Grégoire Chamayou: Die unregierbare Gesellschaft: Eine Genealogie des autoritären Liberalismus
Die 1970er-Jahre gelten als Epoche der anti-autoritären Revolte und des Aufbegehrens. Ausgehend von den in dieser Zeit geführten Debatten über die vermeintliche Unregierbarkeit wohlfahrtsstaatlicher Demokratien porträtiert der französische Philosoph Grégoire Chamayou die 1970er als Brutstätte unserer Gegenwart und eines autoritären Liberalismus. Eine besondere Stärke des Buches liegt für unseren Rezensenten Thomas Mirbach in der „überzeugenden Präsentation des neoliberalen Geistes“, der in dieser Zeit das Licht der Welt erblickte.
Eine Rezension von Thomas Mirbach
Zum Credo der nicht nur in den Vereinigten Staaten anzutreffenden Marktgläubigkeit gehören Behauptungen wie: Alle Transaktionen auf dem Markt erfolgten freiwillig und staatliche Vorgaben seien tendenziell freiheitsgefährdend, nicht aber unregulierte Märkte. Dem hält Elizabeth Anderson in ihren 2015 gehaltenen Tanner Lectures on Human Values entgegen, dass die übergroße Mehrheit der Arbeitenden einer privaten autoritären Regierung unterworfen sei und in einem „Zustand republikanischer Unfreiheit“ (Anderson 2019, S. 115) arbeite. Diese Diskrepanz zwischen Legende und Realität werde von einem symbiotischen Verhältnis zwischen Libertarismus und Autoritarismus verdeckt, „das unsere politischen Diskurse bis zum heutigen Tag wie Mehltau überzieht“ (78) und wesentlich dazu beiträgt, dass wir nicht darüber reden.
Kritik der Privatregierungen: Absicht und Vorgehen
An diesen Verdeckungen setzt der französische Philosoph Grégoire Chamayou mit seiner Genealogie des autoritären Liberalismus an. Wie Anderson konzentriert er sich auf Großunternehmen und entwirft, ausgehend von den Anfang der 1970er Jahre geführten Debatten über die vermeintliche Unregierbarkeit wohlfahrtsstaatlicher Demokratien, ein Panorama der variierenden Legitimationslegenden zur Verteidigung wirtschaftlicher „Privatregierungen“, sprich privater Unternehmen. Die – von heute aus gesehen – eher schlichten Annahmen des Unregierbarkeitstheorems, die in wachsenden Begehrlichkeiten der Wähler*innen die zentrale Ursache einer Regierbarkeitskrise sahen (Hennis u.a. 1977; vgl. Offe 1979), markieren für Chamayou den Beginn der Entwicklung des hybriden Konzepts des Neoliberalismus.
Konzeptionell unterscheidet er in Fragen der Regierbarkeit zwar, wie es auch Ansätze der Policy-Forschung nahelegen würden, zwischen den komplementären Aspekten der Steuerungsfähigkeit (regierender Akteure) einerseits und andererseits der Steuerbarkeit (der Regierten, der Gesellschaft) (8 f.). Er wählt aber für seine Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus die Perspektive einer „’Geschichte von oben’, geschrieben aus der Sicht der herrschenden Klassen“ (10). Dabei geht es ihm nicht um den Neoliberalismus als Doktrin und er beabsichtigt „keine neue Ideengeschichte des Neoliberalismus“ (11) vorzulegen. Die Einheit seines Gegenstandes ergäbe sich vielmehr – so betont der Autor – aus spezifischen Situationen, in denen die herrschenden Klassen in Reaktion auf vermeintliche oder faktische Bedrohungen ihrer Positionen nach neuen Regierungstechniken – Legitimationsdiskursen, Theorieprogrammen, Praxisideen – suchen (11).
In der von ihm beabsichtigten „kritischen Unternehmensphilosophie“ (12) verwendet der Autor sehr heterogenes Material vorwiegend englischsprachiger Quellen aus dem US-amerikanischen Kontext, wobei er „’vornehme’ mit ‚vulgären’ Quellen“ mischt (14) und je nach Thema akademische Beiträge oder Stellungnahmen von Unternehmen, Lobbygruppen und Verbänden heranzieht. In methodischer Hinsicht – so versteht Chamayou seine Arbeit – entsteht eine „Montage von Zitaten“, deren Aussagekraft auf ihrem Status als „charakteristische Äußerungen der verschiedenen Positionen“ beruht (15). Seine Collage neokonservativer und neoliberaler Verteidigungen vermeintlicher Marktrationalitäten und unternehmerischer Freiheiten ist im Haupttext elegant und eingängig formuliert; die zahlreichen Endnoten bieten zudem eine Vielzahl weiterer Belege.
Chamayou ordnet die Fülle der von ihm verwendeten Quellen durch Unterscheidung von sechs Herausforderungen, die ihm zufolge für Großunternehmen seit den 1970er Jahren wesentliche Bedrohungen ihrer Handlungs- und Kontrollfähigkeiten darstellten und bis heute darstellen. An ihnen seien „Zentralkategorien des herrschenden ökonomischen Denkens“ ablesbar, die heute noch florierten (12). Chamayou diskutiert diese Kategorien nicht in strikter historischer Abfolge, für ihn stehen vielmehr – hier schlagwortartig zusammengefasst – technologische Aspekte der gewählten Abwehrstrategien im Vordergrund.
Herausforderungen und Abwehrkämpfe „aus der Sicht der herrschenden Klassen“
Da Phasen von Vollbeschäftigung – wie sie in den Vereinigten Staaten bis Anfang der 1970er Jahre gegeben waren – die Disziplin der Arbeiterschaft in Gestalt von steigenden Lohnforderungen untergruben, unterstützten Unternehmen erstens wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen, die soziale Unsicherheit erhöhten. Konkret betraf das die Abkehr von einer keynesianischen Vollbeschäftigungspolitik, den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und Einschränkungen gewerkschaftlichen Einflusses (19 ff.).
Zweitens ließen Debatten über das Verhältnis von Aktionärs- und Managermacht kurzzeitig das Bild eines „Kapitalismus ohne Kapitalisten“ (66) entstehen, weil sich Entscheidungen über den Produktionsprozess mehr und mehr in das moderne bürokratische Management verlagert hätten. Die strategische Antwort des Neoliberalismus auf Bestreben, unter dem Label „Governance“ gegebenenfalls auch wirtschaftsdemokratische Ansätze zu verfolgen, bestand in der Entwicklung der Programmtheorie des Shareholder-Values (90 ff.). Sie besagt – kurz gefasst –, dass die Disziplinierung der Manager über den Börsenkurs zu erfolgen habe, der, gleichsam als Kontrolle zweiter Ordnung, Sanktionen wie etwa feindliche Übernahmen über den Marktmechanismus vollziehe.
Drittens bildeten die neu entstandenen Protestbewegungen, die – jenseits der auf das klassische Lohnarbeitsverhältnis bezogenen Konflikte – von Großunternehmen die Wahrnehmung von Sozialverantwortung verlangten, eine gänzlich neue Herausforderung. Zur Abwehr dieser Politisierungsbestrebungen entwickelte die Neoklassik einerseits ein begriffliches Konstrukt, das Firmen lediglich als Nexus von Vertragsbeziehungen ausgab und sie auf diese Weise reprivatisierte (133 ff.). Andererseits wurde versucht, Aktionäre als Investoren darzustellen, die im Namen wirtschaftlicher Effizienz für ihre Risikobereitschaft belohnt werden müssten.
Während der 1980er-Jahre verschärften sich viertens insbesondere mit den ersten Boykottaktionen gegen multinationale Konzerne die Legitimationsprobleme von „Privatregierungen“. Zur Einhegung der durchaus öffentlichkeitswirksamen Kritiken von Aktivistengruppen griffen neoliberale Managementtheorien auf eine spezifische Auslegung des Stakeholder-Modells zurück. Es wurde als „amphibisches Konzept“ gehandhabt, das zwischen legitimen (ungefährlichen) und illegitimen (kritischen) Akteuren unterschied, so Chamayou (182 ff.). Die Stakeholder-Theorie enthielt eine Technologie, die dem Management „zugleich das Vokabular eines ethischen Diskurses und die operativen Kategorien eines strategischen Umgangs mit Herausforderern“ lieferte (197).
Fünftens habe die Internationalisierung des Handels und zunehmende Transnationalisierung der Produktion Firmen vor die Herausforderung gestellt, mit staatlichen Regulierungen umzugehen, die wenigstens einen Teil der Sozial- und Umweltkosten privater Produktion zu reinternalisieren suchten (218 f.). Zur Abwehr derartiger – letztlich redistributiver – politischer Interventionen drängten multinationale Konzerne auf einen taktischen Umgang mit Regulierungen: Verbindliche Regeln zum Schutz von Unternehmensrechten und weiche Verfahren zur Regulierung von Sozialrechten (213).
Sechstens hätten Neokonservative, um es neutral zu formulieren, das Problem ökonomischer Disparitäten schon in den 1970er Jahren als Krise demokratischer Praxis und Verfahren umgedeutet und dementsprechend für Varianten beschränkter Demokratie votiert (307 ff.) Daran knüpfe der Neoliberalismus in einer autoritären Spielart an, die nun jedoch nicht als Gesellschaftsentwurf präsentiert wird. Der Neoliberalismus vertraue vielmehr auf ein Ensemble von Mikropolitiken, die nach und nach Regierungsfunktionen auf den Privatsektor übertragen und damit die Umstände, unter denen individuelle Entscheidungen getroffen werden, so verändern, „dass die Menschen unmittelbar gegen ihre eigenen Interessen handeln“ (337). Perspektivisch führe neoliberale Mikropolitik – ließe man sie weiter gewähren – zu einer gesellschaftlichen Ordnung, „die die meisten Leute mit Sicherheit nicht gewählt hätten, wenn sie ihnen im Ganzen präsentiert worden wäre“ (327).
Fazit: Wie der Geist des Neoliberalismus erscheint
Gewiss ist der Neoliberalismus bereits Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Chamayou fügt dem Thema in analytischer Hinsicht keinen wesentlich neuen Aspekt hinzu. Zumal das Buch auf die Frage, was sich seit den 1970er Jahren in der Diskussion von (Un-)Regierbarkeit gesellschaftsstrukturell verändert hat, nur kursorisch eingeht. Die Stärke seiner Darstellung liegt indes in der überzeugenden Präsentation des neoliberalen Geistes, der sich – obschon in vielerlei Hinsicht ein hybrides und eklektisches Produkt – aufgrund seiner gezielten Entpolitisierung von Verteilungsfragen als Krieg gegen Gesellschaft beschreiben lässt (vgl. Kronauer 2024). Unregierbar nämlich ist für den Neoliberalismus eine Gesellschaft, die sich mittels der Aktivitäten von sozialen und ökologischen Bewegungen dem vollständigen Zugriff der Kapitalverwertung zu entziehen sucht.
Literatur
- Anderson, Elizabeth (2019): Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden), Berlin: Suhrkamp.
- Hennis, Wilhelm; Kielmansegg, Peter Graf; Matz, Ulrich (Hg.) (1977): Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung. Bd.1, Stuttgart: Klett.
- Kronauer, Martin (2024): Zusammenhalt in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft? In: Berthold Vogel, Harald Wolf (Hg.): Arbeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Konzepte, Themen, Analysen. Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Frankfurt/New York: Campus Verlag, S. 49 – 68.
- Offe, Claus (1979): 'Unregierbarkeit'. Zur Renaissance konservativer Krisentheorien, In: Jürgen Habermas (Hg.): Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit'. Bd. 1., Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Demokratie und Frieden