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Rezension / 14.08.2023

Chris Bail: Breaking the Social Media Prism. How to Make Our Platforms Less Polarizing

Princeton, Princeton University Press 2021

Liberale Demokratien leben doch von diskursivem Austausch und der Auseinandersetzung? Chris Bail blickt ernüchtert auf dieses Ideal der Aufklärung, denn Studien belegen: Menschen neigen dazu, nach Diskussionen mit der Gegenseite noch stärker an ihren politischen Überzeugungen festzuhalten. Was dies für Debatten auf sozialen Medien bedeutet und über Polarisierung verrät, arbeitet er in diesem Buch heraus. Unser Rezensent lobt aus politiktheoretischer Perspektive „die Verbindung soziologischer und sozialpsychologischer Forschung, sowohl qualitativer als auch quantitativer Art“.

„Social media turns up the volume of extremists“ (x). Das konstatiert Chris Bail, Professor für Soziologie, Politikwissenschaft und Public Policy an der Duke Universität in North Carolina, im neuen Vorwort zur Paperback-Version von Breaking the Social Media Prism. How to Make Our Platforms Less Polarizing[1]. Bail ist ein überaus lesenswertes Buch gelungen, das unseren Blickwinkel auf ideologische Polarisierung, Echokammern und die Funktionsmechanismen sozialer Medien wesentlich erweitert. Die Struktur letzterer macht extreme Stimmen hör- und sichtbarer, während moderatere Positionen nahezu verschwinden. Algorithmen verstärken diese wahrgenommene Polarisierung. Die Idee der Aufklärung setzt dieser Entwicklung die Konfrontation mit der ‚anderen‘ Seite, also die Diskussion einander widersprechender Ansichten, entgegen. Doch auf Grundlage eigener Forschung und der Aufarbeitung des Forschungsstands kommt Bail zu einem für die liberale Demokratie und ihrer Vorstellung einer rationalen Deliberation unangenehmen Ergebnis: Treffen wir auf Ansichten der Gegenseite, halten wir noch stärker an unseren bisherigen Überzeugungen fest. Denn Menschen suchen und bewerten Informationen so, dass sie ihre bereits bestehenden Ansichten bestätigen.

Der kurzweilige Schreibstil, in dem die Argumente auf nur 132 Seiten Fließtext ansprechend und auch für ein Laienpublikum verständlich entfaltet werden, in Kombination mit Fallbeispielen der von Bail und seinem Team in verschiedenen Experimenten befragten Proband*innen machen dieses Buch zu einer kurzweiligen und gewinnbringenden Leseerfahrung. Kapitel 1 beginnt mit dem Probanden ‚Dave‘. Dieser tendiert zu den Republikanern und wählte 2016 Donald Trump. Er vertritt dennoch einige liberale Positionen in Bürgerrechtsfragen. Weil er aber im beruflichen Umfeld vor allem mit Demokrat*innen zu tun hat, versteckt er seine konservativen Positionen im realen Leben. Nicht aber auf sozialen Medien, wo er diese offensiv propagiert, mit Liberalen argumentiert, Schimpfwörter nutzt und die Nachrichten russischer Fake-Accounts retweetet (3). Anhand dieses Fallbeispiels und unter Rückgriff auf V. O. Key, Cass Sunstein und Eli Pariser erläutert Bail die Problematik von Echokammern und stellt die Henne-Ei-Frage: „How could we be sure that people’s echo chambers shape their political beliefs, and not the other way around?“ (6). Diese Frage greift Bail auch im zweiten Kapitel unter Bezugnahme auf die grundlegende Forschung von Paul Lazarsfeld und Robert Merton und dem Prinzip der Homophilie[2] nochmals auf (15). Während die Differenzierung zwischen menschlichem (Echokammer) und technischem Aspekt (Filterblase) hier zu kurz kommt, rekonstruiert Bail akkurat die bisherige empirische Forschung und konstatiert, dass soziale Medien zwar nicht frei von Schuld seien, es aber doch wenig empirische Evidenz für einen fundamentalen Einfluss technischer Aspekte auf Polarisierung gebe. Wenngleich Bail stets aktuelle Forschungsergebnisse in seine Argumentation inkorporiert, vermisst man an dieser Stelle die quantitative Netzwerkanalyse von Benkler et al. (2018)[3], die im Einklang mit Bails Argumentation in der Technologie keine hinreichende Erklärung für die ‚epistemische Krise‘ in den USA finden, sondern vielmehr die Bildung einer rechten Medienökosphäre seit den 1990er-Jahren herausarbeiten.

Bails zentrales Argument ist sodann anthropologisch: „the root source of political tribalism on social media lies deep inside ourselves“ (10). Wir sind von sozialen Medien abhängig, so die Argumentation, weil sie es uns ermöglichen, verschiedene Identitäten von uns selbst zu präsentieren und diese je nach Reaktion anderer Menschen anzupassen (53). Deshalb seien soziale Medien auch kein Spiegel, sondern ein Prisma der Gesellschaft, das es laut dem Titel des Buches zu brechen gilt. Wie im Fallbeispiel ‚Dave‘ online lediglich dessen radikalere Positionen sichtbar werden und seine liberalen Ansichten verschwinden, sehen wir auf sozialen Medien stets nur einen Ausschnitt der Lebenswelt und daher nur eine Version eines Menschen. Das führt zu einer verzerrten Wahrnehmung anderer Menschen – und von Polarisierung selbst: „The social media prism fuels status-seeking extremists, mutes moderates who think there is little to be gained by discussing politics on social media, and leaves most of us with profound misgivings about those on the other side, and even the scope of polarization itself“ (10).

Daraufhin stellt Bail im Titel des zweiten Kapitels die Frage: „Why not break our echo chambers?“ Eine Antwort findet er durch ein quantitativ angelegtes Experiment, bei dem Twitter-Nutzer*innen über einen längeren Zeitraum hinweg in ihren eigenen Feeds gegenteiligen Ansichten ausgesetzt waren. Genauere Informationen zum Aufbau der insgesamt drei Experimente können interessierte Leser*innen der exakten und im Sinne der Validität und Reliabilität begrüßenswerten Beschreibung im Appendix entnehmen. In der Studie wurden die Nutzer*innen nicht mit gegenteiligen Fakten, sondern mit einem völlig anderen Weltbild konfrontiert. Während der eingangs vorgestellte ‚Dave‘ zunächst mit einigen Positionen der Demokraten sympathisierte, vertrat er nach dem Experiment durchweg konservativere Ansichten. Theoretisch sollte die Auseinandersetzung mit anderen Positionen der Polarisierung entgegenwirken. Doch die Ergebnisse der Studie zeigen das Gegenteil: „On average, Republicans who followed our Democratic bot for one month expressed markedly more conservative views than they had at the beginning of the study. And the more attention they paid to our bots, the more conservative they became. The results were less dramatic for Democrats“ (20). Um diese Dynamik genauer zu verstehen, wiederholten Bail und sein Team das Experiment mit einer verringerten Teilnehmer*innenzahl, um über qualitative Interviews die Positionsveränderungen nachvollziehen zu können. Sowohl für die moderate ‚Patty‘, die Bail als eine wenig enthusiastische Demokratin beschreibt, als auch für die passionierte Republikanerin ‚Janet‘ ergibt sich die gleiche Schlussfolgerung: „Those who stepped outside their echo chambers were certainly not humanizing each other more effectively […]. Instead, stepping outside their echo chambers seemed to sharpen the contrast between ‚us‘ and ‚them‘“ (39). Bails überzeugende Interpretation: Bei Moderaten aktivieren gegenteilige Positionen unterentwickelte Identitäten und bei leidenschaftlichen Anhänger*innen wird der Kontrast zur anderen Seite noch größer, sodass anstatt einer Auseinandersetzung mit Ideen in beiden Fällen ein Identitätswettbewerb die Folge ist.

Den Grund hierfür erklärt Bail im vierten Kapitel mit der empirisch vielfach belegten menschlichen Tendenz, Mitglieder der eigenen Gruppe zu bevorzugen.[4] Politische Identitäten leiten unsere Meinungen.[5] Hier stellt sich allerdings die Frage, warum Bail die Ergebnisse seiner Studie zunächst dennoch nicht glauben konnte (20). Denn, wie er selbst unter Rückgriff auf Klassiker soziologischer Forschung von Norbert Elias und Erving Goffman sowie moderne Neuroforschung erläutert, geben uns Identitäten ein Gefühl von Selbstwert und Zugehörigkeit, woraus sich auch unsere Abhängigkeit erklärt (53). Dadurch wird die Frage wichtig, wie soziale Medien einerseits unser Selbstbild, andererseits aber auch unser Fremdbild beeinflussen.  

Es ist beunruhigend  und zugleich These des fünften Kapitels, dass vor allem Menschen mit extremen Positionen ein Gefühl von Gemeinschaft und Selbstwert durch die Verbreitung ihrer Thesen auf sozialen Medien erlangen. Das Prisma verzerrt also gleichermaßen deren Selbstverständnis – da sie sich durch andere Extremist*innen bestätigt fühlen und einen trügerischen Mehrheitseindruck erlangen – als auch die Wahrnehmung anderer Menschen, weil diese die jeweilige Gegenseite als besonders extrem wahrnehmen (67).  Dieser Effekt wird durch die in Kapitel sechs beschriebene und empirisch erfasste Problematik weiter verstärkt. Bail zeigt anhand des Beispiels von ‚Sara‘, einer moderaten Republikanerin, wie soziale Medien gerade kein Spiegelbild der Gesellschaft sind. Denn während für ‚Sara‘ ihre moderaten politischen Ansichten konstitutiv sind, äußert sie diese kaum auf sozialen Medien (72). Das Prisma sozialer Medien trägt somit in Bails Argumentation zum Phänomen der falschen Polarisierung bei: „This term refers to the tendency for people to overestimate the amount of ideological differences between themselves and people from other political parties“ (75). Wenn die andere Seite durch soziale Medien unvernünftig und unbeugsam erscheint, wird gegenseitige Verständigung schwierig.

Für Bail bleibt abschließend die Frage zu klären, wie mit der von ihm brillant herausgearbeiteten Problematik umzugehen ist. Den eigenen Account zu löschen, lehnt er auf der Basis soziologischer Erkenntnisse als unpraktikablen Ausweg ab und skizziert dagegen drei Schritte gegen die wahrgenommene Polarisierung. Erstens brauche es ein Verständnis für die Wirkungsweise des Prismas auf unsere Identitäten; zweitens müssten wir lernen, uns selbst durch dieses Prisma zu betrachten und anzuerkennen, wie unser eigenes Verhalten die Wirkungsweise des Prismas befeuert. Drittens müssten wir das Prisma durchbrechen, um in einen produktiven Austausch mit der anderen Seite zu gelangen.

Um zu untersuchen, wie das gelingen kann, konzipierte er mit seinen Kolleg*innen ein weiteres Experiment, in dem auf einer neuen sozialen Plattform anonym mit einer Person der jeweiligen Gegenseite diskutiert werden konnte. „The results of the experiment make me cautiously optimistic about the power of anonymity“ (125), resümiert Bail: Menschen entwickelten positivere Einstellungen gegenüber der Gegenseite, Vorurteile wurden abgeschwächt und die Polarisierung vermindert.

So brillant die Analyse und die Herausarbeitung der eigentlichen Problematik sozialer Medien ist, so unterkomplex erscheinen Bails Lösungsvorschläge, die weniger top-down als vielmehr bottom-up gestaltet sind. Sie sind kognitiv und psychisch anspruchsvoll und widersprechen dem von ihm skizzierten grundlegenden menschlichen Bedürfnis und Verhalten. Bail empfiehlt den Nutzer*innen zunächst, über Ideen zu streiten und zu diskutieren und ihre jeweiligen Identitäten aus der Debatte herauszunehmen (114). Um deutlich zu erkennen, wie realitätsfern ein solcher Vorschlag ist, genügt es, sich lediglich die Erweiterungen von Profilbildern um politische Banner auf sozialen Medien vor Augen zu führen. Die identitätsstiftende Funktion und politische Bedeutung solcher politischen Botschaften hat beispielsweise Joel Penney (2017)[6] herausgearbeitet. Darüber hinaus bleibt zu fragen, welchen Mehrwert Menschen aus einer solchen anonymen Plattform ziehen sollten. Denn sie bietet jenes grundlegende Element nicht, das Bail als Hauptgrund für unsere Abhängigkeit von sozialen Medien ausgemacht hat: die Bestätigung des eigenen Selbstwerts und unserer Identität. Dabei benennt er diese Problematik sogar selbst: „Shifting our goals away from creating self-worth or ensuring that our side is winning runs counter to our deepest social instincts“ (107).

Ein Lösungsansatz liegt meines Erachtens vielmehr in der zentralen Botschaft des achten Kapitels begraben: der Feststellung falscher Polarisierung und ihrer Verstärkung durch soziale Medien (101). Denn wenn die US-amerikanische Öffentlichkeit nicht weiß, wie sie selbst konstituiert ist; wenn die jeweilige Gegenseite in manichäischer Art und Weise stets das Schlimmste von ‚den Anderen‘ annimmt, dann müssen soziale Plattformen an dieser Stelle ansetzen. Während Bails Forderung an moderate Nutzer*innen, lauter zu werden und sich zu äußern, richtig ist, müssen soziale Medien gleichermaßen Rahmenbedingungen schaffen, die das erleichtern. Fehlwahrnehmungen über falsche Polarisierung könnten beispielsweise durch regelmäßige, repräsentative Umfragen, die öffentlich publiziert und debattiert werden, eingehegt werden, um so einen Anreiz zu schaffen, damit sich auch Moderate auf den aktuellen Plattformen zu Wort melden. So würde das konstatierte ‚Prisma‘ vielleicht nicht zu einem Spiegel, aber doch zu einer Reflektion der Gesellschaft.

Trotz dieser kleineren Mankos – die Problematik lässt sich eben nicht auf 132 Seiten beschreiben und auflösen – zeichnet Bail ein kohärentes Bild aus eigener Forschung und bestehenden Untersuchungen, schreibt spannend und unterhaltsam und lädt die Leser*innen ein, das Prisma sozialer Medien zu brechen. Darüber hinaus ist aus spezifisch politiktheoretischer Perspektive die Verbindung soziologischer und sozialpsychologischer Forschung, sowohl qualitativer als auch quantitativer Art, positiv hervorzuheben. Aus dieser Interdisziplinarität heraus sollte sich auch die Politische Theorie der zentralen Frage nach der Anthropologie – die einen wesentlichen Teil der Argumentation Bails ausmacht – widmen und damit einer alten Forderung des britischen Sozialpsychologen und Politologen Graham Wallas Genüge tun: „The student of politics must, consciously or unconsciously, form a conception of human nature […].“[7] Wenn er es bewusst tut, so kann er etwas Gehaltvolles zu den Problemen unserer Zeit beitragen. So wie das Buch von Chris Bail.



Anmerkungen

[1] Bail, Chris (2022): Breaking the Social Media Prism. How to Make Our Platforms Less Polarizing, Princeton: Princeton University Press.
[2] Er bezieht sich unter anderem auf folgende Klassiker: Lazarsfeld, Paul, Berelson, Bernard & Hazel Gaudet (1948): The people’s choice. How the voter makes up his mind in a presidential campaign, New York: Columbia University Press. & Merton, Robert & Paul Lazarsfeld (1949): Studies in Radio and Film Propaganda, in: Robert Merton (Hrsg.), Social Theory and Social Structure, New York: Free Press, S. 553-570.
[3] Benkler, Yoachi, Faris, Robert & Hal Roberts (2018): Network propaganda. Manipulation, disinformation and radicalization in American politics, New York: Oxford University Press, S. 381 f.
[4] Eine gute Übersicht, die Bail selbst anführt, bietet: Brown, Donald (1991): Human Universals, New York: McGraw-Hill.
[5] Ergänzend sind beispielsweise folgende Studien zu nennen: Hart, P. Sol & Erik C. Nisbet (2012): Boomerang effects in science communication. How motivated reasoning and identity cues amplify opinion polarization about climate mitigation policies, in: Communication Research, Vol. 39, S. 701-723. & Kahan, Dan M., Peters, Ellen, Wittlin, Maggie, Slovic, Paul, Larrimore Ouellette, Lisa, Braman, Donald & Gergory Mandel (2012): The polarizing impact of science literacy and numeracy on perceived climate change risks, in: Nature Climate Change, Vol. 2, S. 732-735. & Nyhan, Brendan & Jason Reifler (2010): When corrections fail. The persistence of political misperceptions, in: Political Behaviour, Vol. 32, S. 303-330.
[6] Penney, Joel (2017): The Citizen Marketer. Promoting Political Opinion in the Social Media Age, New York: Oxford University Press.
[7] Wallas, Graham (1920): Human nature in politics, 3. Aufl., London: Constable and Company LTD, S. 15.
 
CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links


The Polarization Lab

Sozialwissenschaftler*innen, Statistiker*innen und Informatiker*innen der der Duke University untersuchen, wie die parteipolitische Kluft in Amerika überbrückt werden kann.

 

Externe Veröffentlichung

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