Michael Kurze: Rechtspopulistische Parteien. Ein neuer Typ der Parteienfamilie oder eine Ansammlung nationaler Einzelphänomene?
Anhand der Parteien Rassemblement National, Partij vor der Vrijheid, Freiheitliche Partei Österreichs und Alternative für Deutschland untersucht Michael Kurze in seiner Dissertation die Frage, ob eine rechtspopulistische Parteienfamilie existiert. Er kommt zu dem Schluss, dass es zwar „keine umfassende Übereinstimmung aller vier Parteien bei der Themensetzung“ gebe, dennoch lasse sich sinnvollerweise von einer Parteienfamilie sprechen. Rezensent Sven Leunig sieht in dem Buch auch einen wichtigen Schritt hin zur „Formulierung eines klar abgrenzbaren Konzepts rechtspopulistischer Parteien“.
Eine Rezension von Sven Leunig
Michael Kurze geht in seiner Dissertation einer spannenden und für die Forschung essenziellen Frage nach: Gibt es eine rechtspopulistische Parteienfamilie? Diese Frage scheint auf den ersten Blick obsolet, denn über die Existenz rechtspopulistischer Parteien scheint sich die scientific community ja einig zu sein – wenn man sich Vielzahl an Publikationen ansieht, die sich seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, mit Parteien dieser Prägung befasst. Allerdings wurde die Frage, welche Charakteristika eine Partei aufweisen muss, um als rechtspopulistisch zu gelten, nur selten gestellt.
Zwar gibt es abstrakte Definitionen von Populismus, ein klares Schema zur Identifikation einer populistischen Partei fehlt bislang allerdings. Denn populistische Strategien und Formulierungen, ja sogar ideologische Elemente des Populismus finden sich in unterschiedlichen Ausmaßen und Intensitäten in einer Vielzahl von Parteien. Die entscheidende Frage lautet also: Welches Maß oder welche Art von Inhalten macht eine Partei zu einer populistischen Partei, in Abgrenzung zu einer anderen Partei, bei der sich diese Elemente auch finden lassen? Vielfach wurde einfach „angenommen“, dass diese oder jene Partei rechtspopulistisch sei, ohne diese Einordnung anhand allgemeiner Parameter zu prüfen bzw. zu belegen. Der Grund dafür war, dass es an solchen Parametern schlicht fehlte. Diese Lücke kann die Arbeit von Kurze zur Existenz einer rechtspopulistischen Parteienfamilie zumindest zum Teil schließen.
Was macht eine Parteifamilie aus?
Parteifamilien lassen sich nach Mair und Mudde im Wesentlichen anhand von vier Parametern identifizieren: der Entstehung einer Partei, ihrem Namen, ihrer Ideologie und ihrer Anbindung an übernationale Organisationen (wie etwa die Europäischen Parteienverbünden) (Mair/Mudde 1998).
Kurze orientiert sich grundsätzlich an Mair und Mudde, wandelt deren Parameter aber etwas ab: Zwar untersucht auch er die Historie, die Programmatik und den Grad der Kooperation auf europäischer Ebene der von ihm in Form von Fallstudien analysierten Parteien. Er ergänzt diese Parameter aber um Fragen der Organisation und Strategien sowie der jeweiligen Parteiwählerschaft, weil er auf der Basis des Forschungsstandes davon ausgeht, dass sich gerade bei rechtspopulistischen Parteien signifikante Ähnlichkeiten in diesen Bereichen finden lassen, die diese als Angehörige einer „Familie“ kennzeichnen.
AfD, Rassemblement National, die Partij vor der Vrijheid und FPÖ
Als Untersuchungsgegenstände hat sich Kurze vier Parteien ausgewählt, die – gemeinhin – als rechtspopulistisch betrachtet werden: die AfD in Deutschland, den Front National (heute: Rassemblement National) in Frankreich, die Partij vor der Vrijheid in den Niederlanden sowie die Freiheitliche Partei Österreichs. „Wenn“, so der Verfasser, „unter diesem ‚harten Kern‘ der Rechtspopulist:innen keine gemeinsame Ideologie, Programmatik und Entwicklung zu erkennen ist, die zu einer Einordnung als rechtspopulistische Familie qualifiziert, wird sie auch an anderer Stelle nicht zu entdecken sein“ (21).
Vor seinem Vergleich stellt Kurze erst einmal die bisher in der Forschung vertretenen Positionen zum Populismus, seinen Charakteristika sowie seiner „rechten“ Ausprägung dar (Kapitel 3). Hier argumentiert er mit Mudde, dass es sich beim Populismus um eine „dünne Ideologie“ handele, die unter anderem mit rechten (nationalistischen, sozialchauvinistischen) ideologischen Versatzstücken kombiniert werden könne (91).
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Parteien
Im vierten Kapitel seiner Arbeit befasst er sich zunächst mit der historischen Entwicklung der vier Parteien. Hier lassen sich bereits nicht nur Gemeinsamkeiten, sondern auch Unterschiede erkennen, abhängig davon, ob – wie in Deutschland und in den Niederlanden – rechtsextreme Parteien größeren, oder – wie in Frankreich und Österreich – eher geringeren gesellschaftlichen Sanktionen ausgesetzt waren. Während sich die Rechtspopulisten in letzterem Fall aus extremeren Parteien entwickelt haben, geschah dies bei Ersteren aus eher liberaleren Strömungen heraus (142).
Auch die jeweiligen Entstehungskontexte waren in allen vier Ländern unterschiedlich – die vier Parteien seien aber jeweils dann erstarkt, „wenn es ihnen gelang, die Zuwanderungsfrage zu politisieren und mit einer Kritik an den herrschenden Eliten zu verknüpfen“ (143). Ebenso war es die „cleavage-Lücke“ der EU-Kritik, die diese Parteien zu schließen vermochten (147).
Hinsichtlich Organisation und der Strategien der Parteien vermutet die Forschung eine stark hierarchische und auf eine Führungsposition ausgerichtete Struktur, was sich für den FN, die FPÖ und die PVV auch bestätigen lässt, allein die AfD fällt hier etwas aus dem Rahmen. Allerdings sei diese Orientierung auf eine Führungsperson in der FPÖ weniger institutionalisiert als in den beiden anderen zunächst genannten Parteien (173 f.)
Die Wählerschaft wiederum sei sozial-strukturell betrachtet bei allen vier Parteien durchaus ähnlich: Die meisten Wähler*innen seien mittleren Alters und hätten Bildungsabschlüsse unterhalb der Hochschulreife. Interessant ist, dass Kurze klar erkennt, dass die These des Protestwahlverhaltens mehr und mehr hinter „persönlichen Überzeugungen“ zurücktrete (197 f.)
Rechtspopulist*innen im Programmvergleich
Der Hauptteil der Arbeit, das Kapitel 5 zum Vergleich der Programme, ist in drei größere Blöcke unterteilt. Im ersten Abschnitt vergleicht Kurze die Politikfeldinteressen der vier Parteien. Dabei wertet er aus, wie häufig bzw. wie intensiv bestimmte Politikfelder in den Programmen der Parteien auftauchen. Er kommt zu dem Schluss, „dass es keine umfassende Übereinstimmung aller vier Parteien bei der Themensetzung gibt“ (237). Allerdings gebe es gewisse Gemeinsamkeiten etwa bei der Demokratiepolitik, was sie, so seine Vermutung, von anderen Parteifamilien unterscheiden dürfte. Ebenso auffällig sei die Vernachlässigung von Umwelt- und Energiethemen, obgleich diese gesellschaftlich als zunehmend relevant wahrgenommen würden.
Im nächsten, sehr umfassenden Abschnitt betrachtet der Verfasser einzelne Politikfelder im inhaltlichen Querschnittsvergleich. Tatsächlich zeigten sich hier, so Kurze, viele inhaltliche Übereinstimmungen, was für die Zuordnung der Parteien zu einer Parteienfamilie spreche. Zugleich würden auch landestypische Charakteristika und Prägungen deutlich. So spräche sich der FN im Unterschied zu den anderen drei Parteien am wenigsten kritisch gegenüber dem Islam aus. Zwar verurteile auch er den radikalen Islamismus, nicht aber den Islam an sich. Das erklärt Kurze aus dem Umstand, dass der Anteil muslimischer Bürger*innen in Frankreich so groß sei, dass sich die Partei eine generelle Ablehnung des Islam „nicht leisten könne“ (294). Bemerkenswert sei ebenso, dass sich nur die AfD dezidiert für die zivile Nutzung der Atomenergie ausspräche. Dagegen wolle der FN sogar aus dieser mittelfristig aussteigen (297); angesichts der Bedeutung der Atomenergie für Frankreich und deren durchaus positiver Wahrnehmung in der Bevölkerung eine durchaus überraschende Erkenntnis.
Populismus als gemeinsame Ideologie?
Der letzte Abschnitt dieses Kapitels geht schließlich der Frage nach, ob der Populismus tatsächlich als gemeinsame Ideologie betrachtet werden kann. Dessen zentrales Element ist nach Mudde die Gegenüberstellung einer korrupten Elite mit einem ehrlichen Volk. Diese Darstellung findet sich tatsächlich in allen vier Programmen prägend wieder, wobei zugleich das Staatsvolk als Ingroup von einer Outgroup abgegrenzt wird. „Ausländer“ könnten zwar Mitglied des Staatsvolkes werden, aber nur unter fast vollständiger Aufgabe ihrer kulturellen Identität (354 f.). Diesem Volk stünden die egoistischen Eliten gegenüber, wobei etwa die „Vereinheitlichung und pauschale Verurteilung der sogenannten ‚Altparteien‘ und politischen Eliten […] bei allen vier Parteien sehr stark verankert“ sei (357). Zugleich betont Kurze aber auch, dass die feindliche Position gegenüber der EU zwar ebenso auffällig, aber nicht zwingend als Folge des Populismus zu betrachten sei (358).
Die Untersuchung schließt mit der Darstellung der Zusammenarbeit der analysierten Parteien auf europäischer Ebene ab. Etwas überraschend kommt der Verfasser aufgrund der Auswertung vornehmlich des Abstimmungsverhaltens der Mitglieder der beiden bisherigen populistischen Fraktionen im europäischen Parlament (ENF und ID) zu dem Schluss, dass es sich bei diesen eher um eine europäische Parteifamilie „wider Willen“ handele, da die Mitglieder dieser Fraktionen in vielen Fällen nicht gemeinsam abgestimmt hätten (387 f.).
Fazit: Die Existenz einer rechtspopulistischen Parteienfamilie
Trotzdem lasse sich in Summe, hier betont Kurze in seinem Fazit besonders die Ergebnisse seines Programmvergleichs, klar von der Existenz einer rechtspopulistischen Parteienfamilie sprechen (393). Zu Recht sieht er seine Arbeit als Anknüpfungspunkt für künftige Forschungsarbeiten, in denen weitere Parteien anhand der hier gefundenen inhaltlichen Gemeinsamkeiten von Rechtspopulisten daraufhin überprüft werden können, ob es sich bei ihnen ebenfalls um Rechtspopulisten handelt.
Dem ist allerdings etwas hinzuzufügen: Wie der Autor selbst an mehreren Stellen schreibt, zeichnet sich eine Parteienfamilie dadurch aus, dass ihre Mitglieder untereinander mehr teilen, als sie mit anderen Familien verbindet (22, 396). Kurze hat nun die Gemeinsamkeiten (und Unterschiede) der vier Parteien überzeugend herausgearbeitet. Der nächste Schritt, der von der Forschung nun unternommen werden müsste, wäre zu prüfen, inwieweit diese Positionen (oder zumindest wesentliche Teile von ihnen) nicht auch von anderen Parteien geteilt werden.
Als ein rechtspopulistische Parteien charakterisierendes Merkmal kann eine bestimmte politische Aussage oder eine Struktur ja nur gelten, wenn diese nicht zugleich auch bei anderen Parteien (eines Parteiensystems bzw. einer Parteienfamilie) vorgefunden werden kann. Dies ist natürlich nicht auszuschließen – man denke etwa an Forderungen, den Zuzug von Migrant*innen einzudämmen, die mittlerweile von vielen anderen Parteien vertreten werden. Insofern müsste über den Intersystemvergleich hinaus ein Konzept entwickelt werden, bei dem die Einstufung einer Partei als rechtspopulistisch etwa aufgrund der Häufigkeit oder Intensität, mit der eine bestimmte, von mehreren anderen Parteien ebenso vertretene, Position in ihrem Programm erscheint, vorgenommen wird. Der hier vorgenommene Intersystemvergleich ist aber ein sehr wichtiger erster Schritt zur Formulierung eines klar abgrenzbaren Konzepts rechtspopulistischer Parteien.
Literatur
Mair, Peter/Mudde, Cas (1998): The Party Family its Study, in: Annual Review of Political Science 1998/1, S. 211-229.
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