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Rezension / 14.09.2020

Danny Schindler: Politische Führung im Fraktionenparlament. Rolle und Steuerungsmöglichkeiten der Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag

Baden-Baden, Nomos 2019

Die Fraktionen zählen zu den wichtigsten Handlungseinheiten des Bundestages. Folglich kommt dem Amt des Fraktionsvorsitzenden im Parlamentsbetrieb große Bedeutung zu, dem sich Danny Schindler widmet. Die wesentliche Grundlage seiner Untersuchung bilden Leitfadeninterviews. Sie vermitteln konkrete „Einblicke in den Maschinenraum vom Fraktionsleben“, wie Rezensent Arno Mohr schreibt. Schindler gehe nicht nur auf die zahlreichen Steuerungsmöglichkeiten von Vorsitzenden ein, sondern mache auch Ausführungen, wie diese im Willensbildungsprozess der Fraktionen eingesetzt werden können.

Es ist in der Tat richtig, wenn Danny Schindler die politikwissenschaftliche Parlamentsforschung dafür kritisiert, dass sie die privilegierte Stellung und den maßgeblichen Einfluss von Fraktionsvorsitzenden im Deutschen Bundestag kaum analytisch erfasst habe. Der Deutsche Bundestag sei schließlich ein „Fraktionenparlament“ (Suzanne Schüttemeyer), in dem – wie man sagen könnte – nicht jeder Abgeordnete gleich „unmittelbar zu Gott“ Zugang habe. Fraktionen seien „systemtypologisch [...] die wichtigsten parlamentarischen Handlungseinheiten“ einerseits, andererseits aber auch „selbst Kollektivakteure“. Daher komme „fraktionsinternen Willensbildungsprozessen allergrößte Bedeutung“ (20) zu. Daraus ergibt sich wie von selbst, dass das Amt des Fraktionsvorsitzenden nicht nur institutionell nach innen einen politischen ‚Mehrwert‘' verkörpert, sondern auch extern programmatisch wie strategisch hinsichtlich der Bundesregierung eine gewisse, wenn auch lediglich kupierte, ‚Richtlinienteilkompetenz‘ besitzt. Die Qualität des externen Faktors hängt natürlich auch davon ab, ob es um die Führung der (regierungstragenden) Mehrheitsfraktion geht – seit 1961 in der Regel im Rahmen einer Koalitionsregierung –, oder um die in einer Oppositionsfraktion handelt.

Aus dieser Schlüsselfunktion zieht Schindler seine Legitimation, dieser eine umfassende Untersuchung zu widmen. Diese zentriert sich um die Komponenten Rollenerwartungen und Rollenorientierungen sowie um Steuerungsmöglichkeiten der Vorsitzenden (Akteurswahrnehmung zur Macht). Die Studie folgt, methodologisch, den üblichen Standardvorgaben empirischer (qualitativer) Forschung. Die Hauptgrundlage sind sogenannte Leitfadeninterviews, die sehr konkret und daher hochinteressante Einblicke in den Maschinenraum des Fraktionslebens vermitteln. Personen verschwinden oft in theoriegeleiteten Arbeiten im Dickicht systemischer Modelle. Schindlers Studie ist mir deswegen sympathisch geworden, weil die handelnden Politiker in concreto zu ihrem Recht kommen und gewissermaßen das Salz in der Suppe ausmachen.

Bleiben wir vorerst bei den Personen. Oder ist es gerechtfertigter, von Persönlichkeiten zu sprechen? Man kann das von nicht wenigen Posteninhabern füglich behaupten. Manche sind Bundeskanzler/in geworden: Helmut Schmidt führte die SPD-Fraktion in der ersten Großen Koalition 1966-1969, Helmut Kohl war, bevor er Kanzler wurde, Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU 1976-1982, Angela Merkel von 2002-2005). Kohl und Merkel waren gleichzeitig auch Parteivorsitzende. Manche wurden zu Bundespräsidenten gewählt wie Karl Carstens (1973-1976 Fraktionsvorsitzender von CDU/CSU) oder Frank-Walter Steinmeier (Fraktionsvorsitzender der SPD 2009-2013).

Wir erinnern uns lebhaft an legendäre Figuren, in ihrem Typus unnachahmlich. Herbert Wehner ist so einer, dem sie mit dem ‚nom de guerre‘ „Zuchtmeister“ der SPD-Fraktion versahen. Er ‚lebte‘ sozusagen dieses Amt 1969-1983, ausgestattet mit den Fähigkeiten äußerster Disziplin, einer Rednergabe, in der seine Stentorstimme alle diejenigen im Bundestag niederwalzen konnte, die ihm in die Quere kamen, vor allem dann, wenn sie ihn wegen seiner kommunistischen Herkunft persönlich herabsetzten und seine Loyalität dem demokratischen Verfassungsstaat gegenüber immer noch anzweifelten.

Was die Einflussnahme anbelangt, darf bei der CDU Heinrich Krone nicht außer Acht gelassen werden, Fraktionsvorsitzender 1955-1961. Krone wurde zu einem der engsten Vertrauten Konrad Adenauers. Seiner guten Kontakte zur SPD wegen sahen ihn viele als Promoter der Großen Koalition 1966-1969. Figuren wie Karl Carstens (1973-1976) und Alfred Dregger (1982-1991) vertraten die nationalkonservative Richtung. Das soziale Spektrum war in der Fraktion in Führungsfragen nicht beliebt. In umgekehrtem Falle gilt dies aber auch für die SPD, bei der nie ein ‚Linker‘ mit Führungsaufgaben betraut wurde.

Aus der FDP ist Wolfgang Mischnick zu nennen, der die Fraktion ewig lange (1969-1991) führte und ohne dessen Profil als gewiefter Parlamentarier wechselnde Koalitionsregierungen nicht zustande gekommen wären. Problematischer war – und ist noch – die Auswahl der Fraktionsführung bei den Grünen. Dafür haben einmal das sogenannte ‚imperative Mandat‘ gesorgt, um jegliches ‚Erbhof-Denken‘ auszuschließen, andererseits eine rigide Fraktionierung innerhalb der Fraktion zwischen Realos und Fundamentalisten. Das hat sich gegenwärtig abgeschliffen. Diese Entwicklung hin zum politischen Pragmatismus ist weniger einer Fraktionsspitze zuzuschreiben, die sich qua Autorität für einen solchen Kurs der Mehrheit der Abgeordneten versichern konnte, als vielmehr schlechten Wahlergebnissen.

Die parlamentarischen Erlebniswelten hatten auch ihre tragischen Verlierer. Diese Erfahrung trifft für solche Politiker zu, die über Machtbewusstsein verfügten und sich für „Höheres“ vorbestimmt sahen, aber letztendlich tief fielen. Exemplarisch gilt dies für Rainer Barzel, der tief enttäuschte Verlierer des Misstrauensvotums von 1972, der erleben musste, wie sich ein als sicher geglaubter Sieg ins Gegenteil verkehrt hatte. Diese Niederlage läutete sein jähes politisches Ende ein, wenig später musste er für Kohl Platz machen. Eine gewisse Tragik umwehte auch Wolfgang Schäuble. Schäuble, seit 1982 im Bundestag, war ein Mann der Fraktion, wurde unter Kohl Minister und handelte mit der DDR-Führung den Einigungsvertrag aus. Zwei einschneidende Ereignisse haben Schäuble persönlich wie auch politisch heimgesucht und seine Machtansprüche auf das höchste Amt im Grunde zerstört: Er überlebte ein Attentat (12. Oktober 1991) nur um Haaresbreite und sitzt seitdem im Rollstuhl. Schließlich traf ihn der CDU-Parteispendenskandal, der die gesamte Partei in einen agonalen Zustand trieb und auch Schäuble mit hinunterzog. Er musste seinen Führungsplatz in Fraktion und Partei abgeben (2000; Fraktionsvorsitzender 1991-2000, Parteivorsitzender 1998-2000). Ein dritter Amtstypus lässt sich als „Amtsverweser“ charakterisieren, die durch Kärrnerarbeit versuchen, nach verlorenen Wahlen und sich daraus ergebenden innerparteilichen Verwerfungen wieder eine klare Linie für die Fraktionsarbeit zu finden, um auf diese Weise erneut zu einer gewissen innerparteilichen Stabilität zu finden. Prototyp dieser Kategorie scheint mir Hans-Jochen Vogel zu sein, der zwischen 1983 und 1987 als Fraktionsvorsitzender der SPD amtierte.

Diese etwas hemdsärmelig erstellte Auflistung spiegelt natürlich nur die Oberfläche dieser Institution wider, das also, was in die öffentliche Meinung durchdrang, dort wirksam wurde und im Plakativen hängen blieb. Die Dinge liegen, wie so oft im politischen Leben, tiefer und gestalten sich komplizierter. Hier schlägt die Stunde des Politikwissenschaftlers, der sich aufmacht, die Tiefenstrukturen dieses Komplexes freizulegen und um einsichtsvoll hinter die Dinge zu kommen, seiner Problematik, seiner Stellung und seiner Funktion im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Aufgabe hat sich Schindler in seiner Dissertation unterzogen. Er hat sich dieser Aufgabe gewachsen gezeigt, hat sehr sachlich argumentiert, aber trotzdem nicht versäumt, kritische Töne anzuschlagen und zudem noch Verbesserungsvorschläge gemacht, wie dieses Amt des Fraktionsvorsitzenden effektiver, aber auch demokratischer geformt werden kann und weitere Forschungen angemahnt.

Wenn man sich mit dem Institut des Fraktionsvorsitzenden beschäftigt, muss man die Arbeitsweise des Parlaments im faktischen, weniger im normativen Sinne genau kennen. Wie arbeitet es? Wieweit geht es über das hinaus, was verfassungsrechtlich erlaubt ist? Wie weit muss es dies tun? Man kann auch der Frage nicht ausweichen: Wieweit bleibt es unter seinen verfassungsrechtlich eingeräumten Möglichkeiten? Ist das in der Verfassung kodifizierte Parlamentsrecht nicht durch die Realität überholt worden, weil es eben auch die ungeschriebenen Regeln gibt, die das Parlament am Laufen hält? Wie ist das wechselseitige Verhältnis zum exekutiv-administrativen Sektor bestimmt? Symmetrisch oder asymmetrisch? Das Parteienparlament kann aber kein unitarisches Gebilde sein. Schließlich werden nicht nur Personen gewählt, sondern vor allem Parteien. Diese organisieren sich im Bundestag als Fraktionen, als, wie schon der Name sagt, scharf voneinander abgegrenzte Teilgebilde im Rahmen der parlamentarischen Funktionsweisen und Spielregeln.

Die Regierungen – de facto seit 1961 ausschließlich Koalitionsregierungen – sehen in den Fraktionen ihren verlängerten Arm im Parlament, auf den sie allerdings angewiesen bleiben, um überhaupt ‚ihre‘ Politik innerhalb einer Legislaturperiode durchbringen zu können. Da nun jede Institution hierarchisch organisiert ist – ob ‚flach‘ oder dirigistisch sei einmal dahingestellt –, kommt den Fraktionsspitzen wie naturhaft eine Machtfülle zu, die umso stärker und effizienter ausgespielt werden muss, je größer sich die Zahl der Fraktionsmitglieder bestimmt. Und je diversifizierter eine große Fraktion in ihren ideologischen Ausprägungen und ihren interessengebundenen Affiliationen sich darstellt, umso stärker muss die Autoritativität der Spitze auf die Fraktion einwirken und zum Ankerpunkt der parlamentarischen Arbeit werden. Ist diese schwach entwickelt, wird es früher oder später zu Friktionen kommen, die sich auf die Anforderungen des parlamentarischen Alltags als hemmend herausstellen werden, was sich unweigerlich auch im Maschinenraum der Regierungsarbeit manifestieren wird.

Führungsarbeit – Leadership – ist markiert durch verschiedenartige Eckpunkte und Einflussgrößen: Regierungsstatus (also Stellung zur Regierung ), Fraktionsgröße (bei großen Fraktionen Gefahr der Unüberschaubarkeit sowie einer Binnendifferenzierung mit Abgrenzungscharakter und Immunisierungsverhalten; bei kleinen Fraktionen Gefahr von Selbstdarstellungsanmaßungen des und ihrer Monopolisierung beim Fraktionsvorsitzenden), Unterschied in der Thematisierung von ‚Großer Politik‘ oder des Alltagsgeschäfts (bei Grundsatzentscheidungen wird das Abstimmungsverhalten des einzelnen Abgeordneten de facto weniger von seiner eigenen Gewissenslage ausgehen, sondern durch Fraktionsdisziplin, um die Reihen zu schließen, mit dem zentralen Ziel, die Regierungslinie parlamentarisch abzusegnen; erst diese Grundfragen eröffnen der Fraktionsspitze den leichteren Zugang zu der medialen Öffentlichkeit, was diese zwingt, Geschlossenheit nach außen zu demonstrieren).

Führungspersonen geraten sehr leicht in die Zwänge, nicht nur die unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb der Fraktion auf der Grundlage von Kompromissen austarieren zu müssen, sondern sich auch einem Wettbewerb mit wichtigen Funktionsträgern der eigenen Partei auseinandersetzen zu müssen, die zu Widersachern werden und im schlimmsten Fall nicht zögern würden, den Amtsinhaber zu stürzen (Schindler führt als Beispiel die Demontage des SPD-Parteivorsitzenden Rudolf Scharping 1995 auf dem Parteitag in Mannheim durch Oskar Lafontaine an, 61). Auch schlechte Wahlergebnisse in den Ländern konnten Fraktionskarrieren zerstören (siehe Scharping), ebenso bittere Niederlagen im Bundestag – wo es um alles ging – wie bei Barzel 1972 (siehe oben).

Schindler geht von drei Formen der Steuerung im Führungsprozess innerhalb einer Fraktion aus. Als erste nennt er die Disziplinierung, also zum Beispiel das Erfordernis, die Stabilität der Fraktion zu gewährleisten und damit der Regierung zu bedeuten, dass sie deren materielle Politik trägt und hinter ihr steht. Dabei gehen offensichtlich Selbstdisziplin (des einzelnen Parlamentariers) sowie externe Disziplinierung Hand in Hand. An die zweite Stelle setzt der Autor einen Faktor, dessen Bedeutung oft verkannt wird: „soziale Steuerung“ (81). Diese zentriert um soziale Handlungsmotive, die parallel zu rationalen Nutzenkalkülen laufen können, doch nicht in einem binären Sinne. Dabei ist die Motivierung von Reziprozität von größter Wichtigkeit: diese kann gekennzeichnet sein durch die parlamentarische Sozialisation, durch den Austausch von autoritativer Macht und individueller Anerkennung. Dieses Verhältnis kann personenunabhängig oder über persönliche Freundschaften geleitet sein. Schließlich wäre da noch die „prozedurale Steuerung“ (86). Schindler rechnet dazu unter anderem Informationsprivilegien, Medienzugang, so etwas wie ‚Herr/Frau über die Tagesordnung‘ wie Sitzungsherrschaft (77-87).

Die eben geschilderten Einsichten Schindlers und seine sich davon herleitende Modellierung basieren auf der einschlägigen Literatur und führen ihn zu hypothetischen Fragestellungen, die die Rolle des Fraktionsvorsitzenden im Bundestag sowie seine Steuerungsmöglichkeiten und ihre Nutzung im Führungsprozess in den Fokus stellen. Seine Datenbasis gruppiert sich um Geschäftsordnungen der Fraktionen, Kurzinterviews mit 67 Bundestagsabgeordneten der 17. Wahlperiode hinsichtlich Rollen- und Machtfrage, Leitfadeninterviews mit 36 Akteuren der Fraktionsführung (selbstverständlich anonymisiert, aber oft leicht identifizierbar), darunter 14 Vorsitzende (davon 9 ehemalige Minister), und die Forschungsliteratur zu einzelnen Amtsträgern (116).

Zum Faktor Führungsrolle geben Schindlers Interviews vorzügliche Einblicke in die Realität des Fraktionsgeschehens: (1) Zusammenhalt/Geschlossenheit: Ex negativo stehen Formeln wie „Hühnerhaufen“, „Bienenhaufen“. Die Fraktion soll sich bitteschön weniger mit ihresgleichen im Streit liegen, sondern sich vereint dem politischen Gegner stellen (156 f.). (2) „Aushängeschild“ Öffentlichkeitsdarstellung: Ein Muss für jeden Fraktionsvorsitzenden. Stolpernde und verdruckste Auftritte sind im Mittel oft Anlass für Postenenthebung. „Graue Eminenzen“ haben in diesem Milieu keine Chancen auf Gehör und Gefolgschaft (155 ff.). (3) Fraktionsexterne Verhandlungsführung: Der Fraktionsvorsitzende als „Transmitter zwischen der Regierung, der Bundeskanzlerin und den Abgeordneten“ (158 f.). (4) Inhaltliche Orientierungsleistung: „Wenn Sie die klaren Vorgaben nicht machen, fliegt ihnen der Laden um die Ohren.“ „Das ist immer eine Frage der Begründung“ (159 ff.). (5) Sicherstellung innerfraktioneller Demokratie: Forderung nach „responsiver Führung“, das heißt die Einbindung aller Kollegen beziehungsweise Einbeziehung von wichtigem Expertenwissen (161 ff.). Stärkung der Fraktionsposition gegenüber der Regierung. Das erscheint bei Mehrheitsfraktionen äußerst schwierig. Denn einmal ist es überlebenswichtig, dass die Regierung parlamentarisch unterstützt wird. Zum Zweiten aber ist die Fraktion gehalten, in einem gewissen Maße als selbstbewusster Akteur aufzutreten. Das vielzitierte sogenannte „Struck'sche Gesetz“ – nach Peter Struck, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden 2005-2009 –, wonach ein Gesetz aus dem Parlament nie so rausgeht, wie es hineingekommen ist, soll indizieren, dass es durchaus gegeben ist, dass der Bundestag eine eigenständige Position gegenüber der Exekutive einzunehmen in der Lage ist. Schindler feiert dieses Faktum als Kräftigung der Demokratie. Mir scheint das eine Spur zu euphemistisch zu sein, zumal viele Gesetzesvorhaben zwar strittig, aber durchaus, auch mit Änderungen, nicht zur Belastung des Verhältnisses zwischen Mehrheitsfraktion und Regierung führen wird. Hier weht noch der Geist der älteren Parlamentstheorie mit ihrer in Stein gemeißelten Gewaltenteilungsdoktrin. In einer professionalisierten Parteiendemokratie hat sie nur noch historischen Wert.

Eine interessante Korrelation rückt Schindler ins Bewusstsein, diejenige nämlich zwischen Fraktionsgröße und Rollenverständnis des Fraktionsvorsitzenden. Dabei muss unterschieden werden zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion. Unisono sagen das auch die Befragten (174). Einen weiteren Aspekt hält Schindler für diskutierenswert, denen Fraktionsvorsitzende nicht so einfach ausweichen können: die Entwicklung strategischer Führungsqualitäten entsprechend der jeweiligen politischen Situation mit ihrer ganzen inhärenten Problematik sowie Themensetzung. Da Strategie aber immer langfristig angelegt ist – maximal vier Jahre –, hat sie im rasanten Wandel politischer Entwicklungen eigentlich nur einen begrenzten Wert und scheitert oft an situativ-taktischen Manövern. Fraktionsvorsitzende müssen als „Aktivator“ – wie Schindler dies nennt – im fraktionellen Willensbildungsprozess fungieren. Abhängig bleibt diese Initiation, ob es sich, erneut, um die Regierungs- oder die Oppositionsfraktion handelt, ob die Partei zuvor eine gravierende Wahlniederlage erlitten hat und eine neu konstituierte Fraktion im Bundestag gleich am Anfang von Lethargie befallen ist. Als Beispiel wird Hans-Jochen Vogel genannt, der sich nach der Wahlniederlage 1987 als neuer Oppositionsführer in kleinen Schritten daranmachte, die Fraktion aus ihrem Selbstmitleid zu reißen und umgehend die Fraktionsarbeit zu intensivieren (184).

Schließlich muss der Fraktionsvorsitzende Ansprechpartner für individuelle Probleme sein („soziale Anlaufstation“, 186). Alkohol- und Beziehungsprobleme werden am häufigsten genannt. Außerdem hat er die Aufgabe, sich um die Fraktionsnovizen zu kümmern und sie zu integrieren. Die Arbeit einer Fraktion und die ihres Vorsitzenden lässt sich nur verstehen, wenn sie als Teil der Gesamtpartei gesehen wird. In der Regel sitzen die Vorsitzenden im Parteipräsidium. Es ist aber auch nicht selten, dass sie gleichzeitig Parteivorsitzende sind. In dieser Personalunion sind natürlich ihre Macht und ihr Einfluss in der Partei mehr oder weniger unangefochten. Gute Beispiele aus der CDU sind Helmut Kohl (1980-83) und Angela Merkel (2002-2005). In der SPD war Erich Ollenhauer von 1953-1965 sowohl Partei- als auch Fraktionsvorsitzender. Seine Stellung war aber schon durch den Umstand angegriffen, dass er zweimal als Kanzlerkandidat gegen Adenauer unterlegen (195 ff.) und kein Kämpfertyp war.

Der Verfasser macht in diesem großen Abschnitt über „Die Führungsrolle der Vorsitzenden: Konturen eines politischen Spitzenamts“ weitere interessante Ausführungen über das Persönlichkeitsprofil, um diesem Amt gewachsen zu sein (200 ff.), über gremienbezogene Rollenanalyse, etwa in Gestalt eines ‚Geschäftsführenden Vorstands‘ (so seit 1975 bei der SPD, seit 1980 bei der CDU) als dem höchsten Leitungsgremium, über Fraktionssitzungen, Effizienz- und Offenheitsorientierungen, bis hin zur Einrichtung von Ersten Parlamentarischen Geschäftsführern mit unabdingbarem Vertrauensverhältnis zum Fraktionsvorsitzenden (232 ff.).

Ein Kanzler beziehungsweise eine Kanzlerin kann nicht ohne ein vertrauensvolles Miteinander mit der Fraktionsspitze im Amt überleben. Koalitionsregierungen machen die Dinge alles andere als konfliktärmer. Verlässlichkeit ist hier oberstes Gebot. Das muss ein Kanzler/eine Kanzlerin vom Fraktionsvorsitzenden verlangen können. Sie müssen sich nicht persönlich mögen, aber es muss nach außen hin sichtbar sein, dass sie an einem Strang ziehen. Liegen Diskrepanzen oder Disharmonien mit dem Regierungsapparat vor, dann ist das Kanzleramt die erste Anlaufstelle, um zu einer, wenn auch zum Teil kompromisslerischen ‚Lösung‘ zu gelangen, mit der beide Seiten gut leben können. Wie oben schon angedeutet, müssten Kanzler/in wie Gerhard Schröder oder Angela Merkel erst noch lernen, dass ohne die Fraktion gar nichts gehe. Kommt es zu Konflikten, die schon längere Zeit schwelen, können diese überdies die Führungskraft der Partei erheblich beeinträchtigen. Das zeigt sich zum Beispiel im Zusammenhang mit der Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, als der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Wehner Bundeskanzler Willy Brandt in bitterem Sarkasmus ausgerechnet noch in Moskau vorwarf, dass der Herr lau bade. Heute würde man sagen: Brandt agiere lediglich noch als ‚lame duck‘, indem er vieles schleifen lasse.

Ein anderes Beispiel zeigt sich am NATO-Doppelbeschluss, den Kanzler Schmidt initiierte, aber in seiner Fraktion ohne Rückhalt blieb und überhaupt von der Gesamtpartei im Stich gelassen wurde (268 ff.). Die Scharnierfunktion zwischen Fraktion und Regierung, in der Schindler die Fraktionsvorsitzenden sieht, ist von dilemmatischem Charakter: Agiert er eher parlamentarisch oder eher gouvernementalistisch? Pflegt er hinsichtlich des Regierungshandelns eher eine gewisse Distanziertheit oder ist er eher Erfüllungsgehilfe der Regierung? Schindler meint, dass sich dies empirisch nicht einwandfrei verifizieren lässt (285). Als Prototyp eines starken Fraktionsvorsitzenden während der Regierungen Kohl/Genscher, dem das Etikett des ‚Schattenkanzlers‘ angeheftet wurde, zählt der Autor Wolfgang Schäuble, der sich zudem für die Nach-Kohl-Ära in Position zu bringen suchte.

Reiner Administrator war nach Ansicht des Autors Volker Kauder, gewissermaßen „Merkels Mann“ in der Fraktion oder umgekehrt der „Mann an Merkels Seite“. Kauder war derjenige Fraktionsvorsitzende der CDU, der am nächsten an der Kanzlerin stand und in alle Gesetzesvorhaben von vornherein eingeweiht war. Er war aber auch derjenige, der diesen Vorteil nicht im Sinne der Fraktion zu nutzen verstand und von den eigenen Leuten eher als Regierungsmitglied denn als Führer einer Parlamentsfraktion wahrgenommen wurde. Er war eben kein Dompteur wie Wehner. Die für ihn bittere Konsequenz war seine Abwahl im November 2018.

Welche Steuerungsmöglichkeiten hat der Fraktionsvorsitzende? Diese Fragestellung verweist auf den zweiten Problemkreis, den Schindler mit dieser politischen Figur in Verbindung bringt, und den er auf ca. 125 Seiten in sechs Schritten analysiert. Es geht um die Frage, wie jene Möglichkeiten von den einzelnen Amtsinhabern mehr oder weniger ausgeschöpft werden. Ihnen wird zunächst Macht zugeschrieben, was auch ihrer Selbstwahrnehmung entspricht, Eine Schwierigkeit kann sich aber daraus ergeben, dass gewisse, wie es Schindler nennt „Antizipationsschleifen“ (338) Macht überhaupt erst konstituiert. Bei Zweifeln an der Marschrichtung des Fraktionsvorsitzenden bekennen manche Abgeordnete, sich zurückzunehmen und der Furcht auszuweichen, „keinen Fuß [mehr] auf den Boden“ (340) zu kriegen. Den Interviews lässt sich ferner entnehmen, dass die tatsächliche Macht des Amtsinhabers überhöht wird. Paradoxerweise ist diese Antizipation der Tatsache einer gewissen Fehlwahrnehmung der Abgeordneten zuzuschreiben: eine geradezu ‚klassische‘ Anwendung beziehungsweise Bestätigung des Thomas-Theorems!

Schindler verweist auf Grenzen der Einwirkungsmöglichkeiten auf einzelne Abgeordnetengruppierungen, die bis zu Erpressungsdrohungen greifen können, um ihren Gruppeninteressen-Standpunkt zur Fraktionsleitlinie zu machen (so beispielhaft bei der „Linken“, 343 f.). Da bei Abstimmungen, die ja geheim sind, die Mehrheitsregel gilt, kann es in sehr strittigen Fragen, meist der „Großen Politik“, vorkommen, dass die Fraktionsspitze mit ihren Leitlinien nicht durchdringt und unterliegt. Doch Sanktionsmöglichkeiten haben die Fraktionsvorsitzenden bei einem solchen Verhalten nicht. ‚Hahnenkämpfe‘ in den Führungsgremien der Fraktion offenbaren Spannungen und Konflikte unterschiedlichen Ausmaßes. Oft offenbart sich dies bei der turnusmäßigen Wahl des Fraktionsvorsitzenden. So sucht man Kampfabstimmungen zwischen mehreren Kandidaten unter allen Umständen zu vermeiden, um nach außen hin den Anschein von innerer Geschlossenheit zu verbreiten. Bei sehr fachspezifischen Materien, die von Fraktionsexperten in Arbeitsgruppen behandelt und vorangetrieben oder dilatorisch gehemmt werden, sind dem Fraktionsvorsitzenden die Hände gebunden, da diese sein Wissen und seine Aufnahmefähigkeit überfordern und faktisch einer Machtbegrenzung gleichkommen. Schwierig wird es für einen Fraktionsvorsitzenden gewöhnlich dann, wenn die Konstellation in der Regierungsführung von Kanzler/in und Vizekanzler/in so bestimmt ist, dass bei zentralen Politikbereichen mit hohem konfliktreichem Potenzial seine Wahrnehmung in den Augen von Mitakteuren aus der zweiten Reihe absteigend ist beziehungsweise die Exklusivität von Regierungs- bzw. Parteispitzen in der Problemlösung außer Frage steht (347).

Der Persönlichkeitstyp des jeweiligen Amtsinhabers spielt neben den strukturellen und sozialpsychologischen Momenten eine besondere Rolle. Dies schließt vor allem die Befähigung ein, Macht überhaupt ausüben zu wollen. Der Wille zur Macht muss vorhanden sein, um seine Autorität und seine Relevanz zum Ausdruck zu bringen; dazu gehört auch die dosierte und sublime Delegierung wichtigen Fraktionshandelns.

Als Felder steuerungsbedürftiger Angelegenheiten in der Fraktion gelten die Personalpolitik (unter anderem Drohungen bezüglich der Abberufung aus Funktionen, Beeinflussung der Kandidatennominierung bei Bundestagswahlen, Postenpatronage 352 ff.), die „Macht des Machtworts“ als Ausdruck eines „desintegrativen Konflikts“ (374, wird von den Befragten eher skeptisch beurteilt, weil Gefahr der Desavouierung der Adressaten), Amtsautorität („ Ich bin zwar anderer Meinung, aber du bist Fraktionsvorsitzender“), persönliche Autorität, Kameraderie und Loyalitätserwartung („Tu's für mich persönlich“), Eröffnung von Medienzugängen, Agendasetzungsmacht/Willensbildung sowie „Grenzstellenmacht“ (Fraktionsvorsitzender als „Knotenpunkt im fraktionellen Kommunikationsnetz“, Zuarbeit für diesen durch Fraktionsmitarbeiter auf allen Ebenen, 412 f.).

Schindler stellt auch das Faktum eines nicht-majoritären Führungsverhaltens heraus, das heißt, der Fraktionsvorsitzende präferiert eine von der Mehrheit der Fraktion nicht getragene Vorstellung über eine bestimmte Politikmaterie. Der Autor gibt als ein quasi-aktuelles Beispiel den im höchsten Grade populistisch kontaminierten Asylkonflikt an, der die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU beinahe zum Absturz gebracht hätte. Obwohl es nicht der Mehrheit der CDU-Fraktion entsprochen hatte, stellte ihr Vorsitzender Kauder kategorisch fest: „Angela Merkel und ich werden unsere Führungspolitik nicht ändern.“ (452) Schindler gibt aber zu bedenken, dass die asymmetrische Präferenzverteilung in der Fraktion davon abhängig ist, ob es sich um Routinepolitik handelt, oder ob es um Entscheidungen von fundamentaler Bedeutung beziehungsweise gesamtstaatlicher Reichweite geht.

In seiner Zusammenfassung (457 ff.) listet Schindler 19 Punkte auf, die das Vorsitzendenamt als „komplexe Positionsrolle“ betreffen, und 11, die sich auf „Facetten und Syndrome der Vorsitzendenmacht im Schatten demokratischer Entscheidungsstrukturen“ konzentrieren (472 ff.). Vieles ist im Vorstehenden bereits angesprochen worden. Von Interesse erscheinen mir die exemplarischen Verortungen einzelner Fraktionsvorsitzender über die ganze Geschichte des Bundestags seit 1949 bis in die Gegenwart hinsichtlich persönlichkeitsbezogener Merkmale von Amtsinhabern und deren Defizite (diese in Klammern): fundierte Grundkenntnisse in allen Sachbereichen (v. Brentano, Dregger), ausgeprägte Kommunikationsfähigkeiten (Scharping), Positionsstärke in inhaltlichen Fragen (Klose, Mende), soziale Kompetenzen (Wagenknecht, Merz), belastbare Konstitution, Respekt und Vertrauenswürdigkeit (Lafontaine, 461 f.). Allerdings expliziert der Autor klar, dass die Kombination von Persönlichkeitsstruktur und institutionellem Rahmen, Regeln und Erfordernisse größere Erklärungskraft besitzen, als nur der Faktor Persönlichkeit (462).

Was die Karriereorientierung anbelangt, so treffen wir auf Vorsitzende, die ohne Umschweife Kanzlerambitionen artikulieren. Schäuble ist so ein Beispiel. Ähnliches lässt sich auch für Merkel sagen, als sie noch Oppositionsführerin war. Und ganz besonders für Kohl. Ein Gegenbeispiel ist nach Schindler Hans-Ulrich Klose, eher eine Art Übergangsvorsitzender, der sich solcher Ambitionen enthalten hat und in die Rolle eines ‚Parteidieners‘ geschlupft ist. Insgesamt scheinen die Vorsitzenden der großen Fraktionen in früheren Zeiten, als der Bundestag nur von zwei großen und einer kleinen Partei bestückt war, ihre Karriereorientierung an einer Nominierung und Wahl als Bundeskanzler ausgerichtet haben und sich von daher auch ihr Rollenverständnis beziehungsweise -verhalten als Fraktionsvorsitzende herleiten lässt.

Das lässt sich vor allem bei Barzel und Schmidt aufzeigen (467). Schindler, als er sich noch einmal der Relevanz einer gut geleiteten Fraktion annimmt, kleidet dies in ein assertorisches Urteil, nach dem dieser Faktor partiell auch ausschlaggebend ist für einen gut funktionierenden Parlamentarismus: Das Ausbleiben von Störungen sei nicht der Normalfall, sondern Ergebnis guter politischer Führung (471). Ob dieses Institut überhaupt den Rang beanspruchen darf, an der Stabilität des deutschen Parlamentarismus und seiner ‚Erfolgsgeschichte‘ mitgewirkt zu haben, wage ich zu bezweifeln. Abgesehen davon, dass mir der Ausdruck ‚Erfolgsgeschichte‘ zu schwammig ist und die Kriterien nicht präzise festgelegt sind, wonach sich diese bemisst, schießt Schindlers Hypothese ziemlich über das Ziel hinaus. Auch wenn man ‚nur‘ institutionelle Variablen in Rechnung stellt, so haben andere größere Verdienste, den Parlamentarismus nicht nur zu stabilisieren, sondern auch seine Rechte im Verhältnis zur Regierung auszudehnen. Ich denke hierbei aktuell an das Erkämpfen weitreichender Verfahrensrechte für parlamentarische Untersuchungsausschüsse, die nur über einen verfassungsgerichtlichen Urteilsspruch möglich wurde.

Im Blick auf die Steuerungsmöglichkeiten der Fraktionsvorsitzenden – die kooperativ oder konfliktreich, streng oder flach, deliberativ oder imperativisch ausgenutzt werden können – relativieren sich diese Prozeduren, weil dem die Gewissensfreiheit des einzelnen Abgeordneten, in der Realität insbesondere bei Abstimmungen, und seine Verpflichtung nur dem ganzen Volke gegenüber entgegenstehen (Art. 33, 1 GG). An dieser Stelle hat sich – seit es in Deutschland demokratisch gewählte Parlamente gibt – ein Dualismus aufgetan zwischen Realpolitik einerseits und Verfassungsrecht andererseits. Ich frage ganz vorsichtig: Sollte dieser Aspekt nicht stärker im Rahmen empirischer Parlamentsforschung berücksichtigt werden?

Abschließend begibt sich Schindler auf die „Suche nach organisationsstrukturellen und -kulturellen Optimierungspotentialen“ (491-495). Sein Anspruch besteht generell darin, der Frage nachzugehen, wie Führungsarbeit in Fraktionen zu gestalten sei, um zum „Gelingen von parlamentarischer Demokratie“ beizutragen. Er nennt die personelle Ressourcenausstattung bei Abgeordneten, dadurch würden deren Mitwirkungschancen in der Fraktion erhöht – des Weiteren eine satzungsmäßige Berichtspflicht des Fraktionspräsidiums. Zu diesem Bereich zählt das Instrument des Wiederwahlrhythmus, was zu einer Erhöhung der „formalisierte[n] politische[n] Verantwortlichkeit des Führungspersonals“ führen kann. Während dies noch relativ einfach zu reformieren wäre, ist es im sozialen Verhalten der Abgeordneten in Beziehung auf ihren Fraktionsvorsitzenden und umgekehrt schon erheblich schwieriger, die Dinge zu optimieren. ‚Optimieren‘ scheint mir überhaupt das falsche Wort zu sein. Im Parlament geht es um Politik, nicht um Betriebsstrukturen und Mitarbeiterführung. Es ist völlig ausgeschlossen, ein Politikerverhalten zu ‚optimieren‘, gar zu ‚normieren‘, was im Grunde auf dasselbe hinausläuft. Schon allein Schindlers Vorschlag, die fraktionsinternen Partizipationschancen der Abgeordneten im Verhältnis zu den Richtlinien der Fraktionsspitze stärker zu mobilisieren, in dem Bemühen, die Außenwirkung binnendifferenzierter Debatten ins Kalkül einzubeziehen, steht dem entgegen.

Als genauso schwer umsetzbar erscheint nach Schindlers Ansinnen, im Zustand größerer Gelassenheit in der Debattenkultur der Fraktion so etwas wie „tausend Blumen blühen zu lassen“. Dieser Vorschlag bewirkt meines Erachtens eher das Gegenteil von dem, was Schindler kurz zuvor noch mit ‚Optimierung‘ bezeichnet hat! Mir erscheint Schindlers Hinweis illusorisch.

In einem kurzgefassten Ausblick hat Schindler festzustellen geglaubt, die Bedeutung des Fraktionsvorsitzenden für die Qualität der parlamentarischen Demokratie gebührend auszuzeichnen. Die Leistungserwartungen an diesen würden eher größer als kleiner werden in versetzter Korrespondenz zu den immer komplexer werdenden gesellschaftlichen Herausforderungen. Wie soll das aber umsetzbar sein, wenn auf der einen Seite normative Ansprüche gestellt werden, auf der anderen Seite aber rasche Entscheidungen getroffen werden müssen, die nicht immer aus langatmigen Diskussionen, womöglich noch auf einem schlechten Sowohl-als-auch-Kompromiss beruhend, hervorgehen können? Der von Schindler beklagte populistische Ruf nach starken politischen Führungspersonen, die sagen, ‚wo's langgeht‘, macht die Sache parlamentarischer Willensbildungsprozesse nicht einfacher, wie auch Schindler zugesteht. Schließlich sind die Menschen weniger daran interessiert, wie eine politische Entscheidung zustande kommt, sondern was für sie dabei herauskommt.

Schindler präsentiert eine ‚gut gearbeitete‘, methodisch reflektierte Studie. Weiterführende Analysen, die er zurecht anmahnt, sollten auch auf den Aspekt gerichtet werden, die systemische Rolle des Fraktionsvorsitzenden im deutschen Parlament im Rahmen einer institutionenbezogenen Netzwerkanalyse auszuleuchten. Sie sollten sich nicht allein auf normative oder funktionale Aspekte beschränken, sondern auch die Gesamtkonfiguration des Gesetzgebungsverfahrens und des gouvernementalen Entscheidungsverhaltens im Auge behalten. Wichtig ist, dass dabei nicht nur die Statik dieses Beziehungsgeflechts, sondern auch das dynamische Element interessieren muss.

 

CC-BY-NC-SA
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Werkstattbericht

Die Kandidatenaufstellung zur Bundestagswahl 2017. Ein Blick in die Forschungspraxis des Projekts #BuKa2017

Im Vorwege der Bundestagswahl 2017 hat das Institut für Parlamentarismusforschung (IParl) die Kandidatenaufstellung zum Deutschen Bundestag systematisch untersucht. Ein Jahr lang wurde vor und hinter die Kulissen zahlreicher Nominierungsveranstaltungen aller aktuell im Bundestag vertretenen Parteien geblickt. Wie dieses hinsichtlich seines Umfangs beispiellose Forschungspro-jekt #BuKa2017 ablief (von der Wahl der Untersuchungsgegenstände bis zur Frage, wie mit den Daten umzugehen ist), zeigt der hier gewährte Einblick in die Forschungspraxis.

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