Arjun Appadurai, Neta Alexander: Versagen. Scheitern im Neoliberalismus
Arjun Appadurai und Neta Alexander versuchen eine Kritik der neoliberalen Individualisierung ökonomischen Scheiterns im Begriff des „Versagens“ auf den Punkt zu bringen und im Kontext der neuesten Entwicklungen in der digitalisierten Wirtschaftswelt zu analysieren – von der Wall Street bis zum Silicon Valley. Unser Rezensent Thomas Mirbach ist von ihrer Diagnose nicht vollends überzeugt, spricht den Autor*innen aber zu, mit der „Veralltäglichung des verdeckten und systemimmanenten Versagens“ ein zentrales Problem identifiziert zu haben.
Im Bereich der Managementliteratur scheint weithin eine Semantik der Selbstoptimierung zu gelten, die – durch Verquickung von Sozialtechnik und moralischem Appell – Erfolge als Ergebnis gelingender Eigenmotivierung und situationsangemessener Strategiewahl ausgibt (Bröckling 2017). Von dieser individualisierenden Sicht, die Erfolg (und das Komplementärereignis Versagen) als Eigenschaften menschlichen Handelns behauptet, sind Arjun Appadurai (Professor für Medien, Kultur und Kommunikation an der New York University) und Neta Alexander (Assistenzprofessorin für Film und Medien an der Colgate University, New York.) in ihrer Studie über das Scheitern im Neoliberalismus weit entfernt. Ähnlich wie die jüngere Soziologie der Bewertung (Meier/Peetz/Waibel 2016) gehen Appadurai und Alexander davon aus, dass die Zuschreibung von Versagen einen Beurteilungsprozess voraussetzt, der von Akteuren, Technologien und Macht getragen wird. Dabei verfolgen sie eine feldspezifische Intention – bezogen auf die beiden Kulturen der nordamerikanischen Finanz- („Wall Street“) und Technologiebranche („Silicon Valley“) wollen sie das „Versagen in unserer digitalisierten Welt“ untersuchen (10). Diesem Ansatz liegt eine dezidiert politische Prämisse zugrunde: Die Auseinandersetzung mit dem Regime des Versagens soll einen neuen Zugang „zu einer immanenten Kritik unserer zunehmenden Abhängigkeit von digitalen Netzwerken und mobilen Technologien“ eröffnen (10).
Appadurai und Alexander entwerfen eingangs ein Konzept des Versagens, das die „symbiotische Beziehung zwischen Wall Street und Silicon Valley“ als wesentliches Merkmal des modernen digitalen Kapitalismus verdeutlichen soll (18). Beide Kulturen, so die These, arbeiten mit Versprechen – uneingeschränkter und unbegrenzter Zugang zu Informationen im Fall des Silicon Valley, steigender Wohlstand im Fall der Wallstreet – deren Einlösung jedoch aus Sicht von Nutzerinnen und Nutzern ebenso wie aus Sicht der Kundinnen und Kunden (sofern sie nicht zu den Investoren und Banken gehören) systematisch aufgeschoben und letztlich enttäuscht werde (47). Zu den typischen Erscheinungsformen im Bereich der Ökonomie zählen Appadurai und Alexander, dass die Schaffung von Wert zunehmend durch spekulative finanzielle Interessen, kurzfristiges Profitstreben und den schnellen Verkauf potentiell profitabler Unternehmen gesucht werde (13 f.). Im Bereich der Informationstechnologien beobachten sie eine Tendenz der geplanten Obsoleszenz in Form der schon in der Herstellung angelegten Produktveralterung, die zu regelmäßigen Upgrades und Ersatzbeschaffungen nötige und Möglichkeiten der Reparatur gezielt behindere (16). Die in den Kulturen von Wall Street und Silicon Valley herrschende Praxis des permanent aufgeschobenen Versprechens ermögliche, das dem zugrundeliegende kollektive Versagen wirkungsvoll zu verleugnen. In Abwandlung der bekannten Definition Gregory Batesons von „Information“ (als „Unterschied, der einen Unterschied macht“) bezeichnen Appadurai und Alexander diese Praxis als „habituelles Versagen“: als Versagen, das keinen Unterschied macht und folgenlos bleibe (17). Zur Triebkraft des digitalen Kapitalismus werde das habituelle Versagen, weil es das Vergessen des Versagens begünstige und damit seine beständige Wiederholung erlaube (23). In vier Kapiteln – drei behandeln die Informationstechnologie, eines die Finanzwirtschaft – versuchen Appadurai und Alexander, das Konzept des habituellen Versagens empirisch zu unterfüttern. Vor allem mit Blick auf die Kultur des Silicon Valley gelingen ihnen anregende Analysen zur technologisch erzeugten Intransparenz und zur Vermarktung von Gesellschaftsbezügen im Rahmen der sogenannten Gig Economy: Bei dieser betreiben Online-Plattformen auf Ratings beruhende Märkte und bedienen sich dabei App-interner Bezahlsysteme – der Arbeitsmarkt wird so über individualisierte Einzelaufträge („Gigs“) anstelle von Anstellungsverhältnissen organisiert.
Im Feld der Informationstechnologie – die wesentlich als Prozess und nicht als Objekt zu verstehen sei – nehme das habituelle Versagen nahezu Warencharakter an. Alltägliche Phänomene wie begrenzte Akkulebensdauer, digitale Verzögerungen oder eingefrorene Bildschirme seien eine wirkungsvolle Stütze für das „Geschäftsmodell des Upgradens und der geplanten Obsoleszenz“ und schaffe einen Markt, der ständig nach neuen Modellen verlange (30 f.). Typisch für derartige Ereignisse sei deren Intransparenz, die in der Regel den Nutzerinnen und Nutzern ein Lernen verwehre. Aufgrund zunehmender Komplexität von Netzwerken und algorithmischen Systemen blieben Logik und Funktionsweise von Programmen und Geräten als Black Box „hinter dem Rauchvorhang geistigen Eigentums und spezialisierten Wissens“ verborgen (35). Symptomatisch für diese Prozesse seien Spaltungen des Arbeitsmarktes: Einerseits liege die Konstruktion der elektronischen Geräte zumeist in Händen hochbezahlter Fachleute in westlichen Ländern und Küstenstädten Nordamerikas, während der Zusammenbau in Länder des globalen Südens ausgelagert sei. Andererseits habe sich, hauptsächlich von Arbeitskräften des globalen Südens getragen, eine wachsende Branche von Callcentern herausgebildet, die Nutzerinnen und Nutzer, zumeist im Westen ansässig, bei dem Versagen der Computersysteme unterstützen sollten (35).
An der Gig Economy heben Appadurai und Alexander mit dem „Scheitern, stabile, dauerhafte soziale Strukturen aufzubauen“, einen weiteren Aspekt des Versagens hervor (54 f.). Als Beispiel beziehen sie sich auf das Unternehmen Uber, das plattformvermittelte Fahrdienstleistungen anbietet. Charakteristisch sei hier der Einsatz mobiler Apps, mit denen eine „endlose Kommunikationsschleife zwischen Endnutzern und Produktdesignern“ etabliert werde (61). Die auf Basis permanenter Quantifizierung erfolgende Einbindung von Nutzerinnen und Nutzern als Testpersonen und Quelle von Feedback in den Leistungsprozess drohe personengebundene Interaktionen zu ersetzen (62 f.). Im Effekt erzeuge die App-Ökonomie die Illusion unbegrenzter und personalisierter Wahlmöglichkeiten, die paradoxerweise – da die Kontrolle des Systems bei dem Unternehmen liege –die Wahlmöglichkeiten faktisch einenge und Menschen voneinander abkoppele (64) (vgl. Dolata/Schrape 2022). An Beispielen wie diesen verschärfen Appadurai und Alexander ihre generelle Kritik der Konnektivität als neuer Ideologie der Gesellschaftlichkeit. Die neuen Medien würden nicht allein ältere Formen des Verbundenseins ablösen, die auf räumlicher und sozialer Zugehörigkeit, auf Nähe und persönlichen Eigenarten beruhen. In der Tendenz führen sie – so die explizite These – zu einer Entgrenzung, bei der im Namen unbegrenzter Konnektivität Unterschiede zwischen Menschen, Maschinen und automatisierten Bots verwischten (65 ff.).
Verglichen mit diesen Detailanalysen bleibt der Blick auf die Kultur der Wallstreet eher abstrakt. Ausgehend von der Annahme, dass Derivate die zentrale technische Innovation des heutigen Finanzwesens darstellen, sehen Appadurai und Alexander eine Analogie zur Kultur des Silicon Valley, weil auch der Derivatemarkt strukturell auf nicht eingelösten Versprechen beruhe (104 f.). Der Handel mit Derivaten operiere wie ein Nullsummenspiel, bei dem Risiken auf Risiken aufgenommen werden, die – abgelöst von der Realwirtschaft – dazu dienen, einen Vermögenstransfer „vom uninformierten, arglosen Investor, Sparer oder Rentner zu den informierten Marktinsidern“ zu ermöglichen (119). Die dabei anfallende Vervielfältigung von Schulden sei zwingend ungleich verteilt: Während Schulden lokal und damit verbindlich für die Vielen blieben, operierten Schuldenmärkte global und schienen ab einer bestimmten Größenordnung immun für ein Scheitern (116).
Fazit
Auch wenn die von Appadurai und Alexander dargestellten funktionalen Gemeinsamkeiten von Informations- und Finanzwirtschaft nicht vollständig zu überzeugen vermögen, so trifft doch ihre Deutung der Veralltäglichung des verdeckten und systemimmanenten Versagens in beiden Bereichen ein relevantes Problem. Wie bei den Innovationen im Mediensektor ist auch in der Finanzwirtschaft die Informationsasymmetrie zwischen den Vielen und den Wenigen Voraussetzung des profitablen Arbeitens der Systeme – und unserer Abhängigkeit von ihnen. Im Rahmen einer weithin verbreiteten konsumistischen On-Demand-Kultur wird diese Abhängigkeit noch durch die Illusion unendlicher Optionen verstärkt. Deshalb sollte – so lautet eine der Kernbotschaften des Buches – ein Denken gefördert werden, „das sich dem Horizont unbeschränkter Wahlmöglichkeiten widersetzt und eine Kultur des Reparierens, des langsamen Wachstums und der Schuldenvermeidung unterstützt“ (129).
Literatur
- Appadurai, Arjun /Neta Alexander (2023): Versagen. Scheitern im Neoliberalismus. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach.
- Bröckling, Ulrich (2017): Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Dolata, Ulrich / Jan-Felix Schrape (2022): Plattform-Architekturen. Strukturation und Koordination von Plattformunternehmen im Internet. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 74 Jg., Sonderband 1, S. 11–34.
- Meier, Frank / Thorsten Peetz / Désirée Waibel (2016): Bewertungskonstellationen. Theoretische Überlegungen zur Soziologie der Bewertung. In: Berliner Journal für Soziologie 26. Jg., Heft 3-4, S. 307-328.
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