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Debattenbeitrag / 28.10.2025

Werteneutralität und Aktivismus in der deutschen Ukrainekriegsdebatte. Ein subjektiver Eindruck in einem persönlichen Essay

In einer von Aktivismus geprägten Debatte über den Ukrainekrieg sieht Gerhard Mangott Forscher*innen, die an Webers Ideal der Wertneutralität festhalten, unter Rechtfertigungsdruck. Bild: iStock / VPanteon.
In einer von Aktivismus geprägten Debatte über den Ukrainekrieg sieht Gerhard Mangott Forscher*innen, die an Webers Ideal der Wertneutralität festhalten, unter Rechtfertigungsdruck. Bild: iStock / VPanteon.

In der akademischen und medialen Debatte über den Ukrainekrieg sehen sich Forschende, die in ihren Analysen und Einordnungen wertneutrale Positionen vertreten, oft dem Vorwurf ausgesetzt, das russische Vorgehen zu rechtfertigen. Gerhard Mangott, Professor für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Internationale Beziehungen und Sicherheitsforschung im postsowjetischen Raum an der Universität Innsbruck, beanstandet diese Entwicklung und schreibt in seinem Essay über den Streit zwischen beobachtender Wissenschaft in der Tradition von Max Weber und normativ motiviertem Aktivismus.

Ein Debattenbeitrag von Gerhard Mangott

In der Tradition von Max Webers „Wissenschaft als Beruf“ (1919) ist der Wissenschaftler ein Suchender, der die Wirklichkeit (nicht die Wahrheit) zu erfassen versucht. Die Wissenschaft operiert auf der Grundlage überprüfbarer Daten und rationaler Skepsis. In dieser Wissenschaftstradition müssen Forscher*innen ihre persönlichen Überzeugungen so weit wie möglich ausklammern und sich ausschließlich auf die Beweislage konzentrieren.

Der Aktivismus hingegen beruht auf Leidenschaft und normativer Dringlichkeit, der die Wirklichkeit verändern und Menschen mobilisieren will. Aktivist*innen stützen sich auf die Überzeugungskraft von moralischen Appellen. Der Aktivismus hat ein handlungsorientiertes Ziel; er will unter anderem eine bestimmte politische oder soziale oder ökologische Veränderung der Wirklichkeit erreichen.

Ein dem Prinzip der angestrebten Wertneutralität verpflichteter Wissenschaftler will verstehen und erklären und die Forschungsergebnisse und Einordnungen an die Gesellschaft weitergeben. Er soll aber keine Empfehlungen machen – weder für gesellschaftliches Verhalten noch an die Politik. Er will nur erklären, was eine Entscheidung der Politik für wahrscheinliche Konsequenzen haben wird. Aber er fordert nicht bestimmte politische Entscheidungen. Er will eine neutrale Rolle als Kommunikator einnehmen, aber nicht selbst zu einem Befürworter möglicher oder gar wünschenswerter Änderungen der Wirklichkeit werden.

Weberianische Wissenschaft und Diskurs

Derart verstandene nicht-normative Wissenschaft wird aber dennoch in einen Diskurs mit einbe- und hineingezogen, der vor allem von moralischen Positionen bestimmt wird. Der Wissenschaftler in der Weberianischen Tradition kann auch bei nicht-normativen Arbeiten nicht verhindern, dass seine Aussagen Teil normativer Debatten werden. Es stimmt sicher, Sozialwissenschaften können letztlich nicht völlig wertneutral sein.

Gerade in der wissenschaftlichen und politischen Debatte um den russischen Krieg gegen die Ukraine wird dem derart verorteten Wissenschaftler häufig vorgeworfen, nicht nur zu erklären, sondern dabei – mehr oder weniger offensichtlich – auch versteckt zu rechtfertigen. Aber Erklärung ist nicht rechtfertigen, verstehen ist nicht Verständnis. Wenn Thomas Jäger (Universität Köln) in einem Post auf X am 6. Juli 2025 meinte, „Wer Russlands Vorgehen ‚versteht‘, ist moralisch verkommen.“ hat er genau dies nicht verstanden.

Wer sich auf die Erklärung ohne Bewertung zurückzieht, wird von recht vielen Sozialwissenschaftler*innen darauf hingewiesen, dass es angesichts der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht beim Erklären bleiben dürfe, sondern der Wissenschaftler in seinen Äußerungen einem moralischen Gewissen zu folgen habe. Angesichts des Grauens könne der Wissenschaftler nach diesen Stimmen nicht wertneutral sein. Er müsse Stellung beziehen und moralisch aktiv und politisch fordernd werden. Vorwürfe werden immer wieder laut, neutrale Wissenschaftler*innen würden ihrer moralischen Verantwortung nicht gerecht; mehr noch, bisweilen wird davon gesprochen, diese Beobachter*innen würden sich mit dem russischen Anliegen gemein machen. Ein oft gehörter Vorwurf war der der „Empathielosigkeit“ gegenüber dem Leid der Ukraine; oder des moralischen Versagens.

Moralischer Bekenntniszwang exponiert die Wissenschaftsfreiheit

Wissenschaftsfreiheit wird grundlegend gefährdet durch den Rückbau demokratischer Institutionen und den Abbau von Grundrechten. Wissenschaftsfreiheit wird aber auch dadurch gefährdet, dass Wissenschaftler*innen, die sich dem moralischen Bekenntniszwang nicht beugen, diffamiert und diskreditiert werden.

Natürlich haben auch wertneutrale Forscher*innen im Privaten normative Überzeugungen. Es ist auch im Krieg Russlands gegen die Ukraine klar, wer Aggressor und wer Angegriffener ist. Ein Wissenschaftler hat natürlich persönliche politische Ansichten. Im Rahmen seiner akademischen Tätigkeit muss er aber neutral bleiben.

Der Wechsel vom akademischen zum medialen Diskurs, der Rollentausch zwischen Wissenschaftler und Aktivist ist selbstverständlich möglich. Aber der der Wissenschaft entstammende Aktivist kann als Aktivist nur ohne wissenschaftlichen Nimbus agieren.

Die deutsche akademische Kriegsdebatte ist durchdrungen von diesem Streit wertneutraler und aktivistischer Positionen. Die akademische und mediale Debatte war aber auch inhaltlich sehr kontrovers. Das begann schon mit dem Versuch einiger Kolleg*innen, eine Debatte über die Vorgeschichte für nicht sonderlich notwendig zu erachten. Insbesondere wer eine Mitverantwortung westlicher Politik an dem nicht rechtfertigbaren, verbrecherischen und völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine prüfte, wurde gleichsam beschuldigt, „russische Narrative“ zu verbreiten. Wer das NATO-Mitgliedschaftsversprechen an die Ukraine von 2008 als einen Faktor bei der russischen Invasionsentscheidung ansieht, wird ebenso beschuldigt – aus Naivität oder weil man ein Einflussagent sei. Nicht das Erweiterungsversprechen sei ein Faktor in der Interventionsentscheidung gewesen, sondern der russische Imperialismus, eine Sichtweise, die vor allem von Historiker*innen und Mainstream-Expert*innen vertreten wurde und wird.

Ein weiterer Punkt war der Streit zwischen den Forderungen nach einer diplomatischen Lösung und Deeskalation oder der militärischen Unterstützung der Ukraine bis zu deren Sieg über Russland; gar von einer notwendigen „strategischen Niederlage“ Russlands wurde als Erfordernis gesprochen. Beide Lager waren aber aktivistisch, ohne Frage. Das Absurde an den Vertreter*innen der zweiten Position war, dass sie in den sozialen Medien Kampagnen führten wie „FreeTheLeopards“– also der Forderung nach Lieferung deutscher Kampfpanzer des Typs Leopard in die Ukraine. Fortgesetzt wurde das im Hashtag „FreeTheTaurus“. Dieses Hashtag diente als einprägsames Kürzel, um Druck auf die Bundesregierung auszuüben, die Lieferung des weitreichenden Marschflugkörpers zu genehmigen. Er stand symbolisch für die Position derjenigen Politiker*innen und Kommentator*innen, die Deutschland ein zu zögerliches Verhalten vorwarfen und eine stärkere militärische Unterstützung Kiews forderten.

Rollentausch: Vom Wissenschaftler zum Aktivisten

Derartigen Aktivismus von Wissenschaftler*innen halte ich für bedenklich. Dies vor allem, weil Personen, die dies forderten, in den Medien weiterhin die Rolle reklamierten, Wissenschaftler*innen zu sein. Deren Debatten neigten dazu, auf Moral, Wertungen und Emotionen zu setzen. Nicht wenige Forscher*innen beteiligten sich aktiv an diesen hochemotionalen und wertenden Diskussionen und spielten nach deren Regeln.

Der Debatte ist auch der Vorwurf zu machen, Diffamierung von anderen Meinungen enthalten zu haben. Zahlreiche Kommentator*innen beklagten die Härte und Unsachlichkeit des Diskurses. Insbesondere gegen abweichende Meinungen, die Diplomatie oder einen wertneutralen Diskurs forderten, wurde von Kolleg*innen aber auch von zahlreichen Medien versucht, die Integrität dieser Position, vor allem aber auch die Integrität derer, die diese Positionen vertraten, in Zweifel zu ziehen. Das war in traditionellen Medien, aber auch in den sozialen Medien gang und gäbe. Ad-hominem-Attacken ersetzten die sachliche Debatte über Argumente.

Empirische Studien, etwa der Otto Brenner Stiftung, zeigten, dass deutsche Leitmedien zumindest in den ersten Kriegsmonaten eine relativ einheitliche Haltung zugunsten der Waffenlieferungen einnahmen und die Perspektive diplomatisch orientierter Expert*innen und Stimmen weniger abbildeten[1].

Um es zuzuspitzen: Dem beobachtenden, sachlichen und wertneutralen Beobachter“ musste und muss es letztlich egal sein, wer den Ukrainekrieg gewinnt. Eine sichtbare und offene Parteinahme untergräbt auch die Glaubwürdigkeit des Wissenschaftlers. Wenn ein Forscher aktivistisch zugunsten der Ukraine argumentiert, wird ein Teil des Publikums dessen Glaubwürdigkeit anzweifeln, weil die Rezipient*innen seiner Aussagen mit einigem Recht davon ausgehen müssen, dass diese Person nichts Nachteiliges über die Ukraine berichten wird – auch wenn es gesagt werden müsste.

So viel Uniformismusdruck hat bei einigen jungen Wissenschaftler*innen auch zu der praktischen Einsicht geführt, dass abweichende Positionen nicht karrierefördernd sein können. Das erfahre ich aus persönlichen Schilderungen. Umgekehrt wählte mancher die Mainstream-Position, in einer freudigen Karriereerwartung. Ebenso fehlt in der Debatte oft die Selbstreflexion, die Selbstkritik der Diskursteilnehmer*innen, die in der Deutung und Szenarienanalyse deutliche Fehler gemacht haben. Jene, die in der Leopard-Lieferung einen Gamechanger gesehen haben oder die schon 2022 meinten, Russland „pfeife aus dem letzten Loch“ oder die schon im selben Jahr meinten, Russland werden bald die Panzer ausgehen.

Zuletzt noch – kann ein Wissenschaftler, der die Rolle des Aktivisten eingenommen hat, irgendwann wieder in die Rolle des Wissenschaftlers zurückkehren, ohne massiv an Glaubwürdigkeit verloren zu haben? Meiner Ansicht kaum noch; sein selbstgewählter normativer Schatten bleibt ihm/ihr erhalten.

Stand: 27. Oktober 2025


Anmerkungen:

[1] Siehe hierzu: Maurer, Marcus/ Haßler, Jörg / Jost, Pablo (2023): Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg. Forschungsbericht für die Otto Brenner Stiftung, online unter: Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg [letzter Aufruf: 27.10.2025].  



DOI: 10.36206/BS25.6
CC-BY-NC-SA