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Rezension / 09.10.2025

Werner Patzelt: Deutschlands blaues Wunder. Die AfD und der Populismus

München, Langen Müller Verlag 2025

Wie konnte die AfD zu Deutschlands „blauem Wunder“ werden? Werner Patzelt sucht in seinem neuen Buch nach den Ursachen ihres Aufstiegs und macht politische Fehlentscheidungen, insbesondere der Merkel-CDU, als Hauptfaktor aus. Trotz fundierter Analysen zu Populismus und Demokratie leidet das Werk laut unser Rezensentin Evelyn Bokler an Unstrukturiertheit, sprachlichen Schwächen und unnötiger Polemik. Insgesamt überzeuge es inhaltlich nur teilweise und bleibe hinter seinem wissenschaftlichen Anspruch zurück.


Eine Rezension von Evelyn Bokler

Werner Patzelt ist ein erfahrener Autor. Der emeritierte Politikwissenschaftler von der TU Dresden blickt auf eine beeindruckende Publikationsliste mit dem Analyseschwerpunkt deutscher Parlamentarismus zurück. Nun widmet er sich also mit seiner geballten Expertise dem Erstarken der AfD als “blauem Wunder”, das Deutschland derzeit erlebe. Der Titel passt. Denn das Wunder des AfD-Aufstiegs scheint sich zu ereignen, da keiner ihn für möglich halten wollte (17). Und so wünscht der Autor zu erklären, welche Fehlwahrnehmungen und desaströsen politischen Reaktionen auf die AfD zu diesem fast unglaublichen Erfolg ihres kontinuierlichen Wachstums führten.

Vom blauen Parteiwunder rechts von der CDU

Der Beginn des Buches setzt mit der Parteigeschichte an. Er beleuchtet die Wählerentwicklung von einer zunächst in Programm, Personal und politischen Postulaten konservativen Partei, entsprungen aus dem Schoße einer CDU, die mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel weit nach links in die Mitte gerückt war. Doch nicht nur das, so Patzelt. Verheerender sei der Unwille der Christlich-Konservativen gewesen, angefeuert von potenziellen mittig-linken bis linken Partnern, die freigesetzten konservativen Kräfte parteipolitisch zu binden. So benennt der Populismusforscher denn auch direkt zu Beginn das Versagen der Merkel-CDU als Hauptursache für den Aufstieg. Gemeinsam mit dem Mainstream der Medien und den etablierten Parteien habe man sich rasch darauf geeinigt, der AfD den moralingesäuerten Stempel einer mindestens rechtspopulistischen, wenn nicht gar rechtsextremistischen Partei aufzudrücken. Die Auswirkungen dieses Umgangs mit dem Wählerwillen seien katastrophal, so Patzelt. Sie stabilisierten die Partei sogar noch, als sie sich in internen Kämpfen zwischen “parlamentsorientierten” Kräften, die sich um vernünftige Regierungspolitik bemühten, und dem “bewegungsorientierten” rechten Flügel (35) in den Jahren 2014 und 2019 fast zerrieb. Es folgen Kapitel mit der Zusammenfassung der AfD-Programme sowie die Fremd- und Selbstwahrnehmungen der AfD, ihrer Wähler und Abgeordneten. In den anschließenden Ausführungen sucht der Autor eine Ansicht auf das Innenleben der Partei zu bieten. Und im sechsten Kapitel bietet er schließlich eine interessante Analyse dazu an, wie sich Radikalisierung zuträgt, um dann, erneut, die politischen Fehler im Umgang zu benennen. Ein vergleichender Blick auf Pegida und AfD rundet die Betrachtung des “blauen Wunders” ab, bevor es nochmal einen Exkurs zur affektiven Ebene und ein Fazit gibt.

Zwischen Polemik, ChatGPT und wissenschaftlicher Analyse

Was sich bei der Betrachtung des Inhaltsverzeichnisses bereits andeutet, bestätigt sich während der Lektüre. Der Aufbau des Werkes ist konfus und unstrukturiert. Es scheint, als ob der Autor durchaus relevante Einzelfragmente zusammengefügt und daraus eine Publikation erstellt hat. Dadurch wird der Stil jedoch uneinheitlich und brüchig. Mal entspricht er einer konzisen Analyse, die nicht nur vertretbar argumentiert, sondern auch wichtige Punkte wie Ursachen für Radikalisierungsverläufe, Merkmale populistischer Parteien und die Grundlagen einer funktionsfähigen pluralistischen Demokratie benennt. Und dann wieder entgleitet die Sprache ins Zynische, fast Hämische, wenn der Autor zum Beispiel von “altersüblichem Revoluzzertum” (84) spricht. Sein Duktus gleicht dann einer professoralen Schelte, die sich ihrer Selbst allzu sicher ist und dadurch fahrig argumentiert.

Es stellt sich daher die Frage, was genau das Buch eigentlich zu sein wünscht: Polemik oder wissenschaftliche Analyse? Da es beidem entspricht, genügt es keinem so richtig. Und so mäandert die Argumentation über weite Teile zwischen hadernd-ressentimentgeladenen Einlassungen zur Migrationspolitik und pointierten sowie gut ausgeführten Analysen zum gebotenen Umgang der Politik mit dem in Wahlen artikulierten Wählerwillen.

Die mangelnde Systematik und unklare Struktur treffen auf ein weiteres beklagenswertes Defizit: die zahllosen orthografischen Fehler bei ungeschmeidiger, verschachtelter Sprache. Sie lassen die Leserschaft endgültig mit dem Eindruck zurück, dass hier ein Buch nicht nur mit heißer, sondern wohl mit glühender Feder verfasst wurde. Zahlreiche Redundanzen verfestigen dieses Urteil – oder geht der Autor davon aus, dass Bücher heute ohnehin nicht mehr vollständig gelesen werden und Wiederholungen nicht auffallen? Sei’ s drum. Von Seiten des Verlags wäre es die Aufgabe eines guten Lektorats gewesen, den Autor vor diesen Fehlerhaftigkeiten zu bewahren. Zumal sie von seinen demokratiesensiblen und wichtigen Analysen unnötig ablenken.

Und dann ist da noch der höchst irritierende Einbau von ChatGPT-Analysen. Hier mag sich die geneigte Leserschaft fragen, was den renommierten Politikwissenschaftler dazu getrieben haben mag, wichtige Profilanalysen an die KI abzutreten, die ebenfalls ihre Antworten auf Studien aus dem Netz aufbaut: Zeitknappheit? Oder der Wunsch, progressiv wirkend zu arbeiten und zu forschen? Eine kritische Diskussion der KI-Ergebnisse, die sogar noch einen Mehrwert hätte bieten können, bleibt ebenfalls aus. Wer ein Buch kauft, auf dem Patzelt draufsteht, möchte auch einen Patzelt drinnen haben.

Ein Blick über den deutschen Tellerrand wäre zudem ebenfalls interessant gewesen. Wieso sind fast alle westlichen Demokratien derzeit diesem rechtspopulistischen Stresstest ausgesetzt? Regierten in anderen Ländern mit nun starken rechtspopulistischen Parteien wie in Italien, Ungarn oder Frankreich ebenfalls schlechte Politiker*innen vom Kaliber einer Merkel? Oder könnten andere, tiefsitzende systemimmanente Defizite westlicher Demokratien identifiziert werden? Patzelt bleibt die Antwort schuldig, da er leider nicht mal die Frage stellt.

Gesellschaftliche Ambiguitätstoleranz bleibt geboten

Ein wichtiger Aspekt des Buches bleibt Patzelts Plädoyer für eine ethnomethodologische Indifferenz (278), die er in der Analyse verschiedener politischer Positionen einfordert. Gefühle sollten hier ausgeklammert sein und vor allem sollte sich die Sozialwissenschaft moralischen Fragen verweigern. Wie häufig dieser Anspruch auf Sachlichkeit von zahlreichen Journalist*innen und Wissenschaftler*innen unterlaufen wird, ist tatsächlich höchst beklagenswert und glänzend von ihm dargestellt. Wenn so die gebotene Ambiguitätstoleranz einer pluralistischen Gesellschaft ausbleibt, führt dies zu einer Verengung des Meinungskorridors, lässt Repräsentationsdefizite der nicht-vertretenen Meinungen entstehen und forciert so Radikalisierung. Die Menschen beginnen, sich vom System abzuwenden, da sie sich nicht repräsentiert fühlen.

Schlussbemerkungen

Trotz dieses Plädoyers unterläuft auch der Politologe seine eigenen Anforderungen. Jeder Mensch leidet unter bestimmten Triggerpunkten, die ihn erheblich emotionalisieren. Bei Patzelt ist dies offenkundig das Thema “Migrationspolitik”. Hier verliert er sich in polemischen Formulierungen, die sogar seine Analysefähigkeit verdunkeln. Ein Beispiel: Wenn demokratische Politik, wie Patzelt treffend herausarbeitet, das Handeln in Alternativen bedeutet, dann ist eben die Politik von Merkel genau das gewesen: eine Möglichkeit des demokratischen Handelns. Und so wie man diesem unbedingt widersprechen darf, kann man es eben auch unterstützen. Wenn es um den Umgang mit der gewählten Migrationspolitik Merkels und allem, was danach riecht, geht, verdammt er sie jedoch jedes Mal in Bausch und Bogen. Wissenschaftlich lauter und sachlich überzeugender im Sinne einer pluralistischen Demokratie wäre es, sich einfach auf den Schutz der Legitimität beider Positionen zu fokussieren. Schließlich entspräche dies auch genau dem, was er ja selbst - zu Recht - anmahnt.

Aber wie heißt es so schön: Vor jeder gelingenden Therapie, steht die treffende Diagnose. Sollte diese im Sinne von Patzelts Analyse nun bei der erkrankten deutschen Demokratie verfangen, so dürften wir vielleicht sogar mit Blick auf ihre Zukunft den Schlager anstimmen: Wunder gibt es immer wieder, heute und auch morgen, können sie geschehen.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ25.45
CC-BY-NC-SA