Das Versprechen der liberalen Verfassungsstaaten
Die Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft fragt nach der guten, gerechten Ordnung eines Gemeinwesens. In der Praxis tun sich dennoch zahlreiche Interpretationen davon auf, was das Versprechen der liberalen Verfassungsstaaten für ihre Bürger*innen konkret bedeutet und was überhaupt erfüllbar ist. Hoffnungen, Ansprüche und Umfang der vom liberalen Versprechen umfassten staatlichen Leistungen haben sich zudem im Lauf der Zeit verändert. Zunächst einmal dienen politische Strukturen und Prozesse der Regelung von Interessenkonflikten und Wertvorstellungen innerhalb der Bevölkerungen, die andernfalls gewaltvoll, also gemäß des Rechts des Stärkeren, gelöst würden. Wie politische Macht, Prozesse und institutionelle Checks and Balances ausgestaltet sind, regeln die liberalen Verfassungen und die hierauf fußende Rechtsprechung daher traditionell – ob in repräsentativen oder präsidentiellen Systemen – mit dem Ziel, politische Macht zum Schutz der
Bürger*innen zu begrenzen. Dies wirft unterschiedliche Fragen auf: Welche Funktionen übernimmt die Organisationseinheit „Staat“ zur Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit? Wenn Menschenrechte universell sind, ist es Gleichheit, jenseits von Staatsangehörigkeiten, auch? Und ist die liberale Demokratie global umsetzbar?
Die Politische Theorie untersucht hier zum Beispiel die Wechselwirkung von Recht und Politik in liberal-demokratischen Staaten ebenso wie die Funktionen der Verfassung als Schranke und Schutz individueller Rechte und kollektiver Machtausübung. Den Bürger*innen werrden dadurch vielfältige politische Handlungs- und Organisationsfähigkeiten ermöglicht – etwa durch aktives und passives Wahlrecht, Partei- oder Gewerkschaftsmitgliedschaften, Versammlungs- und Redefreiheit oder anderweitiges sozialpolitisches Engagement. Staatliches Gewaltmonopol, Diskriminierungsverbot und Rechtstaatlichkeit zur Wahrung und Verteidigung der eigenen Positionen sind daher grundlegend im liberalen Versprechen von Staaten, in denen sich auch die Gewalten gegenseitig einhegen, enthalten. Viele Verfassungen in liberalen Demokratien setzen dem Willen der regierenden Mehrheit sogar dort Schranken, wo er den Minderheiten schadet.
Zugleich ist immer auch ein Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit der Bürger*innen im Verhältnis zum Staat und untereinander vorhanden. Unter welchen Umständen ist Ungleichheit dann doch gerechtfertigt? So unterscheiden sich liberale Demokratien oft darin, welchem der beiden Werte im jeweiligen sozial-historischen Kontext der Vorzug eingeräumt wird. Drastische soziale Ungleichheit kann politische Gemeinschaften funktional gefährden, indem zum Beispiel die wirtschaftliche Entwicklung oder gar der innere und äußere Frieden beeinträchtigt ist. Liberale Gemeinwesen bemühen sich daher, soziale Ungleichheit auf einem von allen Mitgliedern akzeptierbaren Level zu halten. Traditionell vertrauen liberale Demokratien hier auf Wirtschaftswachstum und dem damit verbundenen Versprechen, dass es der nächsten Generation besser ergehen kann.
So ist Deutschland nach Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz ein Sozialstaat. Das Sozialstaatsprinzip steht in Konkurrenz zum rechtsstaatlichen Freiheitsrecht des Einzelnen, und Umverteilungen erfolgen daher allenfalls zur Sicherstellung der tatsächlichen Freiheit aller. Während skandinavische Staaten ihren Bürger*innen größere Umverteilung zumuten, wird diese in den USA generell abgelehnt und amerikanische Autoren wie beispielsweise Francis Fukuyama bewerten solche Interventionen des Sozialstaats bereits als zu großzügig. Zusätzlich zu all dem sehen sich liberale Verfassungsstaaten gegenwärtig mit der Aufgabe konfrontiert, auf die drängenden Probleme unserer Zeit mit einem aktualisierten und gesellschaftlich tragfähigen Konsens in Fragen der Freiheit und Gleichheit zu antworten. Zu diesen Problemen gehören der drohende globale ökologische Kollaps und fundamentale technologische Neuerungen.
Zudem können die Bürger*innen nur dort sicher und nach gemeinsam vereinbarten, verbindlichen Regeln leben, wo sie die eigenen Rechte und Potenziale unversehrt und ohne Bedrohung von Krieg, Gewalt und Todesangst entfalten können. So bekräftigt das Grundgesetz in der Präambel den Willen des deutschen Volkes, „dem Frieden der Welt zu dienen“. Artikel 26 Abs. 1 Grundgesetz stellt weiter klar: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges, sind verfassungswidrig.“ Dies berührt einen anderen zentralen Aspekt des liberalen Versprechens: „Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“, so wird Bundeskanzler Willy Brandt zitiert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der die europäische Friedensordnung zerstört, oder das zunehmend aggressive Verhalten Chinas zeigen einmal mehr, wie bedeutsam und verletzlich dieses liberale Versprechen ist.
Freiheit, Gleichheit und Frieden, sowohl im (Verfassungs-)Recht als auch in der politischen Praxis, sind nur in Demokratien liberaler Prägung zu haben. Demokratische Errungenschaften wie funktionierende Checks and Balances, Selbstbestimmungsrechte, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie Unversehrtheit stellen immer noch liberale Versprechen mit Ausstrahlungskraft dar. Es gilt, diese kollektive Abmachung angesichts zahlreicher Herausforderungen und Problemlagen in bestehenden liberalen Systemen stets aufs Neue einzulösen und abzusichern.
Das Versprechen der liberalen Verfassungsstaaten
Forschungseinrichtungen und Think Tanks
Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS)
Das SCRIPTS hakt nach, was das Versprechen liberaler Ordnungen heute ausmacht und welche Probleme und Konflikte damit in Krisen einhergehen.
Zentrum Liberale Moderne (LibMod)
Das LibMod veröffentlicht Beiträge und Kommentare zu soziopolitischen und internationalen Themen mit Fokus auf der Erneuerung der liberalen Demokratie.
Weiterführende Links
Theorieblog – Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte
Hier diskutiert die deutschsprachige Community aus den Bereichen politische Theorie, politische Philosophie und Ideengeschichte über allerlei Input aus Forschung und aktueller Tagespolitik.
Verfassungsblog on matters constitutional
Ein Debattenforum mit Beiträgen zu aktuellen Themen, Ereignissen und Entwicklungen aus Verfassungsrecht und Politik im bundes- und europarechtlichen Kontext.