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Interview / 25.10.2024

Von Ochsentouren, Hinterzimmern und der Parteiendemokratie: Interview zur Aufstellung der Kandidaten für den Deutschen Bundestag

Baden-Baden, Nomos Verlag 2024

Die parlamentarische Demokratie braucht funktionierende Parlamente und funktionierende Parlamente brauchen fähige Parlamentarier*innen. Insofern kommt der Auswahl der Kandidat*innen für Parlamentsmandate eine entscheidende Bedeutung zu. Ein neues Buch untersucht nun aus der Perspektive der Parlamentarismusforschung, wer wen wie und warum für eine Kandidatur zum Bundestag nominiert. David Kirchner hat mit zwei der Autor*innen, Suzanne S. Schüttemeyer, Gründungsdirektorin des Instituts für Parlamentarismusforschung (IParl) sowie Chefredakteurin der Zeitschrift für Parlamentsfragen und Danny Schindler, Direktor des IParl, über die Befunde des Buchs gesprochen.

Sie haben gemeinsam mit neun Ko-Autor*innen ein Buch veröffentlicht, in dem Sie die Aufstellung der Kandidat*innen für den Deutschen Bundestag aus unterschiedlichen Blickwinkeln detailliert untersuchen. Der Untertitel des Buchs lautet: „Empirische Befunde zur personellen Qualität der parlamentarischen Demokratie“. Welche Rolle spielt denn die Auswahl von Parlamentskandidat*innen für das Funktionieren parlamentarischer Demokratien?

Suzanne S. Schüttemeyer: Die Auswahl von Parlamentskandidaten ist das A und O, denn man muss sich vor Augen führen, dass die Entscheidungen, die uns alle betreffen, in den Parlamenten gefällt werden und es sind die Abgeordneten, die dies zu leisten haben. Hinzu kommt, dass in parlamentarischen Regierungssystemen auch die Regierung aus dem Parlament hervorgeht: Nicht nur ist die Bundesregierung strukturtypisch vom Vertrauen der Mehrheit des Bundestags abhängig, auch personell stammen in Deutschland die Kanzler und Minister in aller Regel aus dem Parlament, genauer aus der Parlamentsmehrheit. Insofern kommt der Frage, wie die Kandidaten für den Bundestag ausgewählt werden, eine entscheidende Rolle zu. Bei dieser Auswahl sind es wiederum die Parteien, die in Deutschland, aber auch anderen parlamentarischen Demokratien, die entscheidende Rolle spielen. Sie sind es, die das faktische Privileg haben, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu rekrutieren.

Um es zusammenzufassen: Die Qualität unserer Demokratie steht und fällt letztendlich mit der Qualität des politischen Personals in unseren Parlamenten. Und diese Personen werden in den Verfahren der Kandidatenaufstellung innerhalb der Parteien ausgesucht. Damit tragen die Parteien eine außerordentliche Verantwortung für den Bestand der parlamentarischen Demokratie. Denn, ob die der Wählerschaft präsentierten Personen die nötigen Qualitäten aufweisen, derer es bedarf, hängt von der „Eignungsprüfung“ innerhalb der Parteien ab.

Wie sieht das Verfahren der Kandidatenaufstellung denn eigentlich aus? Also was passiert, bis eine Person als Bundeskandidat*in ihrer Partei aufgestellt wird?

Danny Schindler: Wie Susanne Schüttemeyer schon richtig festgestellt hatte, sind es die Parteien, die die Kandidaten auswählen. Formal werden die Kandidaten in einem wahlrechtlich vorgeschrieben Aufstellungsverfahren nominiert, das vorsieht, dass eine Mitgliederversammlung oder eine Delegiertenversammlung eine Person per Wahl offiziell zum Kandidaten kürt. Am Ende stehen diese Kandidaten dann entweder im Wahlkreis und oder auf den Landeslisten der Parteien zur Wahl und bilden das Personaltableau, aus dem die Wähler die Endauswahl treffen. Mir ist jedoch wichtig, zu betonen, dass eine offizielle Nominierung nur der finale Akt ist, dem lange Ausleseverfahren vorausgehen, in denen jene Personen, die für eine Kandidatur infrage kommen, auf Herz und Nieren geprüft werden: Sei es, dass man in der örtlichen Parteiorganisation mitgearbeitet hat; sei es, dass man politische Leitungsämter übernommen hat, um auch die eigene politische Führungsfähigkeit unter Beweis zu stellen oder sei es, dass man auch sonst innerparteilich gezeigt hat, dass man in der Lage ist, Mehrheiten zu organisieren. In den Parteien werden Kandidaten also nicht nur ganz praktisch auf ihre Eignung als Politiker geprüft, sondern Parteien sind auch die zentralen Lernorte für die parlamentarische Demokratie.

In der Politikwissenschaft scheint die Frage, wer wen wie und warum für eine Kandidatur im Wahlkreis und auf einer Landesliste auswählt, lange stiefmütterlich behandelt worden zu sein. Sie schreiben, dass es angesichts der Bedeutung des Rekrutierungsprozesses für das Gelingen von Repräsentation „umso erstaunlicher“ sei, dass es seit über 50 Jahren keine umfassende Untersuchung der Kandidatenaufstellung zum Deutschen Bundestag gegeben habe. Wie erklären Sie sich, dass sich die politikwissenschaftliche Forschung relativ wenig mit der Kandidatenaufstellung beschäftigt hat?

Schüttemeyer: Das ist tatsächlich so, seit Bodo Zeuners 1970 erschienener Pionierstudie hat es keine umfassende, ganz Deutschland abdeckende Untersuchung der Kandidatenaufstellung zum Deutschen Bundestag gegeben. Zwar gibt es Literatur aus der Rekrutierungsforschung, die sich mehr oder minder direkt mit der Aufstellung der Parlamentsbewerber befasst und aufschlussreiche Untersuchungen hervorgebracht hat, aber eben nur über Teilaspekte des Verfahrens und seiner Ergebnisse.

Schindler: Ein Erklärungsfaktor für diese relative Vernachlässigung in der Wissenschaft ist wahrscheinlich, dass es überaus aufwendig ist, das Aufstellungsverfahren zu untersuchen. In der Wahlforschung gibt es beispielsweise die bekannten Bevölkerungsumfragen zu Einstellungen- und Wahlverhalten. Bei der Kandidatenaufstellung mussten wir aber in die Parteien hineinschauen und haben die Akteure vor Ort teilweise über vier Wochenenden hintereinander begleitet. Denn um den Aufstellungsprozess umfassend zu verstehen, reicht es nicht aus, in die Satzungen und das Gesetz zu gucken, sondern man muss sich auch die informellen Prozesse anschauen, die über einen längeren Zeitraum vor Ort stattfinden. Das macht den Prozess der Datenerhebung aufwendig, was aber nicht dazu führen sollte, dass man die Kandidatenaufstellung einfach ausblendet, denn dafür ist sie für die repräsentative Demokratie insgesamt einfach zu wichtig.

Schüttemeyer: Ich glaube, es gab noch einen tieferen Grund, warum die Kandidatenaufstellung kaum untersucht wurde. Aus meiner Sicht gibt es in der Politischen Kultur Deutschlands noch immer einen deutlichen Anti-Parteien-Affekt, der sich auf die politikwissenschaftliche Forschung auswirkt. Parteien interessierten Politikwissenschaftler daher primär im Kontext von Wählern und Wählerverhalten. Es ist aber wichtig, Parteien in der Forschung als eigenständige politische Akteure ernst zu nehmen, was bedeutet, die zahlreichen und zeitintensiven Prozesse, die innerhalb von Parteien stattfinden, in den Blick zu nehmen.

Was war die Datenbasis Ihrer Untersuchung? Können Sie uns einen Einblick in die Datenerhebung geben?

Schüttemeyer: Wir haben uns den Datensatz, um die Nominierung der Kandidaten für die Bundestagswahl 2017 untersuchen zu können, selbst geschaffen. Dazu haben wir 166 Aufstellungsversammlungen besucht, 123 Versammlungen wissenschaftlich beobachtet, 425 Leitfadeninterviews bzw. Hintergrundgespräche geführt, 19.785 Mitglieder von CDU, SPD, CSU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und AfD befragt sowie Parteisatzungen und Medienberichte ausgewertet. Sie sehen, allein der Aufwand der Datenerhebung ist erheblich, aber notwendig, um die Prozesse der Kandidatennominierung besser zu verstehen.

Bei der Lektüre Ihres Buchs hat mich ein Zahlenverhältnis besonders überrascht: Seit 1990 hat sich die Zahl der Parteimitglieder halbiert, heute haben nur noch etwa 1,1 Millionen Menschen ein Parteibuch. Aus Untersuchungen ist bekannt, dass geschätzt aber nur etwa jedes vierte Mitglied auch in der Partei aktiv ist, sodass sich die Zahl der aktiven Parteimitglieder auf etwa 290.000 reduziert. Nun müssen aus diesen Reihen die Mandatsträger*innen vom Gemeinderat über Land- und Bundestag bis zum Europäischen Parlament rekrutiert werden. Insgesamt macht das etwa 235.000 Personen. Platt gefragt: Drohen den Parteien die Kandidat*innen in Zukunft auszugehen?

Schüttemeyer: Auch wenn es wichtig ist, zu betonen, dass es sich bei diesen Zahlen, um bundesweite Durchschnittswerte handelt, die je nach Partei und Region variieren, sind sie an Dramatik nicht zu überbieten. Gerade in den ostdeutschen Bundesländern haben wir auf kommunaler Ebene schon die Situation erlebt, dass schlicht und ergreifend zu wenig Menschen überhaupt bereit waren, für die Gemeindevertretungen und Stadträte zu kandidieren. Das ist für die Demokratie vor Ort ein sehr großes Problem.

Um die Konsequenzen des Rückgangs der Parteimitglieder für die Kandidatur von Ämtern abzuschätzen, müssen wir aber auch etwas von den reinen Zahlen wegkommen, denn die Quantität sagt ja noch nichts über die Qualität der Kandidierenden aus. Eine Frage, die sich im Anschluss an die Befunde unseres Buchs stellt, ist beispielsweise, ob sich die Motivationsstruktur der Parteimitglieder verändert hat. Denn es wäre ja denkbar, dass die Menschen, die heute in Parteien eintreten, viel stärker als früher von Anfang an eine politische Karriere anstreben und daher eher bereit sind, für Ämter zu kandidieren. Wenn dies der Fall ist, wäre es rein zahlenmäßig weniger dramatisch, wenn der Pool, aus dem die Kandidaten rekrutiert werden, schrumpft. Dies müsste unbedingt genauer untersucht werden. 

Schindler: Ich würde hier noch gerne einige empirische Erkenntnisse aus einem anderen Forschungsprojekt des IParl einbringen, das den Namen CandiData trägt. Dessen Daten zeigen erfreulicherweise eine große Erneuerung und Vitalität der Parteien bei der Kandidatenaufstellung: Im Durchschnitt sind jeweils 60 Prozent der Kandidaten auf länder-, bundes- und europäischer Ebene Neulinge, treten also zum ersten Mal in ihrem Leben zu einer Parlamentswahl an. Es sind also nicht immer nur dieselben „alten Gesichter“, die ihren Hut in den Ring werfen. Das ist definitiv kein Zeichen für einen Niedergang der Parteien und der Parteiendemokratie. Auch angesichts der Zunahme verbaler Entgleisungen und sogar gewalttätiger Übergriffe auf Abgeordnete ist es grundsätzlich ein positives Zeichen, dass die Parteien fähig sind, so viele neue Personen zu rekrutieren, die bereit sind, sich für den anspruchsvollen Job des Politikers zu bewerben und sich für das Gemeinwohl zu engagieren. 

Ein häufiger Vorwurf lautet, dass die Parlamente nicht die Breite der Bevölkerung abbildeten, da Frauen, Arbeiter*innen, Nicht-Akademiker*innen, Migrant*innen & jüngere Menschen in ihnen unterrepräsentiert seien. Beispielsweise haben 85 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestags einen Hochschulabschluss, in der Gesamtbevölkerung sind es unter 30 Prozent. Eine denkbare Erklärung wäre, dass Träger*innen bestimmter sozio-demografischer oder sozio-ökonomischer Merkmale im Prozess der Kandidatenaufstellung strukturell benachteiligt werden. Konnten Sie Hinweise auf eine solche strukturelle Benachteiligung finden?

Schüttemeyer: Zunächst würde ich mir die Begrifflichkeit in Ihrer Frage nicht zu eigen machen, da ich nicht von „Unterrepräsentation“ sprechen möchte. Repräsentation im politikwissenschaftlichen demokratietheoretischen Kontext bedeutet, dass Interessen vertreten und ausgeglichen werden und ist nicht das gleiche wie spiegelbildliche Abbildung aller gesellschaftlicher Gruppen. Natürlich ist es hilfreich, wenn unterschiedliche Teile der Gesellschaft im Parlament vertreten sind, aber das ist keine Voraussetzung dafür, dass demokratische Repräsentation funktioniert.

Schindler: Im Buch wurde auch der Einfluss sozio-demografischer Merkmale im Prozess der Kandidatenaufstellung untersucht und das Ergebnis zeigt ein differenziertes Bild. Wer einem Beruf nachgeht oder sogar im politischen Bereich arbeitet, hat bessere Chancen aufgestellt zu werden. Für Akademiker (im Vergleich zu Personen ohne Hochschulabschluss) lässt sich allenfalls ein schwacher Vorteil erkennen. Frauen hingegen schneiden sogar besser ab als Männer, da sie öfter und auf aussichtsreicheren Plätzen aufgestellt werden. Die teilweise beklagte Minderrepräsentanz bestimmter Gruppen rührt vor allem daher, dass Arbeiter, Personen ohne Hochschulabschluss und Frauen seltener Parteimitglieder werden und sich daher auch seltener um eine Kandidatur bemühen. Hinweise auf strukturelle Benachteiligung dieser Gruppen bei der Kandidatenaufstellung konnten wir hingegen nicht finden. Der Schlüsselfaktor für eine erfolgreiche Kandidatur ist daher weniger die Soziodemografie, sondern die Bewährung innerhalb der Partei: Wer Zeit in die Parteiarbeit investiert und Funktionen übernimmt, kann die eigenen Chancen auf eine aussichtsreiche Bewerbung deutlich verbessern. Öffentlich wird dieser Prozess der langjährigen und mühevollen Parteiarbeit manchmal etwas despektierlich als „Ochsentour“ bezeichnet, dabei ist er für die innerparteiliche Demokratie und Bestenauslese absolut entscheidend. 

Kommen wir zur anderen Seite der Kandidatenaufstellung: den Auswählenden. Dazu, wer „in Wirklichkeit“ über die Nominierung von Parlamentskandidat*innen entscheidet, gibt es etliche Pejorative: „Kungeleien“ und „Klüngel“ in den berühmten „Hinterzimmern“, übermächtige Fraktionschefs in Berlin, die Abgeordnete, die nicht „auf Linie“ sind, abstrafen. Diese Etikettierungen wollten Sie auf den Prüfstand stellen. Was kam dabei heraus?

Schindler: Kurz gesagt: Die meisten stimmen schlicht nicht. Wir haben uns das insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten der Fraktionsführung in Berlin angeschaut, Einfluss auf die Kandidatenaufstellung in den Landesverbänden und Ortsparteien zu nehmen. Dabei hat sich klar gezeigt, dass beispielsweise die Listenaufstellung strukturell und kulturell eine Domäne der Landespartei ist. In deren politischen Führungsgruppen machen Mitglieder der Berliner Fraktionsführung allenfalls einen kleinen Teil aus – und selbst dann müssen sie den Anschein einer Einflussnahme in dieser Rolle tunlichst vermeiden. Tun sie das nicht, kann das sogar den gegenteiligen Effekt haben, dass der Landesverband eben gerade den Kandidaten, den die Fraktionsführung verhindern möchte, erst recht aufstellt. Das Vorurteil der aus Berlin gesteuerten Kandidatenauswahl geht einfach an der Realität vorbei.

Schüttemeyer: Überhaupt ist es erstaunlich, wie wenig Verständnis dafür da ist, dass solche Prozesse nicht von A bis Z vor den Augen der Öffentlichkeit ablaufen können. Natürlich gehen der Entscheidung, wer als Kandidat für den Bundestag aufgestellt wird, zahlreiche informelle Gespräche voraus, die nicht öffentlich stattfinden. Das ist vollkommen nachvollziehbar, doch sobald irgendwo auch nur der Anschein eines Geheimnisses erweckt wird, ist das in der öffentlichen Wahrnehmung sofort ein skandalöser Vorgang. Das Misstrauen gegenüber den Auswahlverfahren der Kandidaten ist in Deutschland besonders unangebracht, denn hier ist die innerparteiliche Demokratie sowohl im Grundgesetz als auch im Parteienrecht ganz klar festgeschrieben. Dies ist im internationalen Vergleich durchaus ungewöhnlich, denken Sie nur an Geert Wilders in den Niederlanden oder die britischen Parteien, in denen den nationalen Parteiführungen große Macht bei der Kandidatenaufstellung zusteht. So etwas wäre in Deutschland schlicht nicht möglich.

Schindler: Hinzu kommt, dass das, was oftmals als Kungelei bezeichnet wird, in der Regel ja auch eine demokratische Führungsleistung im Sinne einer Vorstrukturierung des Entscheidungsprozesses darstellt. Würden bei der Listenaufstellung vor Ort alle möglichen Kandidaten auftauchen und würde dann ohne einen Personalvorschlag der Führung bunt durcheinandergestimmt, dann wäre eben nicht sichergestellt, dass jede Region in einem Bundesland repräsentiert oder die Geschlechterparität gewahrt ist. Es sind also Repräsentationsleistungen, die im Vorprozess stattfinden, die ihre demokratische Berechtigung haben.

Immer wieder werden sowohl in der Politikwissenschaft als auch in der Öffentlichkeit eine Krise der (Volks-)Parteien, ihrer Repräsentationsleistung und ihrer Verankerung in der Bevölkerung diagnostiziert. Was kann man auf Basis der Erkenntnisse Ihres Buchs zur Plausibilität dieser Kritiken sagen?

Schüttemeyer: Ich halte prinzipiell sehr wenig von dem inflationären Gebrauch des Wortes Krise. Man muss sehr genau hinschauen, wo es tatsächlich Entwicklungen gibt, die dringend der Veränderung oder der Umsteuerung bedürfen, bevor man großflächig den Krisenzustand ausruft. Was tatsächlich sehr problematisch ist, ist das schon angesprochene Defizit, dass wir dringend mehr Menschen in den Parteien brauchen, weil das eben der wichtigste Lernort für Parlamentarismus und demokratisches Entscheiden ist. Aber deswegen möchte ich nicht gleich die Krise der Parteiendemokratie ausrufen, denn insgesamt zeigen die Befunde des Buchs, dass die innerparteiliche Demokratie und die Auswahl von Kandidaten für öffentliche Ämter in den Parteien gut funktioniert. 

Schindler: Ich würde auch sagen, dass Krisenphänomene wie fehlendes Vertrauen und Politikverdrossenheit im Kern nicht in den Parteien und schon gar nicht in den Kandidatenaufstellungsverfahren der Parteien wurzeln, sondern weitaus stärker in verbreiteten Fehlvorstellungen begründet liegen. Dies zeigt sich auch an vielen Reformvorschlägen, die vielleicht auf den ersten Blick gut klingen, aber der Funktionslogik der parlamentarischen Demokratie zuwiderlaufen oder nur mit erheblichen Kosten kompatibel gemacht werden können. So ertönt schnell der Ruf nach Volksentscheiden, wenn es darum geht, Politikverdrossenheit entgegenzuwirken, aber man muss aus meiner Sicht sehr aufpassen, dass man aus einer berechtigten Sorge heraus nicht zu Mitteln greift, die den politischen Prozess weiter erschweren und zu einer Delegitimierung der repräsentativen Demokratie beitragen. Um ein Beispiel mit Blick auf die Aufstellungsverfahren zu nennen: Ob die Parteien sich einen Gefallen täten, wenn sie die Kandidatenauswahl für Nichtmitglieder öffneten, ist sehr fraglich – allein schon, weil dies ein Stück weit die Parteimitgliedschaft entwerten würde.


Die Fragen stellte David Kirchner.


DOI: 10.36206/IV24.1
CC-BY-NC-SA
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