Fraktionsgeschäftsordnungen. Ein unbestelltes Feld der Politikwissenschaft
Danny Schindler und Oliver Kannenberg (beide IParl), widmen sich den Geschäftsordnungen von Parlamentsfraktionen. Da diese „Fraktionsverfassungen“ aus politikwissenschaftlicher Perspektive bisher wenig beleuchtet wurden, nimmt sich das IPARL dieser Forschungslücke in dem Projekt „Standing Orders of Parties in Parliament (SOPiP)” an. Aufgezeigt werden die Entwicklung und Bedeutung der Fraktionsstatuten in Deutschland, in anderen Ländern sowie unterschiedlichen Systemen. Zudem stellen die Autoren erste Befunde vor.
1. Fraktionsstatuten: selten sichtbare Relevanz
Die Geschäftsordnungen von Parlamentsfraktionen geraten nur ausnahmsweise in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Geschieht dies doch, offenbart sich zugleich ihre Bedeutung. Ein Beispiel bietet die AfD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag: Nachdem sich 2016 die Fraktion ABW (Alternative für Baden-Württemberg) im Streit um den satzungsrechtlich nicht zustande gekommenen Ausschluss des Abgeordneten Wolfgang Gedeon abgespalten hatte, gelang die parlamentarische Wiedervereinigung erst nach einem Mediationsprozess, an dessen Ende auch eine neue Fraktionssatzung mit einer veränderten Führungsstruktur stand.1 Unlängst rückte auch bei der AfD-Fraktion in Brandenburg die eigene Geschäftsordnung in den Mittelpunkt. Deren Vorsitzender Andreas Kalbitz wurde im Mai 2020 wegen Falschangaben in der Aufnahmeerklärung in erster Instanz aus der Partei ausgeschlossen. Damit hätte er zunächst weder Mitglied, geschweige denn Vorsitzender der brandenburgischen AfD-Fraktion sein können. Auf der umgehend einberufenen Sondersitzung wurde daraufhin die Änderung der Satzung hinsichtlich der Mitgliedsregeln beschlossen. Die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wurde deutlich übererfüllt: Bei einer Enthaltung sprachen sich 18 Mitglieder für und lediglich zwei gegen Kalbitz aus.2
Auch jenseits solch öffentlichkeitswirksamer Fälle sind die Fraktionsstatuten funktional und demokratietheoretisch von Relevanz, fragt man nach der Arbeitsweise und Entscheidungsfindung der Fraktionen und damit auch des Parlaments insgesamt. Geschäftsordnungen, die sich die Fraktionen des Deutschen Bundestags gemäß § 48 II Abgeordnetengesetz geben, legen die Prinzipien, Organe und Prozeduren interner Willensbildung nieder, verteilen damit Einflusschancen und haben nicht zuletzt eine symbolische Bedeutung, wenn sie das Selbstverständnis einer Fraktion zum Ausdruck bringen. Ähnlich wie dies für die Satzungen von Parteien festgestellt wurde, gewähren auch jene der Fraktionen einen Einblick in die „conceptions of organizational power, authority and legitimacy“ (Katz/Mair 1992: 7). Im rechtswissenschaftlichen Urteil stellen sie zudem „verbindliche Binnenrechtsregelungen“ (Jekewitz 1989: 1048; ähnlich Kürschner 1995: 76) dar. Insgesamt handelt es sich bei den Fraktionssatzungen also um formalisierte, insofern sichtbare und durch alle (oder jedenfalls die Mehrheit der) Mitglieder legitimierte sowie sanktionsbewehrte Regelsysteme, die den binnenorganisatorischen Handlungsraum strukturieren und letztlich auch beschränken.3 Ihren Stellenwert unterstreichend sprechen Saalfeld und Strøm von „the legislative party's constitutional documents“ (dies. 2014: 375).
Im Gegensatz zur juristischen Literatur (vgl. etwa Schönberger 1990; Kürschner 1995; Papsch 2007; Bäcker 2011; Bäcker 2012) sind die Fraktionsstatuten allerdings ein politikwissenschaftlich kaum beleuchtetes Untersuchungsfeld. Nur in wenigen Studien (Schüttemeyer 1998: 35ff.; Schindler 2019: 133ff.; Leunig 2019) spielen sie überhaupt eine Rolle.4 Auch außerhalb der deutschsprachigen Parlamentarismusforschung sucht man lange und meist vergeblich nach Analysen, die auf die Geschäftsordnungen von Abgeordnetengruppierungen eingehen (eine Ausnahme stellt Green 2002 dar). Dies ist umso überraschender, als den Geschäftsordnungen von Parlamenten mittlerweile breite Aufmerksamkeit gewidmet wird (vgl. u. a. Sieberer et al. 2014; Sieberer 2016; Brack/Costa 2018; Goet et al. 2019).
Mit einem soliden empirischen Verständnis zum Inhalt sowie der Entwicklung und Regelungskraft von Fraktionsgeschäftsordnungen kann die Politikwissenschaft gegenwärtig also nicht aufwarten. Dieser Forschungslücke nimmt sich das neu eingerichtete Projekt „Standing Orders of Parties in Parliament“ (SOPiP) an, das am Institut für Parlamentarismusforschung durchgeführt und im Folgenden in seinen Grundzügen beschrieben wird.5 Zudem werden erste empirische Befunde präsentiert, die die Variationsbreite geschäftsordnungsrechtlicher Regeln verdeutlichen.
2. Grundzüge eines Forschungsprogramms
Das SOPiP-Projekt nimmt eine vergleichende Perspektive in zweifacher Hinsicht ein: Erstens wird die Entwicklung und Bedeutung der Fraktionsstatuten für Deutschland im Längsschnitt untersucht. Ausgangspunkt ist dabei, dass bereits in der Frankfurter Nationalversammlung entsprechende Dokumente zur Regelung gruppeninterner Willensbildung vorhanden waren. Im Zeitverlauf lassen sich aber auch Brüche hinsichtlich der Existenz innerfraktioneller Geschäftsordnungen nachzeichnen. So verzichteten einige Fraktionen im Reichstag des Deutschen Kaiserreiches, darunter auch die SPD, nach gegenwärtigem Kenntnisstand auf ein schriftliches Ordnungsstatut (Matthias/Pikart 1966: CX). Zweitens werden die Fraktionsstatuten international vergleichend analysiert. In den im Aufbau befindlichen Datensatz sollen alle verfügbaren Geschäftsordnungen eingehen. Beabsichtigt ist insofern, ein möglichst breites Sample zusammenzustellen, das unter anderem unterschiedliche Regierungssystemtypen (präsidentiell, parlamentarisch, semi-präsidentiell), Systemebenen (Nationalstaaten, supra- und subnationale Ebene) und Regimetypen (Demokratien, hybride und autokratische Systeme in verschiedenen Abstufungen) umfasst.
Das Projekt verfolgt sowohl deskriptive als auch erklärende Ziele. In einem ersten Themenbereich („Umfang und Inhalt“) steht im Fokus, welche Bereiche überhaupt geregelt werden und welchen Detailgrad die Regelungen aufweisen. Weiterführend wird gefragt, womit sich mögliche Unterschiede erklären lassen (Geschäftsordnungen als abhängige Variable). Welche Rolle spielen beispielsweise die Systemvariablen Regierungssystem, Stärke des Parlaments (vgl. etwa Sebaldt 2009) oder mögliche Rechtskulturen (vgl. Pogunkte 1994), welche die sowohl innerhalb eines Systems als auch systemübergreifend variierenden Merkmale Parteifamilie und Fraktionsgröße? Auch das Wechselverhältnis von Fraktion und (außerparlamentarischer) Parteiorganisation ist in diesem Zusammenhang von Relevanz (vgl. Helms 2000; Pedersen 2010). Nicht zuletzt können fraktionsbezogene Regeln Teil der Parteisatzung sein, wie dies etwa in Estland oder der Türkei der Fall ist.
Eine zweite Kernfrage zielt auf „Herkunft und Wandel“ der Fraktionsstatuten. Sind diese von Kontinuität geprägt oder lassen sich deutliche, durch Wandel erzeugte „Altersschichten“ (Zeh 1986) innerhalb eines Systems (zum Beispiel in den Bundestagsfraktionen von 1949-2019) feststellen? Vermutet werden kann auch, dass der für Parlamentsgeschäftsordnungen (Sieberer et al. 2014: 254) oder Koalitionsverhandlungen (Gassert 2017: 25) festgestellte Formalisierungstrend ähnlich für Fraktionssatzungen gilt. Auch wird danach gefragt, welche „Vorläufer“ in außerparlamentarischen Gruppierungen (z. B. dem Vereinswesen) existieren.
Über die Dokumentenanalyse hinausgehend wird drittens die „Regelungskraft“ der Satzungen beleuchtet (Fraktionsgeschäftsordnungen als unabhängige Variable). Wie gut beschreiben sie die Realität der Fraktionswillensbildung und wo sind ihre Regeln vom tatsächlichen Organisationshandeln entkoppelt (vgl. etwa Meyer/Rowan 1977)? In welchem Verhältnis (komplementär, konkurrierend, substituierend etc.) stehen satzungsrechtliche und informelle Regeln (vgl. etwa Helmke/Levitsky 2004)? Um ihre Bedeutung nicht nur anhand von öffentlichkeitswirksamen oder anekdotischen historischen Beispielen nachzuzeichnen, sind methodisch vor allem Abgeordnetenbefragungen angeraten. Im Rahmen von Leitfadeninterviews oder standardisierten Erhebungen mit größerer Fallzahl ließe sich auch eruieren, wo aus Sicht der Betroffenen Verbesserungs- bzw. Formalisierungsbedarf besteht oder wie detailliert die Abgeordneten überhaupt die Geschäftsordnung kennen.
3. Veränderungen im Zeitverlauf und Variationen im Regelungsinhalt: Erste Befunde
Im Folgenden präsentieren wir erste Befunde aus dem fortlaufend aktualisierten Datensatz.6 Den Anfangspunkt markieren die Geschäftsordnungen der Fraktionen aus der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Trotz oder gerade wegen der mitunter turbulenten Ereignisse in und um die Paulskirche (Ribhegge 1998) haben sich nahezu alle dort versammelten Gruppen (nach dem Versammlungsort benannt) eigene Satzungen gegeben. Diese variieren hinsichtlich der Regelungsbreite, hier zu verstehen als Anzahl verschiedener Bereiche, in denen das Zusammenwirken als Abgeordnetengruppe beschrieben wird. Abbildung 1 verdeutlicht, dass Abstufungen zwischen den Fraktionen existieren, bei der Mehrzahl der Gruppierungen aber bereits elementare Interaktionsnormen festgeschrieben wurden. Dazu zählen etwa Beitritts- und Ausschlussregeln, das Abstimmungsverhalten in der Versammlung sowie die Wahl und Amtsdauer von Führungsgruppen. All diese Regelungsbereiche lassen sich bei sieben von acht Fraktionen, deren Ordnung überliefert ist, identifizieren.7
Die Ausnahme stellt die „Partey des Augsburger Hofes“ dar, die in ihren Statuen vor allem programmatische Standpunkte erläutert (Kramer 1968: 279). Am umfassendsten formalisiert wurde das Zusammenwirken der Mitglieder der „Partey der Linken“ (Deutscher Hof). Neben einem umfangreichen Berichtswesen beinhaltet die Satzung detaillierte Regeln zum interfraktionellen Verhalten, die sich ansonsten bei keiner anderen Parlamentariergruppe finden lassen. Nicht abgebildet ist die Urlaubsanzeige, die in drei Fraktionen kodifiziert wurde. Wollte beispielsweise ein Abgeordneter der „Partey im Casino“ die Stadt Frankfurt verlassen, war er verpflichtet, „vorher dem Vorstande mündlich Anzeige zu machen.“ (§ 9)
Die Abgeordnetengruppierungen und ihre Satzungen in Frankfurt waren Vorläufer, die unter hohem zeitlichen und politischen Druck zustande gekommen sind. Dafür ist der bisweilen hohe Umfang und Detailgrad der Geschäftsordnungen verglichen mit Varianten der jüngeren Vergangenheit bemerkenswert. Die FDP im Deutschen Bundestag startete 1949 mit einer 441 Wörter umfassenden Geschäftsordnung, die damit weniger als die Hälfte des Umfangs der Satzung des Deutschen Hofes (ca. 900 Wörter, allein ohne die programmatischen Grundsätze in § 1) besaß. Die Anzahl der Wörter gibt gewiss keinen direkten Aufschluss darüber, wie viele Regelungen darin enthalten sind und wie detailliert diese das Handeln der Fraktionsgemeinschaft beschreiben. Dennoch ist von einem Zusammenhang zwischen Regelungs- und Textumfang auszugehen, da weder den Abgeordneten in Summe noch der mit besonderen Kompetenzen ausgestatteten Fraktionsführung ein Interesse an zusätzlichen Formulierungen ohne konkreten Regelungsinhalt zugesprochen werden kann. Insofern kann auch der Satzungsumfang einen Hinweis auf den eingangs vermuteten Formalisierungstrend geben.
Während die FDP-Bundestagsfraktion sich bereits in der 1.Wahlperiode eine Geschäftsordnung gab, geschah dies bei ihrem sozialdemokratischen Pendant erst im Jahr 19548. Im Zeitverlauf ist für beide Fraktionen ein deutlicher Trend hin zu umfangreicheren Spielregeln zu erkennen: Die Satzungslänge bei den Freien Demokraten hat sich seit Bestehen der Bundesrepublik auf nunmehr 3182 Wörter (2018) versiebenfacht (siehe Abbildung 2). Bei der SPD ist immerhin noch eine Verdreifachung vorhanden, nicht zuletzt aufgrund einiger Anpassungen an die innerfraktionelle Realität im Jahr 2019.
Mit Blick auf die Landesebene zeigt sich beispielsweise bei der Hamburger Bürgerschaft, dass die Fraktionssatzungen seit Mitte der 1990er-Jahre relativ stabil im Umfang bleiben. Die GO der Grünen (bis 2012 „Grün-Alternative Liste“) wurde zu Beginn des neuen Jahrtausends etwas gekürzt, bevor die aktuelle Geschäftsordnung wieder das Niveau von 1997 erreicht hat. Solche Entwicklungen können im Rahmen des Projekts besonders interessante Fälle darstellen, ist doch grundsätzlich eher von einer (innerhalb gewisser Schwankungen) kontinuierlichen Zunahme auszugehen, wie sie bei anderen formalen Regelwerken bereits nachgewiesen wurde. Auffällig sind zudem Größenunterschiede in der Relation zwischen Bürgerschafts- und Bundestagsfraktion (nicht abgebildet). Während bei den Grünen, der Linken und der SPD die Geschäftsordnung im Bundestag das längere Dokument darstellt, sind bei AfD und CDU die innerfraktionellen Regeln in der Bürgerschaft umfangreicher.
Im internationalen Vergleich fällt die unterschiedliche Streuung im Umfang sowohl innerhalb als auch zwischen den Ländern auf (siehe Abbildung 3). Im Besonderen gilt dies für die Fraktionsstatuten in der italienischen Abgeordnetenkammer: So umfasst die Satzung der MoVimento 5 Stelle-Fraktion ohne den angehängten Ethik-Kodex 4273 Wörter und ist damit mehr als doppelt so lang wie die GO des Linksbündnisses Liberali e Uguali mit 1642 Wörtern. In den drei anderen abgebildeten Ländern ist die Spannweite beim Umfang weniger groß. Augenfällig sind die Unterschiede zwischen den Fraktionen in Deutschland und Italien einerseits und jenen in der Schweiz und in Finnland andererseits.9 Hier wird in weiterführenden Analysen nach relevanten Einflussfaktoren zu fragen sein. Zu diesen können unter anderem höherrechtliche Vorgaben zum Regelungsbereich der Fraktionssatzungen gezählt werden. Solche Bestimmungen existieren beispielsweise im Fraktionsgesetz in Finnland und haben zur Folge, dass jede Fraktion sich eine Geschäftsordnung geben muss. Das gilt insofern auch für „Liike Nyt“ und die „Gruppe Ano Turtiainen“, die jeweils aus nur einem Abgeordneten bestehen.
Aufschlussreicher als der hier grob skizzierte Umfang ist natürlich der Regelungsinhalt, den wir im Folgenden für drei Regelungsbereiche anhand ausgewählter Fraktionsstatuten beleuchten. Die Annahme, dass letztere wichtige binnenorganisatorische Regelwerke darstellen, lässt sich auch anhand der in ihnen niedergelegten selbstreferentiellen Normen erhärten.
Auf ihre Bedeutung verweist beispielsweise das Erfordernis einer Supermehrheit für Satzungsänderungen. Schon die „Partey der Westendhall“ in der Frankfurter Nationalversammlung legte 1848 in ihren Statuten fest, dass diese „nur durch eine Mehrheit von zwey Dritttheilen der sämmtlichen Gesellschaftsmitglieder, nach vorgängiger Bekanntmachung dieses Gegenstandes der Berathung in der vorausgehenden Sizung, beschlossen werden [können]“ (§ 5). Auch für Abweichungen von der Satzung, die eine Fraktion im Einzelfall beschließen kann, finden sich qualifizierte Mehrheitsregeln. Die GO der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag bestimmt etwa, dass es dafür eine „einer Mehrheit von drei Vierteln der anwesenden Fraktionsmitglieder, mindestens aber der absoluten Mehrheit der Fraktionsmitglieder“ (§ 22 IV) bedarf.
Überdies geht aus Regelungen zur eigenen Verbindlichkeit hervor, dass es sich nicht nur um „Parlamentspoesie“ handelt. § 1 der Satzung der Liberalen Fraction (Linkes Centrum) im Preußischen Abgeordnetenhaus lautet zum Beispiel: „Der liberalen Fraction können nur diejenigen angehören, die der Geschäftsordnung derselben sich fügen.“ Ähnlich regeln die Statuten der Gruppierung „Mein Schritt“ in der armenischen Nationalversammlung, dass jedes Mitglied „verpflichtet [ist], gemäß den Anforderungen […] der Geschäftsordnung zu handeln“ (§ 4 II 7). Die AfD im nordrhein-westfälischen Landtag führt auch gleich Sanktionsmöglichen „bei Verstößen gegen die Geschäftsordnung“ an, wozu neben einem Fraktionsausschluss auch „Rügen und die Verhängung eines Ordnungsgeldes“ von bis zu 1000 Euro gehören (§ 4 III).
Ein organisations- und gruppensoziologisch besonders spannender Regelungsbereich findet sich in Normen zur Abstimmungsdisziplin im Parlament. Da das mit ihnen bezweckte Erscheinungsbild der Geschlossenheit ein Kollektivgut darstellt, von dessen Vorteilen alle profitieren, an dessen Herstellung sich aber nicht alle immer beteiligen wollen (vgl. etwa Saalfeld 2005: 38), sind zu einheitlichem Verhalten anhaltende Regelungen aus der Organisationsperspektive nachvollziehbar. Zugleich gehören sie wohl zu den strittigsten Regelungsmaterien für Zusammenschlüsse mit einem freien Mandat ausgestatteter Parlamentarier. Entsprechend unterschiedlich fallen die Formulierungen teilweise aus. Die Fraktionssatzung der französischen Parti socialiste von 1969 normiert etwa: „In der Plenarsitzung und in den Ausschüssen gilt uneingeschränkt die Regel der geschlossenen Abstimmung“ [„l'unité de vote“] (§ 17). Viele Abgeordnetengruppierungen in der Frankfurter Nationalversammlung beschränkten die Abstimmungsdisziplin auf „Parteyfragen“: Wird ein Gegenstand per Mehrheitsbeschluss zu einer solchen erklärt, „so darf kein Mitglied in der Reichsversammlung dagegen sprechen oder stimmen“, heißt es exemplarisch bei der „Partey Landsberg“ (§ 8). Im Kontrast dazu kodifiziert etwa die Satzung der Piratenfraktion im Landtag Schleswig-Holsteins (18. Wahlperiode), dass ihre Mitglieder „in der Wahrnehmung ihres freien Mandats nicht an Mehrheitsentscheidungen oder Weisungen gebunden [sind]“ (§ 14 I). Allerdings sind sie auch angehalten, „die Mehrheitsmeinung der Fraktion“, „Entscheidungen, die in einem Beteiligungs-System gefasst wurden“ sowie das Wahlprogramm und Parteitagsbeschlüsse „zu berücksichtigen“ (§ 14 II).
Die Bezüge zur Parteiorganisation sind aufgrund des in der Regel engen Beziehungsgeflechts generell interessant; nicht umsonst ist das Verhältnis bzw. im deutschen Fall die Trennung von Partei und Fraktion wiederkehrend Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Debatte (vgl. Schönberger 2018). Eine gewisse Abhängigkeit von der (außerparlamentarischen) Partei wird an Regelungen deutlich, wonach die Fraktion „der Parthei im Lande [von 4 zu 4 Wochen] Bericht erstattet“ (Deutsche Fortschrittspartei im preußischen Landtag, § 9). Die GO der Fraktion der Liberal-Demokratischen Partei im Thüringischen Landtag von 1947 verpflichtete jedes Mitglied, „nach jeder Landtagssitzung über den Verlauf derselben in seiner Orts- und Kreisgruppe Bericht zu erstatten“ (§ 1). In der SPD-Bundestagsfraktion wurde seit der zweiten und noch in der letzten Wahlperiode (in der aktuellen also nicht mehr) festgehalten, dass die Fraktionsführung die Arbeit der Fraktion „in Übereinstimmung mit den Richtlinien der Partei“ plant.
Parteibezogene Regeln existieren auch mit Blick auf die Abstimmungsdisziplin im Parlament. Die Fraktionssatzung der schweizerischen Grünliberalen Partei von 2017 führt allgemein aus: „Es ist das Ziel, dass Fraktion und Partei dank einer gemeinsamen Entscheidungsfindung zu einer einheitlichen Position finden“ (§ 2). Jene der KSČM (Kommunistische Partei Böhmens und Mährens) aus demselben Jahr verweist auf das in der Verfassung Tschechiens verankerte freie Mandat (Art. 26 der Verfassung), regelt zugleich aber auch, dass sich Abgeordnete, die entgegen dem Wahlprogramm abstimmen, gegenüber dem Zentralkomitee der Partei erklären müssen (§ 6). Nach den Statuten der AfD-Bundestagsfraktion wird den Landes- bzw. Kreisverbänden der Partei mitgeteilt, wer nicht an einer namentlichen Abstimmung teilgenommen hat (§ 18 III 3).
4. „Fraktionsverfassungen“: kaum beachtet, und doch aufschlussreich
Gewiss determinieren Geschäftsordnungen weder die Entscheidungen der Fraktion noch das Handeln ihrer Mitglieder. Dass sie aber ein aufschlussreiches politikwissenschaftliches Forschungsfeld darstellen, dürfte außer Frage stehen. Allein die explorativ aufgezeigten Unterschiede sprechen für eine umfassendere Untersuchung der „Fraktionsverfassungen“, auf die bisher wohl vor allem aufgrund der begrenzten Datenlage kein besonderes Augenmerk gelegt wurde. Die quantitativen Befunde der Kurzanalyse werden durch einen Abgleich aller verfügbaren Daten zu erhellen sein. Insbesondere bedarf es aber vertiefender, systematischer Studien zu einzelnen Regelungsbereichen gemäß dem oben aufgezeigten Forschungsprogramm.
Anmerkungen
1 Rüdiger Soldt, AfD im Südwesten wiedervereinigt, in: FAZ v. 12.10.2016, S. 4
2 https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/05/afd-landtagsfraktion-brandenburg-kalbitz-ausschlussverfahren.html. Vom Fraktionsvorsitz ist Kalbitz inzwischen aufgrund anhaltender Kritik nach einer physischen Auseinandersetzung mit einem Fraktionskollegen zurückgetreten.
3 Selbstredend gehören zu den „rules of the game“ immer auch informelle Institutionen (als Klassiker: North 1990), die mit den formalen Spielregeln in einem spannungsreichen Wechselverhältnis stehen Vgl. etwa Helmke/Levitky 2004.
4 Bisweilen finden sich auch nicht näher ausgeführte Hinweise auf ihre Bedeutung: Patzelt (2006: 117) stellt beispielsweise fest, dass bei der Analyse landesparlamentarischer Regierungskontrolle „die in den Geschäftsordnungen der Parlamente und in den Arbeitsordnungen der Fraktionen festgelegten Detailregelungen [viel wichtiger sind]" als eine verfassungsrechtliche Verankerung der Rolle der Opposition.
5 Für weitere Informationen siehe: https://www.iparl.de/de/forschung/sopip.html.
6 Wir danken Lukáš Hájek, Nane Khachatryan, Robin Simonow, Gerrit Voerman und Matti Wiberg für ihre Unterstützung bei der Beschaffung einzelner Fraktionssatzungen. Für Hinweise und Anregungen zur Existenz von Fraktionsgeschäftsordnungen außerhalb Deutschlands bzw. vor Gründung der BRD sind die Autoren stets dankbar.
7 Lediglich für die Fraktion „Donnersberg“ sowie den späteren Zusammenschluss im „Centralmärzverein“ sind keine Statuten überliefert.
8 Strittig war zunächst vor allem ein Passus zum einheitlichen Abstimmungsverhalten, woraufhin eine Satzungskommission eingesetzt wurde. In der Fraktionsversammlung erörtert wurde das Thema Geschäftsordnung in der ersten Wahlperiode allerdings nicht mehr (vgl. Recker 2018: 316).
9 Da verschiedene Sprachen eine unterschiedlich große Wortzahl für denselben Wortinhalt verwenden können, sollten künftige Vergleichsstudien einen Sprachkorrekturfaktor (Sieberer et al. 2014) und weitere Indikatoren wie etwa die Absatzanzahl berücksichtigen.
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Erstveröffentlichung
Der Text wurde in Form eines Kurzbeitrags hier erstveröffentlicht:
Danny Schindler/OliverKannenberg: Fraktionsgeschäftsordnungen als unbestelltes Feld der Politikwissenschaft. In: MIP Zeitschrift für Parteienwissenschaften 2020 | 26. Jhrg. | Heft 2 | S. 170-176. doi:10.25838/oaj-mip-2020170-176.
Repräsentation und Parlamentarismus
Rezension
{Bid=41107}Die Fraktionen zählen zu den wichtigsten Handlungseinheiten des Bundestages. Folglich kommt dem Amt des Fraktionsvorsitzenden im Parlamentsbetrieb große Bedeutung zu, dem sich Danny Schindler widmet. Die wesentliche Grundlage seiner Untersuchung bilden Leitfadeninterviews. Sie vermitteln konkrete „Einblicke in den Maschinenraum vom Fraktionsleben“, wie Rezensent Arno Mohr schreibt. Schindler gehe nicht nur auf die zahlreichen Steuerungsmöglichkeiten von Vorsitzenden ein, sondern mache auch Ausführungen, wie diese im Willensbildungsprozess der Fraktionen eingesetzt werden können.
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