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/ 20.10.2016
Oliver Nachtwey

Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2016 (edition suhrkamp 2682); 264 S.; 18,- €; ISBN 978-3-518-12682-0
Steigende soziale Ungleichheit, Verbreitung prekärer Beschäftigungsformen, zunehmende Gentrifizierungen städtischer Wohngebiete, Erosion der Mittelschichten – diese Phänomene werden in öffentlichen, aber auch in fachwissenschaftlichen Debatten seit Längerem aufmerksam behandelt. Kontrovers bleibt dabei, ob sich in diesen Problemen nur (temporäre?) Nebenfolgen einer – eigentlich – erfolgreichen Modernisierung ausdrücken oder ob wir sie als tiefgreifende sozialstrukturelle Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts verstehen müssen, die die Legende von Chancengleichheit, Leistungsprinzip und sozialem Aufstieg dementieren. Hauptsächlich am Beispiel Deutschlands versucht Oliver Nachtwey, die einschlägigen „Entwicklungen der letzten Jahrzehnte historisch zu entfalten“ (10) und in der Diagnose der Abstiegsgesellschaft zusammenzufassen. Das ist – wie er selbst einräumt – ein riskantes Vorhaben, weil Zeitdiagnosen anders als akademisch etablierte Partialanalysen nicht durchgängig über empirische Absicherungen verfügen. Tatsächlich haben die zahlreichen Befunde der einschlägigen Literatur, die Nachtwey heranzieht, um Tendenzen eines zunehmenden Zerfalls von sozialen Sicherheiten zu belegen, vielfach den Status illustrativer Plausibilisierung. Wichtiger aber als die vermeintliche Evidenz der Befunde sind seine daran entwickelten Deutungen der Veränderung des Vergesellschaftungsmodus im – vereinfacht gesprochen – Wechsel vom Fordismus zum Postfordismus. Hier arbeitet er mit einer starken Kontrastierung zwischen der Blütezeit der sozialen Moderne einerseits (und ihren Errungenschaften: Sozialstaatsausbau, kontinuierliche Steigerung der Massenkaufkraft, Normalarbeitsverhältnis als dominante Beschäftigungsform, Expansion der Bildungspolitik) und andererseits dem ab Mitte der 1970er‑Jahre einsetzenden Postwachstumskapitalismus. Als Folge eines weitreichenden Abbaus des öffentlichen Sektors durch Privatisierungen, Deregulierungen und Reduktion von Sozialleistungen nimmt die Modernisierung mehr und mehr regressive Züge an. Nachtweys zentrale, von der Kritischen Theorie inspirierte These hebt die Verschränkung von durchaus emanzipatorischen Elementen – wie dem Abbau von Gruppendiskriminierungen – und steigender sozialer Ungleichheit hervor. Im Effekt entsteht eine neue Klassengesellschaft, eine „Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der nicht die Arbeit, sondern die integrative Arbeit ausgeht“ (121). Als Reaktion darauf finden wir nicht nur in Deutschland ein unübersichtliches Spektrum des Aufbegehrens, das von Protesten gegen Sozialabbau über postkonventionelle Bewegungen (zum Beispiel Occupy) bis zu rechtspopulistischen Gruppierungen reicht und noch keine klare Unterscheidung von demokratischem Widerspruch und antidemokratischen Ressentiments ermöglicht.
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Rubrizierung: 2.22.225.41 Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Frankfurt a. M.: 2016, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/40129-die-abstiegsgesellschaft_48035, veröffentlicht am 20.10.2016. Buch-Nr.: 48035 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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