Michael Müller / Jørn Precht (Hrsg.): Narrative des Populismus. Erzählmuster und -strukturen populistischer Politik
Die Herausgeber dieses Bandes verstehen Narrative nicht als Geschichten, sondern als semantische Strukturen, die Geschichten oder Diskursen zugrunde liegen und damit eine generelle sinnstiftende Funktion erfüllen. Da die Erzählung von Geschichten in konkreten kommunikativen Kontexten erfolgt, erscheint es zum Verständnis populistischer Strömungen aussichtsreich, in erster Linie diese zugrunde liegenden Narrative zu analysieren. Auch wenn nicht alle Beiträge diesem formalen Zugang folgen, bietet der Band eine Reihe anregender Analysen nicht allein, aber doch vornehmlich rechtspopulistischer Kommunikationen.
Der Begriff des Narrativs wird in der öffentlichen Debatte fast schon inflationär verwendet. Bei nahezu beliebigen Themen und Konflikten scheint – anstelle von Sachaspekten – primär relevant zu sein, ob der jeweilige Streitpunkt in publikumswirksam erzählte Geschichten eingebettet wird, wobei die verwendeten Kriterien zur Einschätzung der medialen Resonanz in hohem Maße variieren. Für analytische Zwecke ist eine derartig weit gefasste, überwiegend auf inhaltliche Aspekte bezogene Verwendung des Narrativbegriffs wenig brauchbar. Einer konzeptionell präziseren Fassung folgen die Beiträge des von Michael Müller und Jørn Precht herausgegebenen Sammelbandes. Er ist aus einer Tagung des Instituts für Angewandte Narrationsforschung (IANA) der Hochschule der Medien in Stuttgart hervorgegangen, die sich 2017 mit den narrativen Strukturen (rechts-)populistischer Kommunikationen befasste.
Unter Rückgriff auf Ansätze (literaturwissenschaftlicher) Erzähltheorien betont Müller einleitend, dass Narrative nicht als Geschichten, sondern als semantische Strukturen zu verstehen sind, die durch Verknüpfung temporaler Aussageformen (Ausgangszustand, Transformation, Endzustand) Geschichten oder Diskursen zugrunde liegen und damit eine generelle sinnstiftende Funktion erfüllen. Da die Erzählung von Geschichten aber immer in konkreten kommunikativen Kontexten erfolgt, erscheint es zum Verständnis populistischer Strömungen aussichtsreicher, in erster Linie die zugrunde liegenden Narrative zu analysieren „und erst in zweiter Linie die Geschichten an der Oberfläche der Kommunikation“ (9). Auch wenn nicht alle Beiträge den von Müller skizzierten formalen Zugang übernehmen, bietet der Band eine Reihe anregender Analysen nicht allein, aber doch vornehmlich rechtspopulistischer Kommunikationen.
Am Beispiel der Verwendung identitätspolitischer Versatzstücke im Kontext populistischer Strömungen in Frankreich und Griechenland vertritt Karin Priester die These eines transversalen Charakters des heutigen Populismus, der sich je nach Lage auf eine Verteidigung nationaler Identität wie auf die des Sozialstaats berufen könne. Angesichts einschlägiger Entwicklungen nicht nur in Frankreich oder Griechenland sieht sie drei Tendenzen, die die Grenzen zwischen Rechts- und Linkspopulismus zunehmend verschwimmen lassen: Re-Ideologisierungen des politischen Feldes, Re-Nationalisierungen der Diskurse und das Streben nach politischen Sammlungsbewegungen zur Ablösung der diskreditierten Volksparteien. Aus ganz anderer Perspektive platziert Markus Arnold das Thema Populismus jenseits eines Links-Rechts-Schemas. Ausgehend von dem institutionellen Paradox repräsentativer Demokratien – nämlich der Berufung auf das Prinzip der Volkssouveränität bei gleichzeitig strikter Limitierung direkter Partizipation – deutet Arnold anti-populistische und populistische Narrative als komplementäre Elemente, die, wenigstens im Normalfall, zum Verständnis der Funktionsweise demokratischer Institutionen beitragen. Dabei könnten sich beide Elemente auf Entsprechungen in der durchaus widersprüchlichen Ideengeschichte des Demokratieprinzips berufen – bei dem populistischen Narrativ auf die Botschaft, die Bürger seien das souveräne Volk und bei dem anti-populistischen Narrativ auf die Warnung vor der Tyrannei der Mehrheit, der nur durch repräsentative Verfahren Grenzen zu setzen sei. (38)
Einen exemplarischen Überblick über die Verwendung des Terminus ‚Volk’ vornehmlich im deutschen Sprachraum gibt Wolfgang Bergem und zeigt unter anderem am Hermannsmythos, wie in dessen populistischer Rezeption „das deutsche Volk als Ethnos [...] und nicht als Demos“ (71) konfiguriert wird. Analyseansätze, die der Erzähltheorie folgen, suchen hinter der wechselhaften populistischen Rede spezifische semantische Strukturen zu identifizieren. Daniel-Pascal Zorn setzt anders an; er bezieht sich auf die rhetorische Logik des Populismus und hebt dessen Vieldeutigkeit selbst als entscheidendes Merkmal hervor. Der Populismus ist ein Eklektizismus, der auf inhaltlicher Ebene außerordentlich flexibel mit beliebigen Versatzstücken operieren und sich so erfolgreich gegen rationale Einwände schützen kann (82 ff.). Das strategische Ziel ist dabei die Erzeugung von Mehrheiten – und sei es auf dem Wege einer Simulation von Mehrheiten. Diesen Effekt stellt Jørn Precht in seiner Untersuchung der Kommentarspalten von Facebook heraus; gerade weil auch die etablierten Massenmedien auf dieser Plattform präsent sein wollen, eröffnen sie mit der Kommentarfunktion für Leser ein weites öffentliches Forum zur Verbreitung populistischer Narrative (103 f.). Explizit aus politikwissenschaftlicher Perspektive stellt Frank Gadinger die methodische und konzeptionelle Relevanz der Narrativforschung für die politische Analyse heraus. Der schleichende Legitimationsverlust der liberalen, Pluralismus und individuelle Freiheit betonenden Erzählung einerseits und die Erfolge der wesentlich auf die Affekte des Publikums bezogenen Strategien populistischer Bewegungen andererseits werfen Fragen auf, die mit der empirischen Wahl- und Parteienforschung nur unzureichend beantwortet werden können (141). Greift man stattdessen die Prämisse der Narrativforschung auf, dass „Erzählungen keinem intrinsischen Wahrheitskriterium verpflichtet sind“ (118), dann rücken jene Erzählformen in den Fokus, mit denen es dem Populismus gelingt, „die unterschiedlichen kollektiven Emotionen von Wut, Hass und gemeinsamen Leidenserfahrungen in entsprechenden Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren und dadurch letztlich politisch wirkmächtig zu werden“ (126). Den methodischen Ansatz einer in dieser Weise politikwissenschaftlich ausgerichteten Narrativanalyse erläutert er anhand fünf typischer Erzählformen des Populismus (127 ff.; vgl. ausführlicher Gadinger /Jarzebski / Yildiz 2014). Die Wirkungsweise von Narrativen als Kommunikationsformen, die sich keinem Autor zuordnen lassen, diskutiert Friederike Herrmann an der Veränderung der Berichterstattung publizistischer Leitmedien nach den Übergriffen auf der Kölner Domplatte Sylvester 2015/2016. Es spricht viel dafür, dass dieses Ereignis eine Diskursverschiebung in den öffentlichen Medien ausgelöst hat, die das Fluchtgeschehen zunehmend als – kriminelle – Bedrohung der Mehrheitsgesellschaft kommuniziert.
Literatur
Gadinger, Frank / Sebastian Jarzebski / Taylan Yildiz (2014): Vom Diskurs zur Erzählung. Möglichkeiten einer politikwissenschaftlichen Narrativanalyse. In: PVS, 55. Jg., Heft 1, S. 67-93
Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.) (2015): Emotionen und Politik. Begründungen, Konzeptionen und Praxisfelder einer politikwissenschaftlichen Emotionsforschung. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
Repräsentation und Parlamentarismus
Aus der Annotierten Bibliografie
Rezension
{BID=40357} „Das Zeitalter des Populismus“ ist angebrochen. Für Bernd Stegemann, Professor für Dramaturgie in Berlin, sind die Zeichen eindeutig: Trump, Brexit und Wahlsiege rechtspopulistischer Parteien in Europa. Die üblichen Lösungsvorschläge – politisches Handeln besser zu erklären, die Rechtspopulisten auszugrenzen oder sie durch Integration in bestehende Strukturen zu entzaubern – greifen seiner Ansicht nach aber zu kurz. Er fordert in seinem Essay eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit den aktuellen Krisensymptomen: Die einzige Lösung liege in der Selbstkritik des Liberalismus.
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