschreibung der Gesellschaft gewidmet. Die Bevölkerung sei demnach erschöpft von der Vielzahl der aktuellen Krisen und überfordert mit der Komplexität der aktuellen Politik. Es fehle sowohl die Überzeugung, selbst etwas bewegen zu können, als auch die Überzeugung, dass die Politik etwas bewegen kann und will. Die Welt erscheine den meisten wie ein Berg aus unlösbaren Problemen. Als Folge zögen sie sich zunehmend ins Private zurück, ihre eigenen Probleme erschienen ihnen wichtiger als die Probleme der Gesellschaft. Diese ist laut Reuschenbach und Frenzel dadurch in viele Teilgruppen mit unterschiedlichen Interessen zersplittert, die jeweils ihre Sicht auf die Welt für die einzig richtige und mögliche halten. In dieser Situation seien konstruktive Debatten zur öffentlichen Meinungsbildung mit dem Ziel, gesellschaftliche Probleme zu lösen, kaum noch möglich, weil die unterschiedlichen Gruppen kaum noch miteinander diskutieren könnten und wollten.
Ursachen für das Dilemma
Wie konnte es so weit kommen? Diese Frage wird im zweiten Teil des Buches diskutiert. Die Argumentationslinie ist hier für Expert*innen nicht unbedingt neu, für Einsteiger*innen aber dennoch sehr lesenswert. Demnach gehe die Spaltung der Gesellschaft mit einer Fragmentierung der Mediennutzung einher. Menschen mit unterschiedlichen Positionen fänden in der digitalisierten Medienwelt problemlos jede Art von Information. Statt sich umfassend zu informieren, wählten sie aber in klassischen Nachrichtenmedien und vor allem in sozialen Medien gezielt solche Angebote, in denen ihnen Gesinnungsgenoss*innen ihre bestehenden Meinungen bestätigten (Echokammern). Die Algorithmen im Netz trügen dann ihr Übriges zur Misere bei, indem sie Menschen vor allem mit solchen Informationen versorgten, die zu ihren Interessen und Meinungen passen (Filterblasen). Diese Ausgangslage, verstärkt durch den aggressiven Umgangston in sozialen Medien, fördere die (affektive) Polarisierung der Gesellschaft, weil in allen Teilgruppen der Eindruck entsteht, nur die eigene Meinung sei legitim und wer trotzdem anders denkt, müsse wohl etwas nicht verstanden haben. Wie soll da dann noch eine Debatte auf Augenhöhe möglich sein? Dies wiederum bereite den Boden für rechte und linke Populist*innen, die die an die politischen Ränder gedrängten Teilgruppen dort abholten und vorgäben, ihnen die gesellschaftliche Macht zurückgeben zu können. Dabei würden ihnen erneut die sozialen Medien helfen, weil sie den aggressiven und emotionalen Kommunikationsstil von Populist*innen mit Reichweite belohnten.
Die Suche nach Lösungen
Der dritte und letzte Teil des Buches widmet sich dann der Frage, ob und wie man dieses Dilemma noch auflösen kann. Die Autor*innen sind hier verhalten optimistisch. Zunächst einmal müssten alle Seiten (wieder) lernen, mit abweichenden Positionen und ambivalenter Faktenlage umzugehen. Öffentlicher Meinungsaustausch sei kein Kampf „Gut gegen Böse“, sondern eine Suche nach dem bestmöglichen Kompromiss. Um diese Erkenntnis in die Gesellschaft zu vermitteln, brauche es unter anderem eine bessere politische Bildung, eine verständlichere Sprache in Politik und Verwaltung, einen ausgewogenen Journalismus, neue Algorithmen für soziale Medien, eine stärkere Sichtbarkeit der Wissenschaft in der Öffentlichkeit und eine Rückkehr zu parlamentarischen Debatten, bei denen es nicht um das Austragen von Konflikten, sondern um einen echten Austausch von politischen Lösungsvorschlägen gehe. Wem dies alles zu vage bleibt, der*die findet am Ende des Buches dann auch noch zehn sehr konkrete „Vorschläge zum Kopfnicken und Kopfschütteln“ (280). Vorgeschlagen wird hier unter anderem ein Verbot von Wahlumfragen während der Wahlkampfphase, ein Schulfach „Demokratie, Medien und Information“, ein „Tag der guten Nachricht“, der Ausbau partizipativer Formate im Fernsehen, eine Abschaffung der „Like“-Funktion in sozialen Medien und ein Perspektivwechsel-Programm, in dem alle eine Zeit lang Einblicke in das Berufsleben anderer erhalten, um deren Lebenswelt besser zu verstehen. Spätestens hier sieht man das Kopfnicken und -schütteln der Leser*innen förmlich vor Augen.
Der Unversöhnlichkeit entgegenwirken
Das Buch hat mit seiner Diagnose fraglos recht: Viele öffentliche Debatten kranken aktuell daran, dass sich unversöhnliche Lager gegenüberstehen, denen es an gegenseitigem Respekt mangelt. Niemand sollte als schlechter Mensch betrachtet werden, weil er für Kernkraft plädiert, und niemand als Spinner, wenn er stattdessen auf Windkraft setzt. Für beides gibt es mehr oder weniger gute Argumente, man muss aber die Bereitschaft mitbringen, sie sich anzuhören und gegeneinander abzuwägen. Diese Bereitschaft zu fördern, ist ohne jeden Zweifel eine schwierige Aufgabe. Dass die Autor*innen hierzu konkrete Lösungsvorschläge entwickeln und sich der dadurch fraglos zu erwartenden Kritik stellen, muss man ihnen hoch anrechnen. Manche ihrer Vorschläge mögen unrealistisch wirken. So werden sich sicher nicht alle Medien in Deutschland auf einen Tag der guten Nachricht verständigen können. Andere wie das Verbot von Wahlumfragen in den letzten Wochen vor der Wahl liegen schon lange auf dem Tisch, ohne bislang umgesetzt worden zu sein. Und wieder andere sind neu und bedenkenswert wie zum Beispiel die Einführung von Debattentagen, an denen wir uns alle im Diskutieren üben. Wie die einzelnen Vorschläge beurteilt werden, mag von Leser*in zu Leser*in variieren. Die Lektüre des Buches macht aber auf jeden Fall Lust, das ein oder andere weiterzudenken und auszuprobieren.
Das richtige Buch zur richtigen Zeit
„Defekte Debatten“ ist also das richtige Buch zur richtigen Zeit. Seine Sprache ist klar und auch für Lai*innen gut verständlich. Die Autor*innen beherzigen ihre eigenen Ratschläge, indem sie weitgehend auf politische Ausgewogenheit achten und auf Polemik sowie einseitige Schuldzuweisungen verzichten. Auch das hebt den Band wohltuend von manchem Kassenschlager der letzten Jahre ab. Man kann sich also nur wünschen, dass das Buch viele Leser*innen unter denjenigen findet, die aktuell in Parteien, Medien, Interessengruppen oder als Privatpersonen versuchen, öffentliche Debatten zu beeinflussen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es die Autor*innen dem Publikum nicht immer leicht machen. Zum einen wirkt das Buch an vielen Stellen hin- und hergerissen zwischen dem Willen, die aktuelle Lage der Gesellschaft wissenschaftlich korrekt zu beschreiben, und der Notwendigkeit, den Erzählstrang fortzuführen. So werden Phänomene wie Polarisierung, Echokammern und Filterblasen zunächst über mehrere Seiten problematisiert, um dann kurz darauf hinzuweisen, dass es zumindest für Deutschland bislang überhaupt keine empirischen Belege für die Existenz dieser Phänomene gibt. Natürlich kann man das Buch an dieser Stelle nicht einfach beenden. Die scheinbar widerlegten Phänomene werden deshalb im weiteren Verlauf dann doch wieder vorausgesetzt, um die Argumentationslinie aufrecht erhalten zu können. Das ist nicht tragisch, weil man gute Ratschläge für besseres Debattieren in jedem Fall immer gebrauchen kann. Man muss allerdings auch aufpassen, dass man bestimmte Probleme nicht herbeiredet, indem man sie größer macht, als sie aktuell sind
Zum anderen verwenden die Autor*innen ein wiederkehrendes Stilmittel, das man wirklich mögen muss, um das Buch mit Genuss zu lesen: Sie beschreiben einen Sachverhalt oder stellen eine Behauptung auf und ziehen diese, kaum dass man sie halbwegs nachvollzogen hat, direkt wieder in Zweifel („Also alles nichts Neues? Vielleicht doch.“; 21). Überhaupt hat man wohl selten so viele Fragesätze in einem Buch gelesen. Das ist vermutlich im Sinne einer konstruktiven Debattenkultur und regt die Leser*innen sicher zum Nachdenken an. Es macht aber auch das Problem einer fortwährend ausgewogenen Argumentation deutlich: Man kann es so sehen oder anders und hat am Ende oft das Gefühl mit leeren Händen dazustehen, weil man nicht weiß, was man jetzt glauben soll.
Repräsentation und Parlamentarismus
Externe Veröffentlichungen
Julia Reuschenbach / 08.09.2024
Lage der Nation-Podcast
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