Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, Politikwissenschaft und Russlandforschung
Mit welchen Schwierigkeiten sieht sich die Russlandforschung seit 2022 konfrontiert – und welche Folgen hat das für politikwissenschaftliche Debatten? Alexander Libman, Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Osteuropa und Russland an der Freien Universität Berlin, kritisiert, dass nicht nur Forschungsbarrieren und politische Repressionen des Regimes die Disziplin geschwächt und die Rezeption differenzierter Analysen erschwert haben, sondern dass dies vielerorts auch infolge politisierter öffentlicher Debatten geschah, die simplen, teils essentialistischen Narrativen den Vorzug gaben.
Ein Debattenbeitrag von Alexander Libman
Die letzten dreieinhalb Jahre wurden zu einer paradoxen Zeit für die politikwissenschaftliche Russlandforschung (und Osteuropastudien im Großen und Ganzen). Einerseits erlebten die Forschenden aus diesem Bereich einen enormen Anstieg der gesellschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit – der Krieg führte zu einer beeindruckenden Nachfrage nach regionalspezifischem Wissen. Andererseits gingen die Möglichkeiten, dieses regionalspezifische Wissen zu generieren, massiv zurück. Rein wissenschaftlich hat der Krieg die Russlandstudien eindeutig geschwächt; doch aus der Sicht der gesellschaftlichen Resonanz ist die Russlandforschung gefragter als jemals zuvor in den letzten 35 Jahren. Dieser Gegensatz trug zu einigen unerfreulichen Entwicklungen in der Disziplin bei, die ich im Folgenden skizzieren werde.
Schrumpfende Räume der neuen Erkenntnisse
Vor dem Februar 2022 erlebte die Forschung zu Russland und Osteuropa in den Politikwissenschaften eine echte Blütezeit. Die Zahl der Stellen, Lehrstühle oder spezialisierten Institute mit der „Denomination Osteuropa“ ging zwar weiterhin zurück – dieser Trend wurde ursprünglich durch das Ende des Kalten Krieges ausgelöst. Doch wenn man nicht auf die Zahl der dezidiert russlandbezogenen Stellen, sondern auf den Output der Russlandforschung schaut – etwa Publikationen zu Russland in führenden politikwissenschaftlichen Zeitschriften (unter anderem American Political Science Review und American Journal of Political Science) – ergibt sich ein ganz anderes Bild. Mehr und mehr Russlandforscher*innen produzierten wissenschaftliche Aufsätze und Bücher, die auf dem neusten Stand der theoretischen und methodologischen Entwicklungen der Politikwissenschaften waren und daher von der ganzen Disziplin als bedeutende Erkenntnisse wahrgenommen wurden.[1]
Russland wurde zu einem Schlüsselfall für die Entwicklung vieler zentraler Konzepte der modernen Autoritarismustheorie (etwa der Theorien der elektoralen Autokratie oder der informationellen Autokratie). Anders als zur Zeit des Kalten Krieges, als Russlandforschung zwar personell gut ausgestattet war, aber eine Art „wissenschaftliches Ghettodasein“ führte, wurde die jüngere Russlandforschung zu einem festen – und sogar führenden – Bereich der Mainstream-Politikwissenschaft. Die Grundlage für diese Blüte bildete eine hervorragende Verfügbarkeit von Daten zu Russland: von der guten Qualität der amtlichen Statistik (zumindest im Vergleich zu anderen Autokratien) bis zum Zugang zum Feld für qualitative Forschung und der Möglichkeit, komplexe Befragungen zu politisch sensiblen Themen durchzuführen. Russlandforschung profitierte sehr stark davon, dass Russland relativ einfach zu erforschen war. Paradoxerweise finanzierte der russische Staat selbst (in seinen Bemühungen, die eigene internationale Reputation durch exzellente Forschung zu stärken) Forschungsprojekte, die ein besseres Verständnis des russischen Autoritarismus lieferten.
Der vollumfängliche Angriff im Februar 2022 wurde zu einer Zäsur. Von einem „Easy-to-study“-Land wurde Russland auf einmal zu einem der besonders problematischen Forschungsfälle. Drei Faktoren machen es heute sehr schwierig, solide empirische Erkenntnisse zu Russland zu generieren. Erstens haben die westlichen Sanktionen bereits 2022 die Möglichkeiten, Daten zu Russland zu sammeln, massiv eingeschränkt. Sanktionen erschwerten den Kontakt zwischen westlichen Wissenschaftler*innen und der regierungskritischen Wissenschaft in Russland (die es 2022 noch gab) oder machten die Zusammenarbeit mit den russischen soziologischen Institutionen (etwa dem Lewada-Zentrum, der führenden unabhängigen demoskopischen Einrichtung, die von dem Regime als „ausländischer Agent“ gelabelt wurde), die früher als primäre Quellen von Befragungsdaten zu Russland dienten, unmöglich. Die Sinnhaftigkeit dieser Einschränkungen, die am Ende lediglich die Fähigkeit der westlichen Forschenden, Daten zu Russland zu sammeln, beeinträchtigten, ist aus meiner Sicht höchst zweifelhaft. Inzwischen spielen jedoch andere Barrieren eine größere Rolle für die Russlandforschung.
Zweitens schränkte das Putin-Regime selbst allmählich den Zugang zu Daten in Russland und die Möglichkeiten für die Zusammenarbeit zwischen russischen und westlichen Wissenschaftler*innen ein. Viele russische Behörden veröffentlichen inzwischen keine statistischen Daten mehr; Feldforschung in Russland ist in den meisten Fällen unmöglich aufgrund der akuten Gefahren für die Forschenden; viele regierungskritische Forschende wurden aus dem Land vertrieben oder können ihre Arbeit kaum fortsetzen; an vielen Forschungsinstitutionen wird der Kontakt zu ausländischen Wissenschaftler*innen zum Risikofaktor für die Wissenschaftler*innen.
Drittens (und das ist ein Novum etwa im Vergleich zu den Zeiten des Kalten Krieges) wurde die westliche Russlandforschung zum Ziel von grenzüberschreitenden Repressionen des Regimes. Die führende Fachgesellschaft der Osteuropaforschung – Association for Slavic, East European and Eurasian Studies – wurde in Russland als „unerwünschte Organisation“ eingestuft; die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde wurde sogar als „extremistische Organisation“ deklariert. Das hat praktische Folgen für die Russlandforschung: Wissenschaftler*innen, die Kontakte zu russischen Kolleg*innen oder Informant*innen in Russland weiterhin pflegen wollen (oder einen persönlichen Bezug zu Russland aufweisen), haben keine andere Wahl, als sich von entsprechenden Institutionen und Fachgesellschaften zu distanzieren (zumindest um Risiken für russische Partner*innen und Informant*innen zu vermeiden und überhaupt irgendwelche Kontakte in Russland aufrechtzuerhalten). Für die Politikwissenschaft ist die Lage weniger gravierend als für einige andere Disziplinen, da die wichtigsten politikwissenschaftlichen Gesellschaften und Zeitschriften noch nicht zur Zielscheibe des russischen Staates wurden – doch das kann sich jederzeit ändern.
Gerade angesichts dieser Einschränkungen ist es beinahe erstaunlich, wie viel wir weiterhin über das moderne Russland wissen und welche Möglichkeiten der Forschung es noch gibt. Es gibt durchaus zuverlässige Quellen der quantitativen Befragungsdaten zu Russland (etwa Projekte wie Chronicles, Russian Field und Extreme Scan) sowie Forschende, die wichtige qualitative Daten sammeln (etwa das Public Sociology Lab). Einige westliche Wissenschaftler*innen wagen sogar, Feldforschung in Russland durchzuführen und es gibt viele kreative Wege, russische Statistiken zu analysieren.[2] Doch der Trend ist klar: Es wird immer schwieriger, zu verstehen, wie russische Politik funktioniert, welche Ziele das Regime Putin verfolgt und mit welchen Ressourcen es umzugehen hat.
Die Politisierung der öffentlichen Debatte
Diese Einschränkungen der soliden empirischen Forschung zu Russland treffen auf ein nachhaltig hohes gesellschaftliches Interesse an den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland. Dazu kommt, dass die öffentliche Debatte zu Russland in vielen westlichen Gesellschaften – auch in Deutschland – oft höchst normativ und sogar emotionalisiert abläuft. Das ist zwar angesichts der Brutalität des Krieges in der Ukraine verständlich, führt jedoch zu mehreren Fehlentwicklungen, die ich im Folgenden skizzieren werde.
Erstens setzen sich in einer normativen und emotionalen Debatte oft diejenigen durch, die besonders klare und drastische, jedoch vereinfachte Thesen und Argumente präsentieren. Limitationen der empirischen Forschung machen es schwieriger, gegen solche vereinfachten Thesen vorzugehen. Dadurch geht die zentrale Funktion der wissenschaftlichen Diskussion (oder der Beteiligung der Forschenden an den gesellschaftlichen Debatten) verloren. Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, die Komplexität, Vielfältigkeit und Nuancen der gesellschaftlichen Phänomene und Prozesse aufzuzeigen. Auf diese Weise widersetzt sich die Wissenschaft anderen Akteur*innen, die eher auf einfache Lösungen pochen. Dieser Grundsatz ist jedoch in der öffentlichen Debatte über Russland, an der sich die Wissenschaftler*innen beteiligen, und zum Teil in der wissenschaftlichen Debatte selbst, oft verletzt.
Im Extremfall beobachtet man eine Wiederbelebung der essentialistischen Argumente, die etwa Autoritarismus oder aggressive Außenpolitik als inhärente Merkmale Russlands seit Jahrhunderten und damit ein deterministisches Bild der russischen Politik und Gesellschaft präsentieren. Unterschiedliche „autoritäre“ Episoden der russischen Geschichte (währenddessen Russland von sehr unterschiedlichen Regimen regiert wurde, mit extrem unterschiedlicher Machtbasis und unterschiedlichen Kontrollmechanismen) werden ohne Berücksichtigung dieser Unterschiede analysiert (und das, obwohl die unglaubliche Heterogenität der autoritären Regime zu den Basiselementen der modernen Autoritarismustheorie gehört). Sämtliche Komplexitäten der russischen Politik und Gesellschaft werden schlichtweg ignoriert.
Zweitens werden Forschungsdiskurse automatisch als Teil von konkurrierenden normativen Narrativen interpretiert. Jede Aussage eines*r Forschenden wird sofort als Unterstützung (oder Ablehnung) einer normativen Position gesehen und nur aus dieser Perspektive bewertet und wahrgenommen. Im schlimmsten Fall wird die Passfähigkeit zu gewissen normativen Narrativen als das wichtigste Kriterium bei der Bewertung der wissenschaftlichen Aussagen gesehen und die empirische Korrektheit der Thesen rückt in den Hintergrund. Um ein konkretes Beispiel zu liefern: Die Aussage, dass die russische Wirtschaft die westlichen Sanktionen in den Jahren 2023 und 2024 relativ gut überstanden hat, wurde damals von einigen deswegen abgelehnt, weil sie gut zu Putins Propaganda passe. Dabei muss eine wissenschaftliche These zunächst grundsätzlich unabhängig davon bewertet werden, wie sie von gewissen gesellschaftlichen und politischen Akteuren verwendet werden kann – es sollte darum gehen, ob die Aussage empirisch richtig oder falsch ist (und unter welchen Bedingungen). Auch wenn Putins Propaganda die These von der geringen Wirksamkeit der Sanktionen missbrauchen könnte, macht es die Sanktionen nicht wirksamer und die These nicht falsch. Bedauerlicherweise scheinen viele Forschende sich eher Sorgen darum zu machen, wie ihre Aussagen gesellschaftlich wirken (könnten), als darüber, ob sie empirisch belegt sind oder nicht.[3] Es ist nicht die Aufgabe der Wissenschaft, die Gesellschaft um jeden Preis davon zu überzeugen, dass gewisse Politikentscheidungen „richtig“ waren – die Wissenschaft sollte eher unterschiedliche Nebenwirkungen, ignorierte Aspekte und Konsequenzen dieser Entscheidungen thematisieren und beleuchten.
Drittens führt die aktuelle Lage dazu, dass die Russland-Expertise in der öffentlichen Debatte oft von Forschenden für sich beansprucht wird, bei denen man sie gar nicht zu erwarten hat. Die Area Studies und die Mainstream-Sozialwissenschaften (also, die vorherrschenden theoretischen und empirischen Ansätze der Politikwissenschaft oder der Volkswirtschaftslehre, die sich nicht auf ein konkretes Land oder eine Region spezialisieren, sondern den Anspruch haben, generelle Gesetzmäßigkeiten und universalistische Befunde zu generieren) sind sich uneinig, was eine wissenschaftlich fundierte Expertise zu einem Land oder einer Region ausmacht. Mainstream-Disziplinen werfen den Area Studies mangelnde theoretische und methodologische Fundierung und starke Verzerrungen in der Analyse vor: Hochwertige, moderne Methoden, belegt durch rigoroses Peer Review-Verfahren in führenden Fachzeitschriften, könnten viel mehr über einen Fall aussagen als Tonnen eher deskriptiver Fakten und Beobachtungen. Für die Area Studies dagegen sind die Mainstream-Disziplinen zu simplistisch und arbeiten sehr oft mit Konzepten und Methoden, die zu einem gewissen Fall gar nicht passen: Publikationen in Top-Zeitschriften sind aus dieser Sicht ein schwächeres Qualitätssignal als langjährige Beschäftigung mit einem Land, seiner Kultur, Wirtschaft und Politik. Ohne auf diese Debatte einzugehen: Einige, die jetzt in der öffentlichen Debatte eine prominente Rolle spielen, zeichnen sich weder durch einschlägige Publikationen in Top-Journals noch durch jahrelange landesspezifische Forschungserfahrung aus. Das ist nicht verwunderlich, denn genau unter diesen Bedingungen lassen sich sehr klare und eindeutige Thesen zu Russland behaupten – viel eher, als wenn man mit der Komplexität der Debatten vertraut ist.
Diese drei Probleme sind in der öffentlichen Diskussion, an der sich Wissenschaftler*innen beteiligen, viel stärker präsent als in der wissenschaftlichen Diskussion selbst. Doch auch die wissenschaftliche Debatte ist von diesen Fehlentwicklungen nicht verschont. Die Politikwissenschaft scheint von diesen Problemen weniger betroffen zu sein, als einige andere Geistes- und Sozialwissenschaften, wo etwa die Rückkehr zu essentialistischen Narrativen über Russland viel häufiger zu beobachten ist (paradoxerweise gepaart mit Behauptungen, eine postkoloniale Perspektive zu vertreten, die eigentlich eine essentialistische Erzählung ablehnen sollte), oder sogar die Entscheidung, sich mit Russland als Forschungsgegenstand zu beschäftigen, zum Thema einer wertenden Debatte wird (indem zum Beispiel dazu aufgerufen wird, weniger Russlandforschung als Reaktion auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu betreiben, – was gerade angesichts der gesellschaftlichen Bedeutung der Analyse des aggressiven Russlands unlogisch zu sein scheint). Aber auch die Politikwissenschaft ist von diesen Problemen keineswegs frei, und solche Argumente tauchen auch in politikwissenschaftlichen Diskursen auf.[4]
Fazit
Der Krieg in der Ukraine zeigt deutlich zwei bedeutende Herausforderungen, die große Kriege (vor allem solche, bei denen der Westen sich nicht als unbeteiligter Beobachter sieht) für die politikwissenschaftliche Forschung schaffen. Erstens machen sie empirische Forschung, Datensammeln und -analyse deutlich schwieriger. Zweitens führen sie zu der Verbreitung von vereinfachten, zum Teil essentialistischen Narrativen, die am Ende eher Teil der wertenden Diskurse als der genuin wissenschaftlichen Perspektive sind. Gerade unter diesen Bedingungen ist es von kritischer Bedeutung, dass die Wissenschaft – auch die Politikwissenschaft – ihre zentrale Mission nicht vergisst: Eine Quelle der Irritation zu sein, die immer betont, dass die Dinge viel komplexer sind, als sie zu sein scheinen.
Stand: 19. Oktober 2025
Anmerkungen:
[1] Frye, Timothy (2017): Russian Studies Is Thriving, Not Dying, in: National Interest. online unter: https://nationalinterest.org/feature/russian-studies-thriving-not-dying-22547 [letzter Zugriff: 19.10.2025].
[2] Vgl. Libman, Alexander / Romanov, D. (2025): How (Not) To Hide Your Data: Availability of Quantitative Datasets from Russia and Implications for Russian Studies. Communist and Post-Communist Studies, forthcoming; Morris, Jeremy (2025): Everyday politics in Russia: From resentment to resistance. London: Bloomsbury.
[3] Vgl. Libman, Alexander (2023): Osteuropaforschung im Rampenlicht: Ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus. Russland-Analysen Nr. 438.
[4] Eine kritische Übersicht der Diskussion „De-centering / Dekolonisierung der Russlandstudien“ findet man in: Lenton, Adam et al. (2025): Decolonizing Russia? Disentangling Debates. Cambridge University Press.