Der Nutzen von Theorien in Krisenzeiten: Resilienz als Leitprinzip im Umgang mit Russland
Akute Krisen lassen wenig Raum für Theorie – doch ohne sie fehlen langfristige Perspektiven. Seit Beginn von Russlands Angriffskrieg stehen ökonomische, geopolitische und militärische Fragen im Fokus. Elvira Rosert, Juniorprofessorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), plädiert dafür, IB-Theorien stärker zu nutzen: Diese können trotz ihres erklärenden Anspruchs helfen, Fehler zu analysieren und nachhaltige Ordnungs- und Sicherheitsentwürfe zu entwickeln. Besonders das Konzept der Resilienz hält Rosert für vielversprechend im Umgang mit Russland.
Ein Debattenbeitrag von Elvira Rosert
In einer Deutschlandfunk-Sendung zu Kürzungen an Universitäten forderte neulich eine Hörerin, „auf alle Fälle“ bei den „Orchideenfächern“ Politikwissenschaft und Soziologie einzusparen, bei denen keine Produktivität zu erkennen sei. Diese etwas elaboriertere Version des alten Taxifahrer-Vorurteils – das zudem einen anderen wichtigen Beruf abwertet – begegnet uns heute glücklicherweise selten. Im Gegenteil: Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung setzte vor kurzem sieben Politolog*innen und Soziolog*innen auf ihre Liste der 28 besten aktuellen Denker. Auch das Interesse der Studierenden an unserem Fach ist ungebrochen. Und wenn ich erzähle, dass ich mich mit den Internationalen Beziehungen und der Friedens- und Konfliktforschung beschäftige, höre ich häufig: Da haben Sie viel zu tun.
Politikwissenschaftliche Expertise und Entkopplungseffekte
Für diese Reaktion ist neben dem allgemeinen (und zutreffenden) Eindruck, es gebe wieder mehr bewaffnete Konflikte auf der Welt, vor allem ein Ereignis ausschlaggebend: Russlands vollumfänglicher Krieg gegen die Ukraine. Die öffentliche Nachfrage nach politikwissenschaftlicher Expertise ist seitdem enorm: Welche Motive verfolgt Russland? Wie wirken Sanktionen? Warum können die Vereinten Nationen den Krieg nicht beenden? Wie kann der Weg zum Frieden aussehen? Hinzu kommen wirtschafts- und geopolitische sowie militärstrategische Fragen, die zahlreiche Kolleg*innen in den Medien, in öffentlichen Diskussionen und in den weniger sichtbaren Fachgesprächen mit politischen Entscheidungsträger*innen kenntnisreich beantworten.
Dabei können wir jedoch eine institutionelle und substanzielle Entkopplung beobachten. Die meisten politikwissenschaftlichen Expert*innen, die diesen Krieg analysieren, arbeiten nicht (hauptamtlich) an den vielen Universitäten, sondern an den wenigen Forschungsinstituten und Think-Tanks; die Universitäten sind im Verhältnis zur Anzahl der dort tätigen einschlägigen Wissenschaftler*innen deutlich unterrepräsentiert.[1] Dies erklärt sich zumindest teilweise durch die unterschiedlichen zeitlichen Strukturierungen des Arbeitsalltags (der universitäre mit dem hohen Anteil an fest für Lehre und Gremien eingeplanter Zeit erlaubt weniger Flexibilität), hat jedoch auch inhaltliche Gründe (an den Universitäten stehen die Fachgrundlagen im Vordergrund, während Tagespolitik an den Rand gerät) und eine substanzielle Konsequenz:
Öffentliche Diskussionen über den Krieg gegen die Ukraine sind von (Mikro-)Entscheidungen – über Sanktionspakete, (nicht) gelieferte Waffensysteme oder die Finanzierung des Wiederaufbaus – dominiert, die unter hohem Zeitdruck getroffen werden müssen. Die große Frage hingegen geht darin unter: Was sind – jenseits der bereits ergriffenen militärischen, ökonomischen und diplomatischen Maßnahmen – diejenigen Strategien, die sich aus unterschiedlichen theoretischen Ansätzen heraus empfehlen, um die Sicherheit der Ukraine, anderer Nachbarstaaten Russlands sowie jener Regionen in der Welt, in denen Russland aktiv zur Instabilität beiträgt, langfristig und nachhaltig zu garantieren?
Wenn diese weitsichtige strategische Perspektive eingenommen wird, und das geschieht in einschlägigen Think-Tanks und Forschungsinstituten durchaus,[2] sind die entsprechenden Entwürfe jedoch von (theoretischen) Fachdebatten entkoppelt. Diese Fachdebatten wiederum sind ihrerseits von drängenden Policy-Debatten entkoppelt, mindestens zeitlich, häufig jedoch auch inhaltlich. Grundsätzlich hat diese Entkoppelung gute Gründe und bringt Vorteile, nicht zuletzt für die Qualität der Forschung, weil sie Zeit schafft, für Distanz sorgt, Unabhängigkeit erlaubt und Komplexität fördert.[3]
Theorien können erklären und Probleme lösen
Doch in akuten Krisen – wie dem Krieg Russlands gegen die Ukraine, in denen ein Danach schwer vorstellbar ist – sind gerade auch universitäre Forscher*innen in der Lage, wenn nicht gar in der Pflicht, Probleme zu beschreiben, zu erklären und einzuordnen. Das Theoriegebäude der IB befähigt im Idealfall auch dazu, fundierte Problemlösungsvorschläge sowie langfristige Ordnungsentwürfe zu entwickeln.
Warum es sich lohnt, auch die Suche nach Lösungen theoretisch anzugehen, obwohl Theorien primär einen erklärenden und keinen problemlösenden Anspruch haben, liegt auf der Hand. Erstens helfen sie uns, nicht nur viele Bäume zu sehen, sondern auch zu erkennen, in welchem Wald wir uns befinden. Durch ihre Abstraktionsebene stellen sie grundsätzliche Prinzipien und Heuristiken bereit, aus denen sich Antworten auf die Detailfragen systematisch ableiten lassen. Zweitens führt uns die Suche nach Erklärungen idealerweise zu den Hebeln, an denen wir (hätten) ansetzen können und müssen, um etwas zu verändern. Wenn wir also verstehen wollen, warum Russland die Ukraine angegriffen hat, warum der Überfall gerade im Februar 2022 erfolgt ist und wie ein zwischenstaatlicher Krieg mitten in Europa möglich ist, ist die Neugierde ganz wesentlich durch die Notwendigkeit zur Fehleranalyse motiviert.
Die rückwärtsgewandte Fehleranalyse ist wiederum unumgänglich, um jetzt einschätzen zu können, welcher Kurs gegenüber Russland das Ende des Krieges beschleunigen könnte, und um künftig die richtigen Schritte zu ergreifen, um Russland von weiteren Aggressionen gegen die Ukraine oder andere (Nachbar-)Staaten abzubringen. Im Umkehrschluss ist es auch eine Auseinandersetzung darüber, welche Maßnahmen (oder deren Unterbleiben) den Krieg verlängern würden und welche Kriegsausgänge und Waffenstillstandsbedingungen das Risiko bergen, dass der Krieg auf einer niedrigeren Intensität weiterschwelt oder erneut ausbricht. Das Herz aller Theorien – Kausalzusammenhänge – wird hier also zum Dreh- und Angelpunkt wissenschaftlich informierter Einordnungen und Politikempfehlungen.
IB-Erklärungen zu Russlands Angriffskrieg
Eine solche theoretische Grundlage für die Suche nach Lösungen erzeugen Thomas Diez und Andreas Hasenclever[4] in ihrer empfehlenswerten Synthese unterschiedlicher theoriegeleiteter Erklärungen von Russlands Angriffskrieg. Russland erscheint darin als Möchtegern-Großmacht, die die globale Ordnung nicht genügend nach eigenen Vorstellungen mitgestalten kann und der es zugleich im unmittelbaren Umfeld an Appeal durch soft power mangelt. Weil sich Russlands ehemaliger Einflussbereich zunehmend anderen Staatenbünden (EU), die über diese soft power verfügen, zuwendet und andere Staatsformen (Demokratie) präferiert, sieht Russland seine Identität als Großmacht bedroht und glaubt, Einfluss durch militärische hard power sichern zu müssen. Die NATO und die EU verstärken dieses umfassende Bedrohungsgefühl: Sie bedrohen zwar nicht die Existenz Russlands oder dessen Territorium, setzen aber sehr wohl seiner Fähigkeit Grenzen, die eigenen Interessen überall durchzusetzen.
In den Augen eines solchen Russlands wird die Ukraine aus mehreren Gründen zum Angriffsziel: weil Russland der Ukraine in imperialer Absicht das Recht auf eigene Staatlichkeit und Selbstbestimmung abspricht, weil sich die Ukraine immer stärker in Richtung des Westens orientiert, und weil Russland befürchten muss, die Demokratisierung der Ukraine hätte auch in Russland wieder eine Demokratiebewegung motivieren können, die unter Präsident Putin systematisch und schließlich erfolgreich unterdrückt wurde.
Mit dem Blick auf das Innere Russlands ist auch die Brücke zur Frage geschlagen, wie es möglich war, dass Russland sein Kriegsmotiv in die Tat umsetzen konnte – offenbar mit einer nicht unerheblichen Unterstützung der russischen Bevölkerung: In einem mindestens autoritären, vielleicht auch schon totalitären System fehlt es an allen Kontrollinstanzen, die in einem demokratischen System einen solchen Krieg hätten verhindern können: an einer Zivilgesellschaft, einer pluralistischen und tatsächlich offenen Öffentlichkeit und einer politischen Gewaltenteilung.
Bei der Suche nach strategischen Optionen darf die Frage nicht fehlen, wie groß der Beitrag des Westens zu dieser Entwicklung war. Einige Entscheidungen der EU und Deutschlands kann und muss man kritisieren – daraus folgt allerdings nicht, dass der Westen den Ausbruch des Krieges hätte verhindern können, etwa durch andere wirtschafts- und ordnungspolitische Entscheidungen oder durch resolutere Versuche, die innenpolitischen Bedingungen innerhalb Russlands zu verändern.
Eine Demokratisierung Russlands war schließlich erklärtes Ziel westlicher Politik, das mit verschiedenen Instrumenten gefördert und institutionell unterstützt worden war. Die Demokratisierungsbemühungen haben jedoch nicht (nachhaltig) gefruchtet und dem Rückbau demokratischer Institutionen unter Präsident Putin standhalten können. Auch die Vertiefung der ökonomischen Kooperation mit Russland war grundsätzlich nachvollziehbar. Dass Russland dennoch bereit war, die hohen Kosten sanktionsbedingter Kooperationsabbrüche für den Angriff auf die Ukraine in Kauf zu nehmen, zeigt die begrenzte Wirksamkeit solcher Strategien gegenüber Staaten wie Russland, die über hohe Kompensations- und Ausweichkapazitäten verfügen und zugleich bereit sind, der eigenen Bevölkerung Härten zuzumuten.
Aus dieser systematischen Analyse entlang unterschiedlicher Theorieansätze folgt meines Erachtens in erster Linie eine zentrale Erkenntnis: Die Ursachen für diesen Krieg liegen vorrangig bei Russland selbst. Unter Präsident Putin erfüllt Russland nicht die Bedingungen für eine kooperative Beziehung, die Frieden und Sicherheit garantiert. Der tiefgreifende Wandel innerhalb Russlands, der für den Aufbau einer solchen Beziehung unumgänglich wäre, ist in absehbarer Zukunft nicht wahrscheinlich. Auch ist höchst zweifelhaft, ob und wie man diesen Wandel von außen induzieren könnte – schließlich sind die Strategien, von denen man weiterhin grundsätzlich annehmen kann, dass sie zum Wandel führen, in der Vergangenheit an Russland gescheitert.
Resilienz als theoretisches und politisches Paradigma
Es scheint mir deshalb produktiver, Russland als exogenen Krisenfaktor zu erachten, dessen innere Verfasstheit wir nur wenig beeinflussen können, und mit dem wir stattdessen so umgehen müssen, wie er ist. Für die Entwicklung eines künftigen Handlungsrahmens gegenüber Russland erscheinen die gängigen IB-Theorien nicht inspirierend genug. Ein Paradigma, das abseits des IB-Mainstreams bereits existiert, ist jedoch vielversprechend: Resilienz. Je nachdem, wen Russland auf welche Weise gefährdet, muss und kann Resilienz verschiedene Formen annehmen:
- Militärische Resilienz im Sinne der Verteidigungsfähigkeit: Diese muss im Fall der Ukraine nicht nur akut weiter erheblich erhöht werden, sondern es hätte der Ukraine sehr wahrscheinlich auch geholfen, dem Angriff Russlands von Anfang an besser zu widerstehen oder diesen vielleicht sogar abzuschrecken, wäre die militärische Unterstützung weniger zögerlich, früher und mit dem dezidierten Ziel erfolgt, die Selbstverteidigung der Ukraine zu stärken.
- Wirtschaftliche und energiepolitische Resilienz im Sinne eines Ausstiegs aus fossilen Energien und einer wirtschaftlichen Entflechtung von Russland.
- Institutionelle Resilienz: Innenpolitisch würde diese vor allem die Wehrhaftigkeit von Demokratien gegenüber unkonventioneller Destabilisierung bedeuten, die Russland durch Desinformation und Polarisierung in westlichen Gesellschaften vorantreibt. International würde diese bedeuten, die Funktionsfähigkeit internationaler Institutionen sicherzustellen, und zwar trotz Russlands Blockaden und Sabotagen, die sich mitnichten nur auf den UN-Sicherheitsrat beschränken.
Kurzum: Resilienz als Grundsatz im Umgang mit Russland hat das Potenzial, sowohl große politische Linien vorzugeben als auch kleine Entscheidungen zu leiten. Erfreulicherweise deuten einige aktuelle politische Entwicklungen bereits in diese Richtung. Für uns als Wissenschaftler*innen ergibt sich daraus die Aufgabe, eine solche resilienzzentrierte Strategie umfassend und konsequent zu durchdenken und in konkrete Umsetzungsvorschläge zu übersetzen.
Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung meines Aufsatzes, der kürzlich im zib-Sonderheft „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Internationalen Beziehungen“ erschien: Rosert, Elvira (2024): IB und Krieg: Theorie und Praxis, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 31: 2, S. 46-64.
Stand: 30. Oktober 2025
Anmerkungen
[1] Sauer, Frank (2024): Riskante Wetten, evidente Bringschulden und fehlende Anreize: Die wissenschaftskommunikativen Herausforderungen der Zeitenwende, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 31: 2, S. 165-81, S. 177-179.
[2] Klein, Margarete/ Major, Claudia (2023): Ensuring Ukraine’s security: from ad hoc support to long-term security guarantees as NATO member, SWP Comment 2023/C 46, https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/89854; Mölling, Christian/ Major, Claudia (2022): Zusammen mit Russland, das geht nicht mehr, DGAP Online Kommentar 25.3.2022, https://dgap.org/de/forschung/publikationen/zusammen-mit-russland-das-geht-nicht-mehr; Puglierin, Jana (2023): Multilateral changes: Turn and face the strange, European Council on Foreign Relations Commentary, 12 July 2023, https://ecfr.eu/article/multilateral-chapeau/ [letzter Zugriff auf alle genannten URLs 27.10.2025].
[3] Rosert, Elvira (2019): Die Internationalen Beziehungen auf dem Rückzug? Warum Professionalisierung und Praxisrelevanz kein Widerspruch sind, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 12: 1, S. 113-132, S. 119-120.
[4] Diez, Thomas/ Hasenclever, Andreas (2024): Raus aus den Silos! Russlands Überfall auf die Ukraine und seine Konsequenzen für die Theorie der Internationalen Beziehungen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 31: 2, S. 15-45.