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Veranstaltungsbericht / 04.10.2023

Kongressbericht: Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit (27.-29.09.2023) - Donnerstag

An der der Universität Bremen fand unter dem Titel "Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit" zum ersten Mal ein internationaler Kongress der Theoriesektion der DVPW statt.

Vom 27. bis zum 29. September 2023 fand in Bremen unter dem Titel “Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit” ein Kongress der Sektion “Politische Theorie und Ideengeschichte” der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft statt. Neben zahlreichen Vortragenden und Besucher*innen aus dem In- und Ausland haben auch unsere Redakteure David Kirchner und Jan Meyer die Reise nach Bremen angetreten und berichten hier in zwei Teilen über die Kongresstage. In diesem Beitrag schildert Jan Meyer seine Eindrücke vom zweiten Tag.


Ein Konferenzbericht von Jan Meyer

Die Unsicherheit genießt einen sehr unterschiedlichen Ruf. Wird sie im Alltagsverstand, aber auch in der Politik und in Teilen der empirischen Sozialwissenschaften häufig negativ als Synonym zu ökonomischer Prekarität oder unerwünschtes Ergebnis von Verunsicherung verstanden, nimmt die Politische Theorie (und in ihr insbesondere die radikalen Demokratietheorie) auch den demokratischen Horizont von Unsicherheit in den Blick. Wenn sich politische Theoretiker*innen über Unsicherheit austauschen, verorten sie diese weder auf der Alltagsebene (Wann fährt nochmal mein Zug morgen?) noch auf der persönlichen Identitätsebene (Ich fühle mich durch Conchita Wurst in meiner Identität als Mann verunsichert) und auch nicht auf der ökonomischen Ebene (Wie soll ich nach dem Ende der Befristung meine Miete bezahlen?). Stattdessen betont die Politische Theorie, dass Unsicherheit, verstanden als eine grundlegende Ungewissheit über den künftigen Gang der Dinge, wichtiger Bestandteil jedes Nachdenkens über Politik sein muss. So grundsätzlich als Zukunftsoffenheit verstanden, überschreitet die Unsicherheit alle bekannten politischen Grenzziehungen: Schließlich haben weder Marxist*innen noch Libertäre, weder Autokrat*innen noch Demokrat*innen die berühmte Glaskugel, um in die Zukunft zu blicken. Und dennoch gibt es so etwas wie eine spezifisch demokratische Unsicherheit. Schließlich heißt Demokratie nichts anderes als das Versprechen, alles auch ganz anders machen zu können, wenn man denn möchte. Insofern ist das Nicht-Festgelegt-Sein der künftigen Politik das vielleicht wichtigste demokratische Credo. und es bleibt Aufgabe demokratischer Institutionen, die Offenheit zukünftiger Möglichkeiten zu erhalten.

Als eine der drei klassischen Teildisziplinen der Politikwissenschaft erfüllt die politische Theorie in erster Linie eine „Reflexionsfunktion“, und das nach Buchstein/Jörke (2007) auf insgesamt drei Ebenen: erstens auf der fachinternen Ebene in Bezug auf die theoretischen Grundlagen des gesamten Faches, zweitens in Form einer Reflexion dieser Grundlagen in Überzeugungen aus dem politischen Alltag sowie der politischen Praxis und drittens auf der Ebene zukünftiger politischer Handlungsoptionen. In Bezug auf das Kongressthema „Unsicherheit“ waren es vor diesem Hintergrund die beiden letzteren Reflexionsaufgaben, deren sich die Vortragenden angenommen haben: Unsicherheit, verstanden als eine grundlegende ontologische (Was ist?) und epistemologische (Was können wir wissen?) Unsicherheit gilt gewissermaßen als Grundkonstante oder, systemtheoretisch gesprochen, mit anderen Worten als Umwelt, in der jede Form von Politik zwangsläufig operieren muss.

Angesichts der zahlreichen Krisen der Gegenwart, insbesondere der drohenden Klimakatastrophe, sind Gesellschaften heute in ganz existenzieller Zuspitzung mit Fragen nach der Offenheit der Zukunft konfrontiert und so hat die Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) dem Thema Ungewissheit einen ganzen Kongress gewidmet. Im Kontrast zu den halbjährlich stattfindenden Sektionstagungen, die in einem kleineren Rahmen stattfanden, handelt es sich hier um den ersten großen Kongress mit einer Vielzahl an Panels zu Themen, die die Breite des Fachs abzubilden in der Lage sind. Dementsprechend war es uns nicht möglich, alle Panels zu besuchen und wir mussten eine Auswahl treffen. Diese kann zwar nicht den Anspruch erheben, den Kongress als Ganzen zu repräsentieren. Dennoch möchten wir hier einen Einblick geben, die wie das Thema „Unsicherheit“ von den Vertreter*innen und Vertretern der Politischen Theorie diskutiert wurde. Wir haben uns dabei auf zwei Kongresstage fokussiert: Nachdem David Kirchner, wird Jan Meyer hier einen Einblick in die Inhalte des zweiten Kongresstags (Donnerstag) geben.


Psychische Erkrankungen als Ausdruck gesellschaftlicher Pathologien?

Das erste Panel am Donnerstag befasste sich mit einem Thema, das innerhalb der politischen Theorie bisher ein Nischendasein fristete. Unter dem Titel „Political Theory and Mental Health“ fragten die vier Theoretiker*innen nach den gesellschaftlichen und politischen Implikationen sowie nach den Ursachen psychischer Erkrankungen. Dabei teilten die Panelist*innen die Diagnose, dass psychische Erkrankungen heute bei weitem nicht mehr so stigmatisiert seien wie in der Vergangenheit. Fabian Freyenhagen (Essex) brachte dies provokant mit der Formulierung von der „Sick normality“ auf den Begriff: So würden psychische Erkrankungen nicht nur sozial stärker akzeptiert, sondern seien auch Ausdruck einer neuen „Normalität“, was er mit empirischen Befunden untermauerte – so würde sich zum Beispiel etwa jede*r fünfte Bürger*in der Industrieländer einmal im Leben einer entsprechenden medikamentösen Behandlung unterziehen. Darüber hinaus so Freyenhagen, findet diese Normalisierung jedoch auch im Foucault’schen Sinne dahingehend statt, dass sie ein größeres Maß an sozialer Kontrolle ermöglicht.

Entgegen der zunächst positiven Diagnose der abnehmenden Stigmatisierung vertrat Freyenhagen daher die These, dass diese Entwicklung vielmehr auf eine Pathologie der Gesellschaft hinweise, die diese Erkrankungen verursache. Der „normal sickness“ liege demnach eine „sick normality“ zugrunde. Wenig überraschend verweist er hier auf die psychischen Belastungen der Menschen durch die neoliberale Gesellschaft mit ihrem permanenten individuellen Wettbewerbsdruck und den immensen sozialen Ungleichheiten. Das Pathologische dieser neuen „Normalität“ werde noch einmal dadurch verschärft, dass insbesondere die medikamentöse Behandlung, aber auch manche therapeutische Ansätze, die Individualisierung von psychischen Leiden weiter vorantrieben: Anstatt den Fokus auf die sozialen und politischen Ursachen psychischer Erkrankungen zu lenken, die entsprechende Forderungen nach einer Veränderung des Status quo nach sich ziehen könnten, führten diese Therapieversuche im Rahmen der Normalisierung dazu, dass die Menschen sich selbst als Problem wahrnehmen. So seien sowohl die gängige Diagnostik als auch die vorherrschenden Behandlungsansätze selbst Bestandteil der gesellschaftlichen Fehlentwicklung in der Interpretation und dem Umgang mit psychischen Leiden.

In dem von Freyenhagen gesteckten Rahmen bewegten sich auch die anderen Vorträge des Panels. Die kurzfristig mit einer Vorstellung ihres Forschungsprojekts eingesprungene Co-Organisatorin des Panels, Emily Dyson (Oxford) betrachtete dabei allgemein die Thematik „mental health care“ und problematisierte die einseitige Sicht auf diese als eine vom (paternalistischen) Wohlfahrtsstaat zu leistende Aufgabe. Sofia Jeppsson (Umeå) ging in ihrem Vortrag „The detrimental effects of the ”no one’s fault” message“ von der gleichen - scheinbar positiven - Normalisierungsdiagnose wie Freyenhagen aus, fokussiert sich dann aber auf eine bestimmte Deutung psychischer Krankheiten: Die gängige wohlmeinende Behauptung, eine psychische Erkrankung sei niemandes Schuld - insbesondere nicht der darunter leidenden Person selbst - habe paradoxerweise die gegenteilige Wirkung zur Folge: Auch in Jeppsson Augen liegt das Problem hier in der Individualisierung der Ursachen und Therapieansätze psychischer Krankheiten.

Anders als Freyenhagen, der zwar eine gewisse Hoffnung mit sozialen Bewegungen verbindet, die die bestehenden Diagnosemuster und vor allem medikamentöse Therapien infrage stellen, , wird Jeppsson deutlich konkreter. Sie argumentiert äußerst eindringlich, gespickt mit persönlichen Anekdoten und an mancher Stelle auch auf humorvolle Weise, dass es sich bei dieser gängigen Interpretation psychischer Erkrankungen um eine „Nebelkerze“ handele, die die wahren Ursachen derselben verdecke. Jeppsson weist darauf hin, dass es sehr wohl Personen und Institutionen gebe, die mit ihren Entscheidungen einen großen Einfluss auf die Einrichtung der Gesellschaft und ihren Umgang mit psychischen Erkrankungen hätten. Gerade der Politik wirft sie vor, anstatt den gesellschaftlichen Grundlagen psychischer Leiden auf den Grund zu gehen, nur deren Symptome zu bekämpfen. Schließlich könne die Politik mit den falschen Entscheidungen sehr wohl dazu beitragen, dass Menschen psychisch krank werden. Auf der anderen Seite sei sie in der Lage, auch normales menschliches Verhalten zu pathologisieren.

Auch wenn Freyenhagen und Jeppsson die Therapiemöglichkeiten nicht ausschließlich in der Veränderung der Gesellschaft selbst sehen und psychotherapeutische Angebote - Freyenhagen verweist hier insbesondere auf die Psychoanalyse - nicht ausschließen, überwog bei beiden ein eher skeptischer Grundton gegenüber diesen. Jana Cattien (Amsterdam) versuchte dagegen in ihrem Vortrag „‚Getting things off your chest‘: On the relationship between catharsis and emancipation“, eine Balance zwischen gesellschaftlicher Veränderung und individueller Therapie auszuloten. Bezugnehmend auf eine Beobachtung Frantz Fanons argumentierte Cattien ähnlich wie Jeppsson, dass psychische Leiden in vielen Fällen rationale gesellschaftliche Ursachen haben. So sei es nachvollziehbar, dass bei nicht-weißen Personen in einer von Rassismus durchzogenen Gesellschaft auch die psychische Gesundheit beeinträchtigt werde. Das Wissen und der Austausch über diese Verhältnisse könne zwar Linderung verschaffen, lasse aber nicht das Leiden verschwinden, ebenso wenig wie sich der Rassismus in absehbarer Zukunft aus der Welt schaffen lassen werde. Gerade letzteres ist für Cattien der Grund, sich bei der Erklärung und im gesellschaftlichen Umgang mit psychischen Leiden nicht allein auf Ausgrenzungsprozesse und ihre Bekämpfung zu fokussieren. Ihrer Forderung, neurotische Situationen auf einem holistischen Level zu adressieren, liegt so die Erkenntnis zugrunde, das Soziale nicht auf die inneren Emotionen zu reduzieren – und umgekehrt.
Die Beiträge zeigen insgesamt, dass die Auseinandersetzung mit psychischer Gesundheit ein für die politische Theorie sehr fruchtbares Thema sein kann. Die Panelists haben nicht nur vor Augen geführt, dass psychische Leiden zu einem großen Teil durch gesellschaftliche Pathologien und politischen Ausgrenzungen bedingt sind, sondern auch versucht, erste Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Bei diesen zeigt sich jedoch, dass die politiktheoretische Auseinandersetzung mit diesem Thema erst am Anfang steht: Zukünftige Konkretisierungen der hier angedeuteten Gesellschaftskritik oder Auseinandersetzungen mit ihrer Bedeutung für demokratietheoretische Fragestellungen werden hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.

Ein Plädoyer für die Einbeziehung der “sozialen Frage” in den Demokratiebegriff

Die Auseinandersetzung mit den sozialen Grundlagen der Politik war auch das Thema der von Sofia Näsström (Uppsala) gehaltenen Keynote. In ihrem Vortrag „Democracy and the Social Question“ plädierte sie dafür, die “soziale Frage“ – wohlgemerkt im Singular – bei der Konzeptualisierung der Demokratie stärker einzubeziehen. Sie ging davon aus, bei den meisten Zuhörenden damit nicht auf großes Wohlwollen zu stoßen, diagnostizierte sie der Demokratietheorie doch insgesamt, dieses Thema aufgrund der Befolgung bestimmter ideologischer Weichenstellungen des 20. Jahrhunderts ausgeklammert zu haben. Ob ihre Diagnose für das Fach insgesamt sowie für sämtliche Anwesenden zutrifft, darf bezweifelt werden – dass die Demokratie auch ein soziales Gleichheitsversprechen beinhaltet oder es demokratietheoretische Erweiterungsversuche der Mitbestimmung auf die Wirtschaft gegeben hat, ist keine neue Erkenntnis. Dennoch trifft Näsström in ihrer Herleitung einen empfindlichen Punkt: Im zwanzigsten Jahrhundert habe das „Gespenst des Realsozialismus“ den Mainstream der Demokratietheorie dazu verleitet, ihre sozialen Grundlagen zu verleugnen, um jeden Verdacht der Nähe zu sozialistischen Ideen auszuräumen. . Ob die soziale Frage wie bei Hannah Arendt in den „präpolitischen“ Bereich verschoben, aus der Demokratietheorie wie bei Joseph Schumpeter oder Walter Lippmann mit dem Verweis auf Neutralität hinsichtlich der gesellschaftlichen Ziele ausgeschlossen oder schließlich von linken Autoren wie Jürgen Habermas und Chantal Laclau/Ernesto Mouffe aus Furcht vor einer Bürokratisierung des öffentlichen Lebens ausgespart wurde: Sie alle, so Näsström, hätten sich vom Gespenst des Sozialismus verschrecken lassen.

Dabei sei jede politische und Gesellschaftsform auf einen „spirit“ in der Bevölkerung angewiesen, der insbesondere in der Demokratie, von der sich die Bürger*innen Wohlergehen versprechen, die soziale Frage einschließen muss. Mit Rückgriff auf Montesquieu argumentiert sie, dass dafür die politische und die soziale Sphäre gleichermaßen grundlegend sind. Neben den sozialen Voraussetzungen für Demokratie bedürfe es ebenso demokratischer Institutionen, die angesichts der für die Moderne typischen fundamentalen Unsicherheit Verantwortung und Freiheit in der Gesellschaft gleich verteilen. Die Demokratie, so betont sie im Rückgriff auf das übergeordnete Kongressthema, sei dabei zwar das beste Konzept für den Umgang mit dieser Unsicherheit, weil es stets Neubewertungen von Situationen und getroffenen Entscheidungen und damit deren Revision ermögliche. Ein Demokratiekonzept aber, das die soziale Frage ausklammere, halbiere die Demokratie auf den institutionellen Anteil. Doch gerade in Zeiten, so schließt Näsström ihren Vortrag, in denen die soziale Frage immer stärker privatisiert werde, sei es wichtig, die Rückkehr der sozialen Frage auch demokratietheoretisch zu reflektieren. Am Ende bleibt die Frage, ob Näsström bei ihren Zuhörer*innen entgegen ihrer Vermutung nicht doch offene Türen eingerannt hat.

Affekte in Zeiten demokratischer Unsicherheit

Am Nachmittag wurde der Kongresstitel „Unsicherheit“ in einem Themenfeld aufgegriffen, das die Politikwissenschaft sowie die Politische Theorie im Besondern seit Jahren beschäftigt: Die Auseinandersetzung mit regressiven Tendenzen innerhalb der Demokratie. Das von Jakob Huber (Berlin) und Fabio Wolkenstein (Wien) organisierte Panel, in dem neben ihnen auch Astrid Séville (München) einen Vortrag beisteuerte, beleuchtete die demokratische Regressionserscheinung im Hinblick auf die Sphäre der Affekte. Während Huber und Séville sich den der Regression zugrundeliegenden Affekten widmeten, nahm Wolkenstein jene Affekte in den Blick, die er bei den Verteidiger*innen der Demokratie in von Regressionserscheinung besonders betroffenen europäischen Staaten wie Polen oder Ungarn beobachtet hat. Dabei galt sein Interesse insbesondere den Akteur*innen, die ein intrinsisches Interesse an der Erhaltung der Demokratie aufweisen, weil sie sie um ihrer selbst willen als erhaltenswert ansehen. Als dominierende Affekte identifizierte er bei ihnen Wut und Verzweiflung. Dabei räumte er zwei kurzschließende Urteile aus: Wut müsse nicht unbedingt aus Rachegelüsten gespeist sein, ebenso wenig wie Verzweiflung ein „unproduktives“ Gefühl sei. Insbesondere die Verzweiflung der Akteur*innen habe oft erst zu konstruktiven und innovativen Widerständen geführt. Allerdings verweist Wolkenstein auch auf zwei „handlungsblockierende Dispositionen“ der demokratischen Widerständler*innen aus der empirischen Forschung. So könnte die Tatsache, dass demokratische Regressionen meist schrittweise über einen längeren Zeitraum erfolgen, zu Desorientierung bei den Verteidiger*innen der Demokratie führen. Vor allem aber sieht Wolkenstein ein weiteres Problem des Widerstands gegen die Regression: Eine Opposition, die mit rein demokratischen Mitteln gegen zunehmend autoritäre Regierungen ankämpfe, könnte mit diesen Mitteln zum Scheitern verurteilt sein. Die Erörterung der sich daraus ergebenden ethischen Fragen ließ er dabei offen.

Bei Jakob Huber und Astrid Seville stehen mit der Melancholie und der Nostalgie vergangenheitsbezogene Gefühle im Mittelpunkt, was nicht zuletzt daran liegen mag, dass sie sich nicht auf Affekten in Ländern fokussieren, in denen die demokratische Regression besonders weit fortgeschritten ist. Was beide Ansätze eint, ist der Impuls, die bisher meist einseitig interpretierten Begriffe um verkannte, aber bedenkenswerte Dimensionen zu erweitern. So strebt Huber in seinem Vortrag an, der gemeinhin als „hoffnungslos“ verschämten Melancholie, eine hoffnungsvolle entgegenzusetzen. Sowohl bei Siegmund Freud als auch bei Walter Benjamin zeichnet er diesen Wandel im Denken über Melancholie konkret nach: Melancholie trage damit nicht dazu bei, sich von den Enttäuschungen der Vergangenheit entmutigen zu lassen, sondern könne durch seinen Anteil an der „Gestaltung des Ichs“ (Freud) und das „Eingedenken“ als gegenwartsbezogene Form der Erinnerung eine progressive Wirkung entfalten. Anhand der Beispiele von „Racial Justice“ und dem Klimawandel argumentiert Huber vor diesem Hintergrund gegen eine „Verdinglichung der Vergangenheit“ als von der Gegenwart abgeschnittene bessere Welt: Auch deren Errungenschaften sollten erinnert werden, um aus der Vergangenheit jene Hoffnung zu schöpfen, die es in Zeiten der Unsicherheit braucht, um handlungsleitende Bilder in Aussicht auf eine bessere Zukunft zu schaffen.

Ähnlich stellte Astrid Séville den Begriff der Nostalgie vor: Sie argumentierte gegen die weit geteilte Beobachtung, es handele sich dabei stets um den Versuch des Rückgriffs auf eine vermeintlich bessere Vergangenheit, der per se einen konservativen und bisweilen reaktionären Charakter habe. Dass Nostalgie durchaus anschlussfähig für unterschiedliche Stoßrichtungen sei, zeige schon das Beispiel Jean-Jacques Rousseaus, des „ersten Nostalgikers der Moderne“. So kann Séville auch bei Akteuren der heutigen Klimaproteste, wie zum Beispiel „Fridays for Future“, nostalgische Züge erkennen: Deren Abgesänge auf die Zukunft würden insofern nostalgische Formen annehmen, als dass sie sich die „offene Zukunft“ der Vergangenheit zurücksehnten. Der Erwartungshorizont dieser Vergangenheit sei noch nicht von den bestehenden Katastrophenszenarien geprägt gewesen und habe im Blick auf die Zukunft noch plausible Handlungsoptionen bereitgehalten. Somit erscheine zwar nicht die Vergangenheit selbst besser, wohl aber das Versprechen einer lebenswerten Zukunft, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch gegeben werden konnte. Somit plädiert Séville für einen reflektierten Umgang mit nostalgischen Emotionen, wobei im Anschluss an Reinhart Kosellecks Begriffspaar von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont Vergangenheit und Zukunft fruchtbar aufeinander bezogen werden können. 



Literatur

Buchstein, Hubertus/Jörke, Dirk (2007): Die Umstrittenheit der Politischen Theorie. Stationen im Verhältnis von Politischer Theorie und Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, in: Buchstein, Hubertus/Göhler, Gerhard (Hg.), Politische Theorie und Politikwissenschaft, Wiesbaden, S. 241-251.
 
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Weiterführende Links

Universität Bremen / 03.03.2023

Konzept der Konferenz „Politische Theorie in Zeiten der Ungewissheit“

 

Theorieblog / 05.10.2023

Kongresssplitter zum Theoriekongress: Vielfalt in Blogpostform

 

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