Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg: Die kommunikativen Strategien der AfD und ihre Auswirkungen
Julia Reuschenbach spricht in diesem Interview über Erkenntnisse der politischen Kommunikationsforschung zu den kommunikativen Strategien der AfD in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen 2024. Es geht es darum, welche Erzählungen von der AfD eingesetzt wurden und wie sie sich dabei inhaltlich zum BSW und zur CDU verhielt. Dies wirft unter anderem auch die Frage auf, wie die Strategien anderer Parteien im Umgang mit starken AfD-Umfragewerten zu beurteilen sind – und wie diesbezügliche Fehler zu starken AfD-Wahlergebnissen und einer zunehmenden Normalisierung rechter Positionen in der Öffentlichkeit beitragen können.
Ein Interview mit Julia Reuschenbach
Tanja Thomsen: Die Politikwissenschaft hat besonders bei Wahlkämpfen Gelegenheit, die politischen Kommunikationsstrategien und darin dominante Narrative von Parteien zu beobachten, da letztere unter Wahlzwang von sich erzählen und für ihre politischen Vorhaben werben. Die AfD nutzte dabei frühere Wahlen, um andere Parteien zu delegitimieren und deren politisches Versagen anhand von Notstandsschilderungen belegen zu wollen. Im Kern sah die AfD dadurch die Demokratie an sich gefährdet und solche Notstandserzählungen fußten unter anderem auf Themen wie Migration, Identität, öffentliche Sicherheit oder EU-Kritik. Welche Themen und narrative Strategien nutzten die ostdeutschen AfD-Landesverbände nun 2024 in den Landtagswahlkämpfen, um Wähler*innen anzusprechen – gab es hier Veränderungen zu vorangegangenen Wahlkampferzählungen?
Julia Reuschenbach: Ja, wir konnten hier tatsächlich mehrere Veränderungen beobachten und es ist wichtig zu sehen, dass sich die Kampagnen der drei Landesverbände teils erheblich voneinander unterscheiden.
Anders als in früheren Wahlkämpfen waren dieses Mal die erwähnten „Notstandserzählungen“ zwar weiterhin präsent, wurden aber von der Partei vor allem in Thüringen stärker mit einem eventartigen Wahlkampf kombiniert. Wahlkampfveranstaltungen wurden als Sommerfest angekündigt, Björn Höcke ließ sich in einer Art Wohlfühl-Foto als „Ministerpräsident“ plakatieren. Dazu gab es einen Imagefilm, der mit einem dynamischen, fröhlichen Song unterlegt ein positives Bild transportieren sollte, was auch zum zentralen Kampagnenslogan „Der Osten machts!“ passte.
Es war sehr deutlich sichtbar, dass der Landesverband in Thüringen stark auf die Nutzung des Themas „ostdeutsche Identität“ setzte, was – so zeigen es erste Nachwahlbefragungen – auch erfolgreich war. Die AfD wird von immer mehr und nun erstmals von einer Mehrheit der Menschen dort als die Stimme des Ostens wahrgenommen. Hinzu kam in Thüringen eine Koketterie mit der Debatte um ein AfD-Verbotsverfahren – sichtbar im Plakat „AfD – Fast verboten gut“, auf dem Björn Höcke mit lässiger Fliegersonnenbrille vor Bildern des Reichstags posiert.
In Brandenburg und Sachsen liegen die Dinge etwas anders. In Sachsen stand vor allem das Thema „Gendern“ im Fokus der Kampagne – „Vorsicht! Genderwahn im Stundenplan“ – und auch traditionelle Frauenbilder wurden in den Plakaten transportiert, ebenso wie starke Bezüge zum ländlichen Raum. In Brandenburg sehen wir in den Slogans auch deutlich stärkere populistische Narrative, etwa im Plakat „Es ist Zeit auf das Volk zu hören“, auf dem ein Mann mit gegerbtem Gesicht und einem Traktor präsentiert wird und so offenbar an die Bauernproteste anknüpfen soll. Dort wurde auch „GRÜNEs kurzhalten“ plakatiert, was fast identisch bei der CDU Sachsen zu lesen war. Welches Motiv zuerst plakatiert wurde, ist mir allerdings nicht bekannt.
Generell gilt, dass Wahlkämpfe für die Politikwissenschaft sehr spannend sind. Sie sind unglaublich vielschichtig und werden nicht isoliert betrachtet, sondern Forschungen knüpfen eng an die Wahlforschung an. Denn es geht ja vor allem auch darum herauszufinden, ob Kampagnen Effekte auf das Wahlverhalten von Menschen haben. Methodisch sind die Zugänge äußerst vielfältig: Es werden Surveys gemacht, um Menschen zu Kampagnen zu befragen. Die Rolle von Medien in Wahlkämpfen wird ebenso untersucht, wie die Frage, ob und wie sehr Personalisierung in Kampagnen stattfindet. Fokusgruppen-Diskussionen können sichtbar machen, welche „Bilder“ aus dem Wahlkampf bei Menschen verfangen. Sofern es TV-Duelle gibt, können ebenfalls Befragungen vor und nach dem Anschauen sowie teilnehmende Beobachtungen währenddessen Erkenntnisse liefern. Und dann besteht natürlich die Möglichkeit, dass klassische Wahlkampfmittel verglichen werden, vor allem Wahlprogramme, Plakate oder auch Slogans – in Kombination mit inhaltsanalytischen Untersuchungen von Reden, Medienauftritten oder etwa auch TV- und Radiowerbung und inzwischen natürlich auch mit Social-Media-Auftritten der Parteien. Hierzu findet gerade viel Forschung statt: Wie häufig ist Negative Campaigning, welche Kanäle nutzen Parteien wie, welche Rolle spielt Visualität? Das Team um Jasmin Riedl in München hat dazu unter anderem das große Projekt „SPARTA“ zur bayerischen Landtagswahl gemacht. Und nicht zuletzt geht es auch um vergleichende Perspektiven, etwa wenn die Kampagnen rechtspopulistischer Parteien in Europa verglichen werden.
Tanja Thomsen: Wie positionierten sich die AfD-Landesverbände zum Begriff der „Remigration“ und hatten die Ereignisse rund um den mutmaßlich islamistisch motivierten Angriff in Solingen zuletzt beobachtbar Einfluss auf Inhalte ihrer Wahlkampfkommunikation?
Julia Reuschenbach: Das Thema Migration – und damit verbunden Kriminalität und Innere Sicherheit – ist das zentrale Mobilisierungsthema der AfD. Nicht erst mit dem Anschlag in Solingen hat die AfD damit Wahlkampf gemacht. Aber in der Tat konnte man beobachten, dass Solingen stark instrumentell verwendet wurde. Hiervon zeugen zum Beispiel X-Posts von Björn Höcke und anderen. Das Thema Remigration hingegen hat zwar durch die Correctiv-Recherche im Februar 2024 viel Aufmerksamkeit bekommen, ist aber für Beobachter*innen der AfD nicht wirklich neu. Die Partei nutzt den Begriff seit Jahren in Papieren und Redeauftritten. Nach den Diskussionen im Frühjahr konnte man – was auch insgesamt zu beobachten ist – sehen, dass die Partei sich nicht scheut, mit diesem Begriff auch öffentlich zu operieren. Zwar misslang aus meiner Sicht Björn Höckes Versuch, den Begriff im TV-Duell mit Mario Voigt umzudeuten, es gehe angeblich um die Rückholung von Deutschen, die aus Deutschland ausgewandert sind, aber der Begriff wurde im Wahlkampf aktiv besetzt. Ein Plakat etwa zeigte vor dem Hintergrund eines Flugzeugs den Slogan „Sommer, Sonne, Remigration“ und platzierte damit das Thema eben nicht mehr nur in einer Erzählung des Versagens der anderen Parteien, sondern als selbstbewusste Forderung der AfD. Lesenswert sind rund um die AfD-Kampagnen unter anderem die Analysen des Kommunikationsberaters Johannes Hillje.
Tanja Thomsen: Die AfD steht 2024 auf Landesebene erstmals in der Konkurrenzsituation zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Dieses fordert neben sozialer Umverteilung einen starken Staat und thematisiert dabei auch Fragen von öffentlicher Sicherheit und Migration. Wie haben sich die betroffenen AfD-Landesverbände in ihren Wahlkampferzählungen bisher zum BSW verhalten?
Julia Reuschenbach: Das BSW war für alle Parteien eine Unbekannte im Wahlkampf und schwierig einzuschätzen. Bei der AfD konnten wir sehen, dass durchaus der Versuch unternommen wurde, Sahra Wagenknecht als Person aktiv für eine Zusammenarbeit anzusprechen unter Verweis auf inhaltliche Gemeinsamkeiten. Als sie und auch andere des BSW dies ablehnten, hat die AfD ihren Kurs geändert und stärkere Abgrenzung gesucht. Unter anderem hat die Partei Wahlkampf damit gemacht, dass sie schon immer die Partei gewesen sei, die sich für günstiges russisches Gas, Verhandlungen im Ukraine-Krieg und gegen die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter eingesetzt habe. Ich gehe schon davon aus, dass die Partei befürchtete, dass sie Stimmen an das BSW verlieren könnte. In großem Stil ist das bei den Landtagswahlen nun aber ausgeblieben. Mein Kollege Aiko Wagner hat allerdings darauf hingewiesen, dass der Rückgang der AfD in der Sonntagsfrage durchaus mit dem Entstehen des BSW seit Jahresanfang in Verbindung stehen könnte und das BSW womöglich hier Wähler*innen bindet, denen die AfD zu extremistisch ist, die aber zugleich den eben auch im BSW vertretenen Populismus gegen „die da oben“ und „die etablierte Politik“ teilen und daher für andere Parteien nur schlecht erreichbar sind.
Tanja Thomsen: Eine Forsa-Umfrage unter CDU-Mitgliedern ergab Anfang August, dass 45 Prozent der Befragten die Zusammenarbeit mit der AfD nicht vollkommen ausschließen, sondern „zumindest in den ostdeutschen Ländern und Kommunen von Fall zu Fall“ befürworten würden. Haben die AfD-Wahlkampagnen solche Umfrageergebnisse in Hinblick auf eine vermeintlich „bröckelnde Brandmauer“ im konservativen Lager aufgenommen?
Julia Reuschenbach: Ja, das hat stattgefunden. Spitzenkandidierende der AfD haben vielfach in Interviews und auch nun nach dem Wahlsonntag – etwa in der Berliner Runde gleich am Sonntagabend – darauf hingewiesen, dass es diese Daten gebe. Das offenbart aber gleich ein weiteres Problem: Ich schaue kritisch auf diese Studie, denn offenbar handelt es sich um einen Datensatz von Personen, die teils vor sehr langer Zeit bei Forsa mal als „CDU-Mitglieder“ gelistet wurden. Wie repräsentativ diese Auswahl ist, ist daher fraglich. Andere Erhebungen wie etwa von Infratest dimap oder der Forschungsgruppe Wahlen zeigten sowohl vor dem Wahlsonntag als auch danach, dass es eine hohe Ablehnung – Dreiviertel der Unionsanhänger*innen und im Westen etwas stärker als im Osten – mit Blick auf die Zusammenarbeit mit der AfD gibt. Noch größer ist die Ablehnung in der CDU-Anhängerschaft mit Blick auf eine mögliche Regierungsbeteiligung der AfD in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg, siehe Deutschlandtrend August 2024.
Tanja Thomsen: Können Sie generell etwas dazu sagen, wie andere Parteien in ihren Landtagswahlkampagnen auf die hohen AfD-Umfragewerte zu reagieren versuchen bzw. versuchten? So war wiederholt in der medialen Berichterstattung davon die Rede, dass einige Parteien Themen, Rhetorik und Argumentation der AfD übernommen hätten. Deckt sich das denn mit empirischen Beobachtungen zur Wahlkampfkommunikation der Parteien?
Julia Reuschenbach: Wir konnten in Sachsen und Thüringen beobachten, dass vor allem die CDU das Mobilisierungsthema Nr.1 der AfD – also Migration – sehr stark im Wahlkampf zum Thema gemacht hat. Dabei wurden sowohl programmatisch als auch rhetorisch Forderungen und Formulierungen genutzt, die denen der AfD sehr nahe sind. So sagte etwa Mario Voigt im TV-Duell mit Björn Höcke, dass es in Thüringen keine KITA-Plätze mehr für deutsche Kinder gäbe, weil diese für „Ausländer“ freigehalten würden. Die AfD hat darauf durchaus geschickt reagiert, indem sie etwa am Wahlsonntag darauf hinwies, dass die CDU in beiden Ländern die AfD kopiert habe. So weit würde ich nicht gehen, aber die inhaltliche Ähnlichkeit von Forderungen und Rhetorik ist geeignet, die AfD und ihre Positionen zu normalisieren. Die Nachwahldaten zeigen, dass die CDU zudem keinen Erfolg damit hatte. Sie hat laut Wählerwanderung in beiden Bundesländern deutlich Stimmen an die AfD verloren. Die Forschung weist seit Langem darauf hin, dass diese Strategien der Akkommodation nicht erfolgversprechend sind und nicht nur das „Original“ stärken können, sondern unter Umständen auch noch zu Verlusten in der eigenen Wählerschaft in der politischen Mitte führen.
Tanja Thomsen: Wie werden die bisherigen elektoralen Strategien der Parteien für den Umgang mit den hohen AfD-Umfragewerten in Thüringen, Sachsen und Brandenburg aus Sicht der politischen Kommunikationsforschung generell bewertet? Gibt es etwa Handlungsempfehlungen aus der Wissenschaft, die bereits umgesetzt werden?
Julia Reuschenbach: Bislang ist der Blick auf diese Strategien eher kritisch. Häufig sind es nur einzelne Akteure, denen es punktuell gelingt, „besser“ mit der AfD umzugehen. Und der Blick darf hier auch nicht nur auf die anderen Parteien gehen, sondern muss sich auch auf die Medien und deren Umgang mit Vertreter*innen der AfD und deren Äußerungen richten.
Ein Aspekt ist sicherlich, dass Themen wie beispielsweise Migration nicht angstbesetzt sein dürfen. Also nur weil die AfD es zum Thema macht – im Grunde als „Issue-Owner“ das Thema besetzt, dürfen die anderen Parteien, wie es in den letzten Jahren teils durchaus stattfand, nicht dazu übergehen, diese Themen nicht aufzugreifen. Aber es kommt darauf an, wie sie sie aufgreifen und ob sie in der Lage sind, diese mit eigenen, konkreten und belastbaren politischen Ideen und Entscheidungen zu bearbeiten und nicht mit Scheinlösungen oder Symbolpolitik zu agieren. Außerdem werden andere Forschungserkenntnisse wie etwa der Zusammenhang zwischen AfD-Wahl und sozialen Fragen und Themen – hier zum Beispiel Abwanderung und demografische Entwicklung vor allem im Osten und die Strukturschwäche von Regionen – zu wenig gesehen. Hieraus ließen sich aus meiner Sicht durchaus politische Angebote entwickeln. Daneben sehen wir auch, dass die anderen Parteien häufig Vorlagen liefern, aus denen die AfD ihre Opfererzählungen stricken kann. Es wäre gut, wenn wir eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD bekämen, um aufzuzeigen, was deren Forderungen für einzelne Gruppen oder etwa für die Wirtschaft bedeuten würden. Das würde dann auch weniger darauf zielen, Wähler*innen der AfD zurückzugewinnen, was ohnehin ein sehr schwieriges und nur begrenzt mögliches Unterfangen ist, sondern stärker in den Blick nehmen zu verhindern, dass noch mehr Wähler*innen den Weg zur AfD machen. Dieser Aspekt, im Grunde eine Art Prävention, scheint mir insgesamt in den Debatten zu kurz zu kommen.
Tanja Thomsen: Die AfD berichtete über sich bislang als Opfer, das von anderen politischen Parteien ausgegrenzt werde. Welche strategischen Weiterentwicklungen dieser Selbsterzählung sind erwartbar, wenn der AfD trotz sehr starker Ergebnisse bei den Landtagswahlen die Übernahme von Regierungsverantwortung koalitionsstrategisch nicht gelingt? Gibt es in der Forschung Überlegungen dazu, inwieweit sich dieses Opfer-Narrativ im öffentlichen Diskurs auf Debatten rund um Legitimität und Demokratie in der deutschen Politik auszuwirken vermag?
Julia Reuschenbach: Wir konnten nach dem Wahlsonntag in Thüringen und Sachsen sehen, dass die AfD in ihre Erzählungen hier sehr stark an das anschließt, was wir etwa von Trump aus den USA kennen. Da war und ist die Rede vom „Betrug am Wähler“, vom „Ignorieren des Wählerwillens“ oder von 30 Prozent der Stimmen, die angeblich nicht beachtet würden. Diese Erzählungen waren ab Sonntagabend in Interviews und vor allem bei Telegram und in anderen Netzwerken wirkmächtig unterwegs. Aus meiner Sicht setzen die anderen Parteien dem zu wenig entgegen, etwa die Verteidigung des Mehrheitsprinzips und damit zugleich der Verweis darauf, dass die 30 Prozent der Wählerstimmen keineswegs unberücksichtigt bleiben, sondern als wirkmächtige Opposition in zwei Landtagen sitzen werden. Zu befürchten ist sicherlich, dass etwa bei der Wahl des Landtagspräsidenten in Thüringen neue Erzählungen – etwa von einer Art „Putsch“ gegen die AfD – hinzukommen werden. Unter anderem untersucht das Team um Pia Lamberty vom CeMAS, wie die AfD diese Erzählungen nutzt. Daneben spielen natürlich Fragen der elektoralen Integrität eine Rolle. In Deutschland kennen wir diese Debatten über einen „Wahl-Klau“ noch nicht in einem so großen Ausmaß. Aber es gibt mehr Forschung dazu, unter anderem von Schmidt-Beck und Faas zur Bundestagswahl 2021 oder Etzel von 2022, die zu gemischten Ergebnissen kommen.
Tanja Thomsen: Welche Auswirkungen sehen Sie generell für die Debattenkultur in den betroffenen Bundesländern und auf Bundesebene, wenn es der AfD erstmals gelingt, eine Landesregierung anzuführen? Oder spiegeln die hohen AfD-Umfragewerte in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg eigentlich schon jetzt wider, dass vielerorts eine langjährige kommunikative Arbeit der AfD zur Normalisierung von rechten Diskursen stattgefunden hat?
Julia Reuschenbach: Wir sehen, dass die Rolle der AfD als „Polarisierungsunternehmerin“ – ein von Steffen Mau et al. geprägter Begriff – sehr stark verfängt. Sie dominiert mit ihren Themen und Spins Wahlkämpfe und erlangt Diskurshoheiten, durch die sie die anderen Parteien vor sich hertreibt. Deren Nervosität über die hohen Umfragewerte lässt umgekehrt erst die Möglichkeit entstehen, sich so stark treiben zu lassen und führt auch zu einer Verschärfung der Rhetorik und zu Überbietungswettbewerben mit Forderungen, die gerade beim Thema Migration häufig auch rechtlich fragwürdig sind. Genau damit geht auch eine Normalisierung einher und es scheint auch so zu sein, dass vor allem die Unionsparteien, aber auch Teile von SPD und FDP noch nicht verstanden haben, dass diese Forderungen nicht etwa dazu führen, dass AfD-Anhänger*innen wieder zu ihnen zurückwechseln, sondern sich vielmehr in ihren Einstellungen bestärkt und anerkannt fühlen und denken, – etwas salopp formuliert – „endlich haben die es auch begriffen“. Und umgekehrt weicht man so die Abgrenzung zur AfD auch in den eigenen Reihen auf, bei denen der Eindruck entstehen kann, dass, wenn solche Forderungen nun auch von CDU, SPD oder FDP formuliert werden, die der AfD doch womöglich gar nicht so extremistisch und radikal sind. Diese Prozesse konnte man aus meiner Sicht in den letzten Jahren tatsächlich vielerorts beobachten.
Für die Debattenkultur halte ich daneben aber für besonders verheerend, dass gleichzeitig die affektive Polarisierung zwischen den Parteien der Mitte zunimmt. Wenn etwa CDU und Grüne miteinander kaum noch sprechfähig sind, Feindbilder konstruiert werden, zugleich aber womöglich gemeinsame Koalitionsnotwendigkeiten entstehen, erreicht die AfD genau, was sie sich vorstellt. Mir scheint, es fehlt ein ausreichendes Verständnis dafür, dass gerade das Narrativ der „etablierten, wahlweise Kartell- oder Systemparteien“ das Feindbild der AfD-Anhänger*innen prägt und ein „wir gegen die“ konstruiert. Steffen Mau hat das jüngst im Philosophie-Magazin verdeutlicht: AfD und nun auch BSW werden als „Antiparteien“ wahrgenommen, die „in Reaktion auf ein vermeintlich vorherrschendes Parteienkartell“ entstanden sind, welches korrupt gegen die eigene Bevölkerung Politik mache. Auch die politikwissenschaftliche Populismusforschung – unter anderem Lewandowsky, Mudde, oder Wagner – machen darauf seit Langem aufmerksam.
Tanja Thomsen: Welche Möglichkeiten sieht die politische Kommunikationsforschung, um einer solchen Entwicklung im öffentlichen Raum einer pluralen Demokratie ausgleichend begegnen zu können?
Julia Reuschenbach: Ich kann hier nicht für aktuelle Forschungsprojekte sprechen, die derzeit womöglich gerade stattfinden oder angedacht werden. Daher eher ein paar lose Gedanken: Wir sehen unter anderem, dass die AfD jüngst auch am Wahlsonntag in Thüringen und Sachsen wieder stark im Lager der Nichtwähler*innen mobilisieren konnte. Hierzu gibt es meines Erachtens immer noch zu wenig Forschung bzw. Forschung dazu wird zu wenig – auch finanziell – gefördert. Jüngere Projekte wie unter anderem von Schwanholz und Rakers mit einer Studie in/aus Duisburg liefern aber wertvolle Erkenntnisse. Andere Projekte, zum Beispiel zur Komplexität politischer Sprache, etwa von der Uni Hohenheim, widmen sich der Frage, wie politische Kommunikation – eben nicht nur in Reaktion auf Populismus und Extremismus – besser und verständlicher werden kann. Viele Kolleg*innen aus der Politikdidaktik weisen in vielen Forschungen auf Defizite in der politischen Bildung hin: unter anderem Achour und Wagner mit der Studie „Wer hat, dem wird gegeben“. Und ich selbst habe jüngst zusammen mit dem Journalisten Korbinian Frenzel vom Deutschlandfunk Kultur ein Sachbuch zur Frage geschrieben wie eigentlich Defekte in den Debatten der politischen Mitte zwischen denen, die es an sich gut- und wohlmeinen mit der Demokratie, diese Kommunikationsprobleme und Polarisierung verstärken und welche Rolle auch unter anderem Mechanismen der Medienberichterstattung dabei haben. Gestatten Sie mir daher den kleinen Hinweis, dass „Defekte Debatten. Warum wir als Gesellschaft besser streiten müssen“ am 9. September 2024 im Suhrkamp Verlag erscheint.
Anmerkung aus der Redaktion: Dieses Interview wurde am 6. September 2024 in schriftlicher Form geführt.
Repräsentation und Parlamentarismus
Weiterführende Links
CeMAS - Center für Monitoring, Analyse und Strategie
Interdisziplinäre Forschung zu Verschwörungsideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus.
SPARTA – Society, Politics and Risk with Twitter Analysis
Forscher*innen entwickeln interdisziplinär – Politikwissenschaft, Geschichte, Informatik und Data Science – eine Infrastruktur zur Analyse von Twitter-Daten: Forschungsgegenstände waren u. a. die Bundestagswahl 2021, der Landtagswahlkampf in NRW 2022, die Landtagswahl 2023 in Bayern 2023 oder auch Riots – gewaltsame Ausschreitungen – wie die Capitol Hill Riots 2021.
Externe Veröffentlichungen
Julia Schwanholz, Julia Rakers, Oliver Hamann / 2022
Wer die Wahl hat, hat die Qual? Fokusgruppenstudie liefert Erkenntnisse
Universität Duisburg-Essen
Maximilian Etzel / 2022
Wie groß war das Vertrauen? Zur Elektoralen Integrität bei der Bundestagswahl 2021
GESIS – Leibnitz Institut für Sozialwissenschaften
Sabine Achour, Susanne Wagner / 2019
Wer hat, dem wird gegeben: Politische Bildung an Schulen
Friedrich-Ebert-Stiftung
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