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Debattenbeitrag / 15.12.2025

Emotionen in der Sicherheitspolitik: Warum ihre politikwissenschaftliche Betrachtung in Zeitenwende-Zeiten unverzichtbar ist

Angst, Empathie und Empörung formen Wahrnehmung und Handeln, daher kann auch Sicherheitspolitik nicht losgelöst von kollektiven Gefühlen gedacht werden. Bild: iStock / VPanteon.
Angst, Empathie und Empörung formen Wahrnehmung und Handeln, daher kann auch Sicherheitspolitik nicht losgelöst von kollektiven Gefühlen gedacht werden. Bild: iStock / VPanteon.

Welche Rolle spielen Emotionen in Kriegszeiten? Simon Koschut, Professor für Internationale Sicherheitspolitik an der Zeppelin Universität, zeigt, dass Gefühle wie Angst, Empörung und Solidarität nicht nur die deutsche Sicherheitspolitik der Zeitenwende entscheidend prägen, indem sie etwa die Bedrohungswahrnehmung beeinflussen. Insofern ist die Beschäftigung mit Emotionen essenziell, um Politik in Zeiten fundamentaler Umbrüche zu verstehen.

Ein Debattenbeitrag von Simon Koschut

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 befindet sich Deutschland und mit ihm die europäische Sicherheitsarchitektur in einer Phase tiefgreifender Umbrüche. Bundeskanzler Scholz sprach von einer „Zeitenwende“, die nicht nur militärische und strategische Dimensionen umfasst, sondern auch das Verhältnis von Gesellschaft, Politik und internationaler Ordnung neu definiert. Kollektive Ängste, moralische Empörung und Solidarität um Waffenlieferungen, humanitäres Leid und Krieg in Europa haben die Wahrnehmung von Bedrohungen, die Mobilisierung politischer Akteure und die Gestaltung internationaler Normen wesentlich geprägt. In dieser Zeitenwende-Zeit wird offensichtlich: Sicherheitspolitik ist nicht allein eine Frage von Rüstung, Strategie oder diplomatischem Kalkül. Sie ist auch zutiefst emotional.

Warum Emotionen in der Sicherheitspolitik relevant sind

Emotionen prägen Wahrnehmung, Bewertung und Handlungsmöglichkeiten in der internationalen Politik. Sie sind nicht Nebenprodukte, sondern motorische Kräfte politischen Handelns. Angst, Furcht, Empörung, Empathie, Scham oder Stolz beeinflussen, wie politische Akteure Bedrohungen einschätzen, Entscheidungen treffen und internationale Normen interpretieren.

Erstens beeinflussen Emotionen die Wahrnehmung von Bedrohungen. Emotionen wie Angst, Wut oder Empörung formen, wie politische Akteure und die Öffentlichkeit Risiken und Bedrohungen einschätzen. Angst kann etwa dazu führen, dass bestimmte Konflikte als dringlicher oder existenziell wahrgenommen werden, während Wut über Aggressionen zu einer stärkeren Unterstützung militärischer Maßnahmen führen kann. Diese emotionale Bewertung beeinflusst, welche Themen auf die sicherheitspolitische Agenda gelangen und welche Prioritäten gesetzt werden. Nach der Prospect Theory reagieren Menschen stärker auf potenzielle Verluste als auf Gewinne. Angst vor territorialem Verlust oder Bedrohung nationaler Sicherheit kann daher die Bereitschaft erhöhen, Risiken einzugehen oder Ressourcen für präventive Maßnahmen bereitzustellen.[1]

Zweitens steuern Emotionen kollektives Handeln und Mobilisierung. Emotionen sind ein zentraler Antrieb für kollektives Handeln, sei es in der Bevölkerung, in politischen Bewegungen oder auf internationaler Ebene. Wut oder moralische Empörung können Regierungen unter Druck setzen, bestimmte sicherheitspolitische Entscheidungen zu hinterfragen, während Hoffnung oder Angst politische Zustimmung für einschneidende Maßnahmen erhöhen können. Studien zur sozialen Bewegungsforschung zeigen, dass moralische Empörung und kollektive Wut zentrale Treiber von Protesten sind, weil sie individuelle Gefühle mit kollektivem Handeln verbinden und ein moralisches „Wir“ schaffen.[2]

Drittens prägen Emotionen die politische Legitimität und gesellschaftliche Akzeptanz von Sicherheitspolitik. Sicherheitspolitische Maßnahmen werden nicht nur rational begründet, sondern auch über emotionale Resonanz legitimiert.[3] Wenn Bürger*innen das Gefühl haben, dass ihre Sorgen ernst genommen werden oder dass die Regierung entschlossen handelt, steigt die Akzeptanz für teils einschneidende Maßnahmen. Umgekehrt kann Ignoranz gegenüber emotionalen Reaktionen zu Misstrauen und Widerstand oder Vertrauensverlust führen. Studien zur sogenannten „affect heuristic“ zeigen, dass Menschen Entscheidungen von Institutionen oder Autoritäten stark über ihre Gefühle beurteilen.[4] Wenn Regierungen etwa Warnungen vor Sicherheitsrisiken abtun, obwohl die Bevölkerung Angst oder Sorge empfindet, führt dies häufig zu Ablehnung, Protesten oder Nichtbefolgung von Maßnahmen.

Betrachten wir ein Beispiel aus der Sicherheitspolitik: die öffentliche Debatte über den Ukrainekrieg. In den ersten Wochen dominierten Empörung über Aggression, Mitgefühl mit den Opfern und Angst vor einer Eskalation die Diskurse. In Umfragen gab die große Mehrheit der Befragten an, dass sie die russische Invasion als ernsthafte Bedrohung für Deutschland fürchteten, während viele zugleich aktiv die Bundesregierung aufforderten, die Ukraine zu unterstützen.[5] Diese kollektiven Gefühle beeinflussten unmittelbar politische Entscheidungen: die schnelle Lieferung von Waffen, das historische Bündnis von EU-Staaten in der Sanktionspolitik gegen Russland, und nicht zuletzt die Rückkehr zu einer aktiveren Verteidigungspolitik in Deutschland, einschließlich des 100-Milliarden-Euro-Sonderfonds für die Bundeswehr. Ein rein rational-analytischer Blick auf militärische Kapazitäten oder geopolitische Interessen hätte diese Dynamik nur unzureichend erklärt.

Ein weiteres prägnantes Beispiel liefert die öffentliche Debatte über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine im Frühjahr 2022. Lange Zeit zögerte die Bundesregierung, Panzer, Artilleriesysteme und Flugabwehrwaffen bereitzustellen – trotz erheblichem Druck von Verbündeten und internationalen Partnern. Die Zögerlichkeit war nicht nur rational begründet, etwa durch die Sorge vor einer direkten Eskalation des Konflikts, sondern spiegelte auch kollektive Emotionen wider: Angst vor einer militärischen Konfrontation mit Russland, moralische Betroffenheit angesichts der humanitären Not in der Ukraine und ein historisch geprägtes Schuldgefühl im Umgang mit militärischer Macht. Diese emotionalen Dynamiken prägten sowohl die politische Debatte im Bundestag als auch die öffentliche Meinungsbildung. Auch die mediale Berichterstattung und öffentliche Reden von Politiker*innen transportierten Gefühle von Mitgefühl, Solidarität, aber auch Furcht und Vorsicht, die die Entscheidungsfindung maßgeblich beeinflussten. Erst die Kombination aus moralischer Empathie gegenüber der Ukraine, öffentlichem Druck und der kollektiven Sorge um Bedrohung führte schließlich dazu, dass die Bundesregierung ihre Haltung änderte und die Lieferung schwerer Waffen autorisierte.

Diese Beispiele machen deutlich, dass Emotionen nicht nur die Wahrnehmung von Bedrohung und Risiko formen, sondern unmittelbar politische Entscheidungen prägen können. Sie wirken auf verschiedenen Ebenen: in der öffentlichen Debatte, in medialen Narrativen, in der internen Entscheidungsfindung von Regierungen. Die „Zeitenwende“ ist demnach nicht nur ein militärischer oder geopolitischer Einschnitt, sondern auch ein Moment, in dem Gefühle, Ängste und moralische Überzeugungen die Struktur und die Dynamik der Sicherheitspolitik mitbestimmen.

Der „emotionale Turn“ in der Politikwissenschaft

Hier tritt der sogenannte „emotionale Turn“ in der Politikwissenschaft in den Vordergrund.[6] Er zeigt, dass Emotionen sozial konstituiert sind, kollektive Muster formen und Handeln legitimieren oder delegitimieren können. Konzepte wie „emotionale Gemeinschaften“ helfen zu verstehen, wie Staaten, internationale Organisationen und Gesellschaften gemeinsame emotionale Orientierungen entwickeln, die Bedrohungen definieren, Sicherheitspolitik rechtfertigen und internationale Normen stabilisieren oder herausfordern. So können Gefühle von Solidarität und moralischer Verantwortung dazu beitragen, dass die EU gemeinsam auf die russische Aggression reagiert. Gleichzeitig können Angst und Misstrauen Spannungen zwischen Mitgliedsstaaten verschärfen, etwa wenn unterschiedliche historische Erfahrungen die Bewertung von Risiken prägen.

Emotionen sind auch strategische Werkzeuge. Staaten nutzen gezielt emotionale Narrative, um Legitimität zu erlangen oder ihre internationale Reputation zu schützen. Russland etwa versucht, sein Handeln im Ukrainekonflikt als „Sicherung russischer Minderheiten“ zu rechtfertigen, während der Westen dieses Narrativ als illegitim stigmatisiert. Deutschland wiederum nutzt emotionale Appelle an Solidarität und historische Verantwortung, um die Unterstützung für Waffenlieferungen und Sanktionen zu legitimieren. Ein Großteil der Posts auf Twitter/X und Instagram transportierten damals emotionale Frames wie „Solidarität“, „Frieden“ und „Mut“. Auch hier zeigt sich: Sicherheitspolitik ohne die Berücksichtigung emotionaler Dynamiken ist unvollständig.

Zeitenwende und die neue emotionale Landschaft

Die Zeitenwende macht dies besonders deutlich. Historisch hat Deutschland eine lange Periode relativer Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität erlebt, in der militärische Bedrohungen kaum präsent waren. Emotionen wie Furcht vor Krieg, existenzieller Bedrohung oder kollektivem Versagen waren weitgehend marginalisiert. Mit dem Ukrainekrieg ist jedoch eine neue emotionale Landschaft entstanden, in der Bedrohungswahrnehmungen, Sorgen um die internationale Ordnung und Solidaritätsgefühle unmittelbaren Einfluss auf gesellschaftliche und politische Dynamiken gewinnen. Angst vor einer Eskalation des Konflikts und möglicher Bedrohungen für die eigene Sicherheit, Wut über Aggressionen und Verletzungen des Völkerrechts sowie Solidarität und Empathie mit den betroffenen Menschen prägen nun die öffentliche Debatte.

Diese Emotionen wirken zugleich auf politische Entscheidungen: Ein Beispiel ist die bereits zuvor genannte Diskussion um das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr. Die Entscheidung, diese Summe für die Modernisierung der Streitkräfte bereitzustellen, wurde nicht nur mit strategischen und sicherheitspolitischen Argumenten begründet, sondern auch durch das öffentliche Empfinden von Dringlichkeit, Angst und Verantwortung gegenüber der Ukraine und der eigenen Sicherheitsarchitektur getragen.

Emotionen fungieren damit als entscheidender Lenkungsfaktor in der Zeitenwende-Zeit: Sie verbinden gesellschaftliche Wahrnehmungen, politische Entscheidungen und die Neuausgestaltung der internationalen Ordnung. Was als Bedrohung, Verantwortung oder Solidarität empfunden wird, prägt, welche Maßnahmen ergriffen und welche Prioritäten gesetzt werden – national wie international.

Politikwissenschaftliche Perspektiven und Kommunikation

Politikwissenschaftliche Forschung kann hier wertvolle Beiträge leisten. Analytisch hilft der Fokus auf Emotionen in Verbindung mit Macht, Normen und Identität in einem integrativen Rahmen zu verstehen, warum bestimmte politische Handlungen als legitim wahrgenommen werden, während andere delegitimiert werden. Praktisch liefert sie Instrumente, um politische Kommunikation zu gestalten, internationale Kooperation zu fördern und normative Konflikte zu entschärfen. So könnte etwa eine differenzierte Analyse der emotionalen Resonanz auf die Stationierung von Bundeswehrtruppen in Mittel- und Osteuropa helfen, Missverständnisse abzubauen, öffentliche Unterstützung zu erhöhen und Eskalationsrisiken zu mindern.

Nicht zuletzt zeigt sich: Emotionen sind ein zentraler Schlüssel zum Verständnis von Sicherheitspolitik in der Gegenwart. Sie erklären, warum Normen erodieren, warum bestimmte Tabus, etwa im Nuklearbereich, zunehmend infrage gestellt werden, und warum Populismus, autoritäre Strukturen oder aggressive Außenpolitik in der Wahrnehmung von Staaten, Gesellschaften und Akteuren auf Resonanz treffen. Sie sind zugleich Katalysator und Barometer, sowohl Ausdruck als auch Treiber politischer Entwicklungen.

Die Zeitenwende verdeutlicht, dass Sicherheitspolitik nicht losgelöst von kollektiven Gefühlen gedacht werden kann. Angst, Empathie, Stolz oder Empörung strukturieren Wahrnehmung und Handeln, formen Legitimität und regulieren Normen. Politikwissenschaftliche Analysen, die diese Dimension systematisch einbeziehen, liefern nicht nur ein umfassenderes Bild von Politik, sondern bieten auch Werkzeuge für die Praxis: für Konfliktprävention, politische Kommunikation und die Gestaltung internationaler Kooperation.

Insofern ist die Beschäftigung mit Emotionen kein akademisches Luxusprojekt, sondern eine notwendige Voraussetzung, um Politik in Zeiten fundamentaler Umbrüche zu verstehen und konstruktiv zu begleiten. Wer die deutsche Sicherheitspolitik in der Ära der Zeitenwende begreifen will, sollte die unsichtbaren, aber wirkmächtigen Dimensionen der Emotionen auf den Tisch legen und reflektieren, wie sie unser Denken, unsere Debatten und unsere Handlungen prägen.

Stand: 5. Dezember 2025


Anmerkungen:

[1] Haas, Mark L. (2001): Prospect Theory and the Cuban Missile Crisis. In: International Studies Quarterly 45(2): S. 241-270.

[2] Jasper, James M. (2011): Emotions and Social Movements: Twenty Years of Theory and Research, in: Annual Review of Sociology 37: S. 285-303.

[3] Beauregard, Philippe (2022): International emotional resonance: Explaining transatlantic economic sanctions against Russia, in: Cooperation and Conflict 57(1): S. 25-42.

[4] Slovic, Paul / Finucane, Melissa L. / Peters, Ellen / MacGregor, Donald G. (2007): The affect heuristic. In: European Journal of Operational Research 177(3): S. 1333-1352.

[5] Ipsos (2022) Ukraine-Krieg: Jeder dritte Deutsche sieht sich und seine Familie bedroht, 28. April, https://www.ipsos.com/de-de/ukraine-krieg-jeder-dritte-deutsche-sieht-sich-und-seine-familie-bedroht

[6] Koschut, Simon (2026): The emotional turn in International Relations. In: Koschut, Simon/ Ross, Andrew (Hrsg.): The Oxford Handbook of Emotions in International Relations, Oxford: Oxford University Press.


DOI: https://doi.org/10.36206/BS25.10
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