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Rezension / 06.12.2024

Lucas von Ramin, Karsten Schubert, Vincent Gengnagel, Georg Spoo (Hrsg.): Transformationen des Politischen. Radikaldemokratische Theorien für die 2020er Jahre

Bielefeld, transcript 2023

Radikaldemokratische Ansätze sind jüngst sowohl mit Blick auf ihre Normativität als auch ihren Umgang mit Institutionen in die Kritik geraten. Der vorliegende Sammelband nimmt diese Vorwürfe zum Anlass, nach der Bedeutung dieser Theorien für das laufende Jahrzehnt zu suchen. Dabei verdeutlicht er laut unserer Rezensentin Katharina Liesenberg vor allem eins: Statt einheitlicher Antworten sind mehr Ausdifferenzierungen zu erwarten. Zwar enthalte der Band interessante Ideen, zeige aber ebenso eindrücklich, dass die Radikaldemokratie ein Binnendiskurs bleiben wird.

Eine Rezension von Katharina Liesenberg

„Tiefgreifende (…) Transformationsprozesse“ im Bereich des Sozialen, der Kultur und der Politik attestieren die Herausgeber (sic!) den heutigen Zeiten. Ein Blick in die Schlagzeilen eines beliebigen Tages der vergangenen Jahre verifiziert diese These: Neben dem Klimawandel kämpfen (westliche) Gesellschaften mit den Nachwirkungen der Corona-Pandemie, mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine, dem Konflikt in Nahost und deren Auswirkungen auf hiesige Politik. Neben diesen geopolitischen Verwerfungen führt jahrelanger Investitionsstau in Deutschland zudem zu einer Wohnungs-, Bildungs- und Pflegekrise. Ob Rechtsruck, Zunahme an Verschwörungsideologien und autoritäre Tendenzen dabei Ursache oder Symptom sind, darüber wird trefflich gestritten. So oder so zeigen all diese Phänomene: Nicht nur das Was der Politik, auch das Wie und Warum der Demokratie wird in westlichen Gesellschaften zunehmend in Frage gestellt. Hier setzt der vorliegende Sammelband an: Die beschriebenen Transformationen ließen sich laut den Herausgebern mit radikaldemokratischen Theorien des Politischen analysieren, weil mit ihnen die Infragestellung der liberalen Ordnung besonders gut gelinge (8). Das Ende der liberalen Form von Demokratie wird aber längst nicht nur von Radikaldemokrat*innen attestiert.

Veith Selk legte etwa mit Demokratiedämmerung (Selk 2023) nicht nur eine Kritik an der real existierenden Demokratie, sondern auch an der zeitgenössischen Demokratietheorie vor.[1] Demokratische Regime befänden sich in einem Zustand der Devolution und ihre zunehmende Ausdifferenzierung verunmögliche eine weitere Demokratisierung (ebd.: 191). Damit attestiert Selk eine Entplausibilisierung von Demokratie und Demokratietheorie. Für die Radikaldemokratie diagnostiziert er: Zwar enthielten diese Theorien einen „starken Demokratisierungspathos“ (ebd.: 189), ihr Anspruch einer „Neuorientierung linker Politik“ (ebd.: 190) sei aber gescheitert. Vermag der Sammelband also etwas zu jener Neuorientierung beizutragen? Was lehren uns die Beiträge des Sammelbands und welchen Beitrag leisten sie zu den Transformationen des Politischen? Finden sich gar Antworten auf die eingangs beschriebenen Krisen?

Heterogene Ansätze und ein gemeinsamer Anspruch

Das Buch ist Ergebnis zweier Tagungen in Freiburg und Dresden in den Jahren 2022 und 2023, die die „Doppeldiagnose von Potential und Transformationsbedarf“ (8) der Radikaldemokratie zum Thema hatten. Die Entwicklung radikaldemokratischer Theorien stehe unter der Herausforderung „den Selbstanspruch einer besonders reflexiven Grundhaltung“[2] (8) aufrechtzuerhalten. Hier ergibt sich die doppelte Hürde eines solchen Sammelbands: die unterschiedlichen Beiträge decken ein sehr breites Spektrum radikaldemokratischer Theoriebildung ab, sodass ein roter Faden schwer auszumachen ist. Diese Heterogenität wird zudem durch eine gewisse Uneindeutigkeit aufgrund des reflexiven Anspruchs verstärkt. Um der Heterogenität habhaft zu werden, leiten die Herausgeber den Sammelband mit einer Bestandsaufnahme ein: Kontingenz, Hegemonie und die politische Differenz markieren die Kernmerkmale der Theorieschule. Radikale Demokratietheorie liege „quer zu etablierten gesellschaftlichen und politischen, [sowie] auch zu wissenschaftlichen Institutionen und Strukturen und ist damit zwangsläufig interdisziplinär und praxisoffen“ (13).

Anschließend weisen die Herausgeber auf methodische und inhaltliche Leerstellen zeitgenössischer Radikaldemokratie hin. Die Notwendigkeit methodischer Weiterentwicklung betreffe die Grundbegriffe der Theorie und umfasse epistemologische, ontologische und normative Problemdiagnosen (13). Der kritische Konstruktivismus und die Infragestellung rationalistischer Vernunftkonzepte ermögliche zwar die Kritik neoliberaler Politikvorstellungen, unklar sei aber, inwieweit es in Abgrenzung zu postfaktischen und antiliberalen Tendenzen der Formulierung einer „progressiven Vernunftkritik“ (14) bedürfe. Auch die ontologische Herausforderung ist groß: Es sei offen, „ob und wie die fundamentale Grundlosigkeit menschlichen Seins die Gestaltung und das Verständnis von Demokratie informieren“ (17) könne. Ob die normative Offenheit radikaldemokratischer Ansätze Chance oder Einschränkung ist, begleitet Theoretiker*innen seit jeher und steht auch hier wieder zur Debatte.

„Eine Schlagseite, die nicht recht zu den realpolitischen Herausforderungen passen will“

Die epistemischen Herausforderungen werden von Steffen Herrmann und Sergej Seitz diskutiert. Jennifer Brichzin und Oliver Marchart liefern Texte zu ontologischen Problemen und den normativen Fragen gehen Oliver Flügel-Martinsen und Franziska Martinsen sowie Sabrina Zucca-Soest und Sara Gebh in ihren Beiträgen nach. Der zweite Teil des Sammelbands behandelt inhaltliche Weiterentwicklungen. Es finden sich Beiträge zu drei Bereichen: Mit Ethik, Bildung und Subjektivierung befassen sich Hubertus Buchstein, Tobias Albrecht und Theresa Gerlach. Zum Themenfeld Institutionen, Repräsentation und Zivilgesellschaft gibt es Texte von Dagmar Comtesse und Tim Wihl. Die Auseinandersetzung mit Populismus, Identitätspolitik und ‚Cancel Culture‘ bildet mit einem Text von Karsten Schubert das dritte Themenfeld.[3] Ramin et al. benennen zudem noch zwei weitere relevante Themenfelder: Digitalisierung, Technisierung und Wissenschaftstheorie einerseits sowie Globalisierung, Migration und Postkolonialismus andererseits; zu diesen finden sich im Sammelband aber keine Beiträge.

Damit erhält insbesondere der inhaltliche Teil des Buchs eine Schlagseite, die nicht recht zu den realpolitischen Herausforderungen passen will: wenn es das Ziel ist – was die Definition der Themenfelder nahelegt – auf alle aktuellen Verwerfungen eine Antwort zu finden, klafft hier eine Lücke. Dies ist insbesondere deswegen enttäuschend, weil die Infragestellung der liberalen Ordnung nicht-demokratischer Akteure sich realpolitisch (derzeit) am Thema Globalisierung und Migration kristallisiert. Zudem wird so die ökonomische und klassenpolitische Dimension dieser Themen, mit der sich linke Theoretiker*innen dringend auseinandersetzen sollten, ebenfalls ausgespart. Es entsteht der Eindruck der willkürlichen Auseinandersetzung mit inhaltlichen Herausforderungen; für die 2020er-Jahre wappnet der Sammelband damit zumindest nicht vollumfänglich.

Wenn Kontingenz zur Beliebigkeit wird: Defizite radikaler Demokratietheorie in den 2020er-Jahren

Dennoch leisten einige Beiträge interessante Anstöße. Die Stärke des inhaltlichen Teils liegt bei jenen Stücken, die die Voraussetzungen radikaldemokratischer Theoriebildung reflektieren, also denen des ersten Themenbereichs. Buchstein, Albrecht und Gerlach gelingt es zu verdeutlichen, dass der Theorie-Anspruch einer reflexiven Grundhaltung sich auf Voraussetzungen beruft, die die Theorie aufgrund ihres gleichzeitigen Anspruchs auf Kontingenz eigentlich nicht einzulösen vermag. So verweist Buchstein darauf, dass das Verhältnis von Bürger*innenrechten, Bürger*innenqualifikationen und politischen Institutionen den Kern demokratietheoretischen Denkens bilden (190). Buchstein stellt fest, dass das Primat der Radikaldemokratie bei den Bürger*innen und ihren Kompetenzen liegt: „Politik wird als ein Nullsummenspiel der engagierten Bürger*innen auf der einen Seite gegen die bestehenden rechtlichen Regulierungen und politischen Institutionen auf der anderen Seite verstanden“ (191).[4]

Jedoch bleibe es lediglich bei Appellen an den „demokratischen Ethos“ (193) der Bürger*innen; die Bedingungen der Herausbildung eines solchen Ethos würden die Theoretiker*innen dagegen vernachlässigen. Buchstein diskutiert sodann einige radikaldemokratische Bürger*innenkompetenzen, ist aber bei deren Verwirklichung wenig optimistisch: „Die ‚Kontingenz der Kontingenzkompetenz‘ bietet der Radikalen Demokratietheorie eine Formel, mit der sie das Problem des Kompetenzerwerbsdefizits auf meta-theoretischer Ebene spielerisch leicht handhaben kann“ (206). Hier findet sich der fade Beigeschmack des ganzen Buches wieder: weil alles kontingent ist, ist Konkretion keine Notwendigkeit: alles kann, nichts muss.

Enttäuschte und aussichtsreiche Potenziale radikaler Demokratietheorie

Auch Albrecht sieht mit Blick auf das Ziel der Ausformulierung einer konkreten radikaldemokratischen Bildungsprogrammatik wenig Potenzial und zieht Parallelen zu den Problemen, die auch liberale Demokratietheorien in der Reproduktion ihrer Bestandsvoraussetzungen haben. Sein abschließender Appell, zumindest eine vergleichbare Debatte wie die liberalen Theoretiker*innen anzustoßen, verweist auf die Hoffnungslosigkeit einer lebensweltlichen Wendung radikaldemokratischer Theorie (234).[5]

Gerlachs Beitrag schließlich illustriert, wie ein besser ausbuchstabierter radikaldemokratischer Bürger*innenbegriff als Brücke zu Fragen von politischer Institution und Ordnung dienen könnte. Auch sie verweist auf verschiedene Kompetenzen und verknüpft die kritische Stoßrichtung der Subjektivierungsperspektive der Radikaldemokrat*innen mit dem stärker stabilitätspolitischen Bürger*innenbegriff. Kritisch wohlwollend versucht also Gerlach das Potenzial der Theorien zu schöpfen; alle drei Beiträge jedoch wirken am Ende eigentümlich resigniert: Es scheint, als verstellen sich Radikaldemokrat*innen mit dem notorischen Beharren auf dem Offenhalten der Demokratie selbst den Weg der Weiterentwicklung.

In Verteidigung der radikalen Demokratietheorie

Ähnlich aufschlussreiche Texte finden sich auch im ersten, methodischen Teil. Zunächst die zwei geradezu defensiven Texte der wohl prominentesten deutschsprachigen Radikaldemokrat*innen der vergangenen Jahre: Oliver Flügel-Martinsen und Franziska Martinsen sowie Oliver Marchart. Flügel-Martinsen/Martinsen versuchen ihren immerwährenden Ansatz der Theorie als offener Befragungspraxis zu verteidigen und begründen die Kritik daran als „Rezeptionsmissverständnis“ der Rancière‘schen Demokratiekonzeption (129). Oliver Marcharts Beitrag ist auch über die kleine Leser*innenschaft der Radikaldemokratie hinaus von besonderem Erkenntnisinteresse. Seine Unterscheidung zwischen Aktualität und Aktualismus und die damit einhergehende Grundfrage nach der Basisfunktion politischer Theorie kann auch für andere (Theorie-)Debatten erhellend sein. Denken in historischer Aktualität, wie es radikaldemokratische Theoretiker*innen pflegen, sei ein Denken, das „als strategisches Kräfteverhältnis“ (117) Verschiebungen in der hegemonialen Ordnung erkennt und daran anpasst. „Aktualitätsbewirtschaftung“ (ebd.) finde sich dagegen bei Statements von „Medienintellektuellen zu Tagesereignissen oder Modethemen“ (ebd.).

Zeitdiagnostische politische Theorie befinde sich also immer auf dem schmalen Grat zwischen diesen beiden Polen und tue gut daran, dies zu reflektieren. Diese Aufforderung lässt sich von der politischen Theorie auch auf die politische Bearbeitung von Herausforderungen der Gegenwart wie die Digitalisierung und Technisierung gesellschaftlichen Lebens übertragen. Politik krankt an jenem Zwang zum Aktualismus und Präsentismus, der jede Möglichkeit zur Reflexion verhindert und politisches Denken in langen Bahnen blockiert. Der Bereich des Politischen nimmt unter dem Zwang des Aktualismus dazu Züge des Hyperpolitischen an, wo Probleme zwar kurzzeitig politisieren, langfristige Organisierung und Lösung jedoch fehlt (Jäger 2023).

Die Vorzüge der Praxisorientierung

Erwähnenswert sind zudem noch die stärker praxis-orientierten Beiträge: Trotz der immer wieder aufgerufenen Praxisnähe und Praxisoffenheit der Radikaldemokratie stellen lediglich drei Autor*innen empirische Bezüge her. Steffen Herrmann gelingt es mit seiner radikaldemokratischen Phänomenologie und der Theorie epistemischer Ungerechtigkeit Miranda Frickers einen neuen Blick auf die Black Lives Matter Proteste zu werfen. Herrmann versteht diese Proteste als epistemische Ermächtigungspolitik und sieht epistemische Macht als eine „Quelle demokratischer Ungleichheit“ (51) und tritt damit in die Fußstapfen Rancières. Durch die Verbindung mit der Phänomenologie und Frickers Konzept epistemischer Ungerechtigkeit rückt er die sinnliche Komponente von Ungleichbehandlung in den Vordergrund und plädiert für ein Verständnis von Politischer Phänomenologie als „Werkzeug (…) der politischen Kritik“ (56).

Karsten Schubert diskutiert unter Bezugnahme auf Stellungnahmen des Netzwerk Wissenschaftsfreiheit den politischen Gehalt von Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit. Er entwickelt einen kritischen Begriff der Wissenschaftsfreiheit: Ziel dessen sei es, die „normative, sozialtheoretische und epistemische Basis“ (330) von Wissenschaftsfreiheit zu reflektieren. Dieser Text ist erhellend und nicht nur im Angesicht eines liberalen Pochens auf neutrale Wissenschaft von Bedeutung, sondern versucht zudem einen langfristigen Umgang mit Verschwörungsideologien oder Auftrags-Forschungsprojekten zu finden. Ein besonderer Gewinn (und gewichtiges Problem für die radikaldemokratische Theoriebildung) ist schließlich der Beitrag Jennifer Brichzins: Mit ihrer praxeologischen Wendung der politischen Differenz verdeutlicht sie, dass die traditionelle radikaldemokratische Unterscheidung zwischen Politik und Politischem den Praxistest schlicht nicht besteht. Am Beispiel rechtsextremer Bewegungen und Demonstrationen im Jahr 2018 in Chemnitz macht sie deutlich, dass Politisierung nicht genuin demokratisch und damit erst recht nicht radikaldemokratisch ist. Dagegen zeigt sie, dass man Politisierung kontextabhängig bewerten muss und setzt ihren Begriff der Radikaldemokratie nah an das Demokratieverständnis John Deweys, der ebenfalls für kontextsensible und engagierte Wissenschaften plädierte und für eine Demokratie als Lebensform warb (Dewey 1987).

Eine widersprüchliche Aneignung Rousseau’scher Volkssouveränität

Erhellend ist hier zudem die Ausgangsfrage des Beitrags von Dagmar Comtesse . Im Angesicht des Erstarkens autoritärer Tendenzen stünden Radikaldemokrat*innen vor einer strategischen Herausforderung: Ist es geboten, die liberale Ordnung zu stützen, um dem Rechtspopulismus und -extremismus Einhalt zu gebieten, obwohl zugleich klar ist, dass dieser auch genau aufgrund dieser liberalen Ordnung weiterwachsen wird? Gilt es mit Blick auf die rechtsextreme Gefahr ein System zu stabilisieren, das aus radikaldemokratischer Sicht abzulehnen ist? So instruktiv diese Fragen, so wenig befriedigend sind die Antworten.

Comtesse verweist auf das Konzept der Volkssouveränität und dessen Rousseau'sche Variante. Damit widerspricht sie aber zugleich dem radikaldemokratischen Prinzip der normativen Enthaltsamkeit und der Ablehnung letzter Gründe. Zudem, und das unterschlägt sie ganz, geht Rousseaus Konzept mit einer Zivilisationskritik einher, deren Entsprechung heute ein Rundumschlag gegen sämtliche Ausdrucksformen des modernen Kapitalismus wäre. Dies verweist auf ein Symptom, das das ganze Buch begleitet: Nicht ein Beitrag widmet sich klassenpolitischen Kämpfen im globalisierten Finanzkapitalismus, der Herausforderung einer solidarischen Identitäts- und Klassenpolitik oder schlicht den ökonomischen Ursachen des Scheiterns der liberalen Weltordnung. Doch wie, wenn nicht auch durch das Adressieren materieller Fragen, soll eine glaubwürdige radikaldemokratische Politik aussehen?

Fazit: Viele Leerstellen, aber relevante offene Fragen als Auftakt einer Debatte

Auch für eine glaubwürdige Demokratietheorie gilt: Sie hat die Bedingungen und Voraussetzungen zu reflektieren, auf denen sie ihre Annahmen baut. Eine Gegenhegemonie lässt sich nur bilden, wenn es politische Subjekte gibt, die willens sind, an einem solchen Projekt teilzunehmen. Und sie lässt sich nur halten, wenn die materiellen Bedingungen ihrer Existenz reflektiert werden. Für Gegenhegemonie mobilisieren, lässt sich daher nur, wenn die Anrufung der Praxis und die Offenheit zur Praxis mehr als hohle Worte ist, sondern auch eine Verpflichtung sind, Politik als gemeinsames Gestalten zu begreifen.

So ist festzuhalten, dass das Buch zwar einige erhellende Beiträge zur Weiterentwicklung radikaldemokratischer Ansätze für die 2020er-Jahre beinhaltet. Auf eindrückliche Weise führt es zugleich jedoch das Ausmaß an Leerstellen und offenen Fragen vor Augen, die die Theoretiker*innen entweder übersehen oder qua Theoriedesign schlicht nicht beantworten können. Zwar legen die Herausgeber zu Beginn einige verbindende Linien fest, jedoch korrespondieren die Beiträge in ihren Bezügen und Fragestellungen wenig bis gar nicht miteinander. Bis auf wenige Ausnahmen lesen sich die Beiträge disparat.[6] Radikaldemokratische Theorie kann alles sein, so scheint es, und läuft daher Gefahr, nichts zu sein.

Fragen, die aus radikaldemokratischer Sicht Dringlichkeit beanspruchen, aber im Sammelband gar nicht auftauchen, sind neben der fehlenden Kapitalismuskritik auch die Organisations- und Organisierungsfrage. Wie erwähnt weisen Buchstein, Albrecht und Gerlach zu Recht auf das Problem der Subjektivierung hin. Radikaldemokratische Akteur*innen und Ansätze zu ihrer Organisierung stellen sie jedoch ebenfalls nicht vor. Die Transformationen des Politischen verlangen also auch nach einer Transformation der Radikaldemokratie. Radikaldemokratische Theorien für die 2020er-Jahre bräuchten eine radikaldemokratische Praxis, die demokratische Subjektwerdung, Organisierung und Kapitalismuskritik ins Zentrum stellt, um Plausibilität zu bewahren. Der Sammelband bildet dazu einen Auftakt – aber vor allem einen Auftakt, der verdeutlicht, wie viele Fragen im Verlauf des restlichen Jahrzehnts noch zu stellen sind.


 Anmerkungen

[1] Selk schließt radikaldemokratische Theorien in diese Kritik ein. Nicht unerwähnt soll dabei jedoch bleiben, dass er dem Umfang und Reichtum radikaldemokratischer Theorien in seiner Analyse kaum gerecht wird. Die Reduktion von Radikaldemokratie auf die Theorien Mouffes greift zu kurz und erweckt den Eindruck einer strategischen Autor*innenauswahl.

[2] Diese lässt sich im doppelten Sinne verstehen: sowohl als Selbstreflexion als auch Reflexion der politischen Transformationen.

[3] Aufgrund des begrenzten Umfangs der vorliegenden Rezension und der Heterogenität der verschiedenen Beiträge gehe ich nicht auf alle Beiträge ein, sondern vertiefe meine Auseinandersetzung nur mit solchen, die aus Sicht der Autorin für den Anspruch des Buchs besonders interessant sind. Um die anderen Beiträge aber nicht gänzlich unerwähnt zulassen, erfolgte hier der Hinweis auf ihre ebenso spannenden Arbeiten.

[4] Ein Nullsummenspiel ist es, weil den Bürger*innen die vollumfängliche Kompetenz der Demokratisierung eingeräumt wird, ohne die Voraussetzungen dessen oder das Zusammenspiel mit Institutionen zu berücksichtigen. Da die Radikaldemokrat*innen hier also nicht besonders überzeugend sind, ist das Dreieck bei ihnen wohl eher ein Kreis – oder man muss von einem radikaldemokratischen Dreieck ausgehen, dass sich an den Punkten Kontingenz, Konflikt und politischer Differenz ausrichtet.

[5] Dies ist besonders frappierend, gibt es doch in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften durchaus lebhafte Debatten über radikaldemokratische Positionen und deren Operationalisierungsmöglichkeiten im Unterricht.

[6] Eine solche Kritik ließe sich vielen weiteren Sammelbänden unserer Disziplin anlasten, insbesondere solchen, die im Nachgang zu Tagungen entstehen. Sollen jedoch Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – die Transformationen des Politischen – gegeben werden, mutet ein solches Buchdesign schlicht zu dünn an.

Literatur

  • Dewey, John (1987): Democracy is Radical, in: Jo Ann Boydston (Hrsg.): The Later Works, 1925-1953, Vol. 11 (S. 296–299), Carbondale: Southern Illinois University Press.
  • Jäger, Anton (2023): Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen, Berlin: Suhrkamp.
  • Selk, Veith (2023): Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin: Suhrkamp.

DOI: 10.36206/REZ24.42
CC-BY-NC-SA
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