Wissenschaftliche Beratung, aber bitte à la carte
Wie steht es um die politikwissenschaftliche Politikberatung in der „Zeitenwende“? Stefan Kroll, Leiter der Abteilung für Wissenschaftskommunikation am PRIF – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, sieht ein begrüßenswertes Interesse der Politik an wissenschaftlicher Beratung, aber auch problematische Tendenzen: Dazu gehören Versuche, Forschung politisch zu steuern und ein selektiver Umgang mit Forschungsergebnissen. Dabei sei es gerade die Aufgabe von Wissenschaft, politische Entscheidungsprozesse konstruktiv zu irritieren, statt gefällig zu sein.
Ein Debattenbeitrag von Stefan Kroll
Das Anliegen dieser Blogreihe ist die Selbstreflexion der Politikwissenschaft in der sogenannten “Zeitenwende”. Meine Beobachtung ist, dass Entscheidungsträgerinnen – ich bleibe im Folgenden beim generischen Femininum – in Politik und Verwaltung in der Tat sehr an wissenschaftlicher Beratung interessiert sind, dass sie aber bisweilen zu stark der Versuchung erliegen, diese Forschung politisch zu steuern, anstatt in die wissenschaftliche Selbstregulierung und Qualitätskontrolle zu vertrauen. Meine These ist, dass das volle Potential der wissenschaftlichen Beratung nur ausgeschöpft werden kann, wenn dieses Vertrauen besteht und stabilisiert wird.
Ein goldenes Zeitalter der Wissenschaftskommunikation?
Spätestens seit der Corona-Pandemie erlebt die Wissenschaftskommunikation eine Konjunkturphase. Der Bedarf an wissenschaftlicher Orientierung und evidenzbasierter Gesellschafts- und Politikberatung in der Krise, deren Wahrnehmung sich seither zu der einer Polykrise erweiterte, ist hoch. In einem Wissenschaftssystem, in dem die Ressourcen durch politische Einsparungen knapper werden, war und ist die Wissenschaftskommunikation ein Bereich, der entgegen dem Trend gewachsen ist. Der Anteil an Förder- und Haushaltsmitteln für Transferforschung und -praxis ist angewachsen. Die Anfragen an Wissenschaftlerinnen in Ausschüssen und Kommissionen mitzuwirken – von Themen wie krisenfester Gesellschaft über Islamismus bis Afghanistan – haben zugenommen. Bundesweite Leuchtturmprojekte, wie das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt, sind mit einer hohen Erwartung an den Transfer von Erkenntnissen in die Gesellschaft verbunden.
Diese Entwicklung ist deshalb so vielversprechend, weil durch sie die Idee des dialogischen Wissenstransfers zum Mainstream geworden ist. Ein Forschungsantrag, der auf der klassischen Idee beruht, das erst einmal geforscht würde und dann am Ende eine einbahnstraßenartige Vermittlung in die Praxis erfolge, würde gegenwärtig zumindest in dieser Hinsicht kaum positiv begutachtet werden. Der Transfer sollte vielmehr den ganzen Forschungszyklus begleiten, von der Fragestellung über die (manchmal sogar partizipative) Forschung bis zur Übersetzung in Empfehlungen. Das Ziel ist, die Forschung näher an den gesellschaftlichen Problemlagen auszurichten, das Wissen der Praxisakteure zu nutzen und das gegenseitige Verständnis zu stärken. Ich finde es in diesem Zusammenhang vollkommen plausibel und legitim, dass Forschungsförderung bestimmte gesellschaftliche Probleme in den Fokus rückt und Forschungstätigkeiten auf dieser Ebene politisch und problemorientiert steuert.
Forschung als Mittel der politischen Auseinandersetzung?
Problematisch wird es aber dann, wenn der Anschein entsteht, dass durch die Förderung der Forschung nicht nur die Arbeit an bestimmten Fragen gesteuert werden soll, sondern auch die möglichen Antworten darauf. Und dieser Anschein ist jüngst entstanden. Zwei Beispiele sind in dieser Hinsicht auffällig: Zunächst der Fall der undurchsichtigen Vergabe von Fördermitteln für ein Projekt in der Antisemitismusforschung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMFB) (also noch vor dem Regierungswechsel). Diese Förderung ist entgegen den Regeln der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle erfolgt. Wissenschaftliche Gutachten hatten von einer Förderung abgeraten, da Zweifel an der wissenschaftlichen Eignung und Exzellenz des Projekts bestanden. Die Förderung ist aufgrund der relevanten Ziele des Projekts in der Antisemitismusprävention aber dennoch erfolgt.
Das zweite Beispiel ist die neue Zusammenstellung eines Expertengremiums zur Islamismusprävention beim Bundesministerium des Innern (BMI). Hier hatte Bundesministerin Nancy Faeser in der Folge des islamistischen Anschlags von Solingen 2024 eine Task Force eingesetzt, die im Herbst 2025 auch erste Handlungsvorschläge vorgelegt hatte. Diese Task Force wurde vor wenigen Wochen durch einen neu zusammengestellten Beraterinnenkreis ersetzt, der in der Presse sowohl kontrovers als auch zustimmend diskutiert wurde (siehe etwa hier, hier und hier). Das Interessante an der Debatte ist, dass sich aus den Reaktionen beider Seiten herauslesen lässt, dass diese Neubesetzung eher politisch als wissenschaftlich motiviert ist. Hatte die Task Force in den Handlungsempfehlungen noch davor gewarnt, der islamistischen Radikalisierung durch pauschalisierende und stigmatisierende Debatten über islamistische Gruppen einen Nährboden zu bereiten, wirken nun Beraterinnen in dem Kreis, die in der Vergangenheit für genau solche Debatten standen.
Subjektive und objektive Sicherheit
Die Versicherheitlichung des Islams ist eine Reaktion auf ein wachsendes subjektives Unsicherheitsgefühl in der Gesellschaft. Es ist aus meiner Perspektive selbstverständlich, dass verantwortliche Politkerinnen subjektive Unsicherheiten adressieren. Allerdings wäre meine Erwartung, dass dies dadurch geschieht, dass die subjektive Unsicherheit durch Aufklärung moderiert und Präventions- und Sanktionsmaßnahmen an objektiven Sicherheitsrisiken ausgerichtet werden. Also genau das, was die ursprüngliche Task Force mit Blick auf das zur Verfügung stehende Forschungswissen getan hat. Mit Blick auf den neu ausgerichteten Beraterinnenkreis wird nun befürchtet, dass Ressentiments gegenüber Musliminnen verstärkt würden, die im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts eigentlich abgebaut werden müssten. Insbesondere auch, weil in der öffentlichen Debatte ein Zusammenhang zwischen Islamismus und Migration hergestellt wird. Hieraus entsteht ein direkter Bezug auch zur Frage der gesellschaftlichen Resilienz in der Zeitenwende.
Eine Politik, die subjektive Unsicherheitsgefühle nicht abbaut, sondern verstärkt und politisch zu nutzen sucht, ist ein Risiko für die Resilienz in der Zeitenwende. Bislang wird sie aber in dieser Hinsicht noch nicht reflektiert. Wer die wissenschaftliche Beratung in einer Weise instrumentalisiert, die den Zusammenhalt untergräbt, verringert die Sicherheit in Deutschland, er erhöht sie nicht. Wer Narrative über den Islamismus und Migration in einer Weise polemisiert, dass hierdurch diffuse Ängste in der Bevölkerung entstehen oder verstärkt werden können, wird zum Erfüllungsgehilfen hybrider Angriffsstrategien, in denen Russland durch Desinformation und den Einsatz von Migration als “Waffe” versucht, den demokratischen Zusammenhalt in Deutschland zu destabilisieren. In einem Beitrag der Friedrich Naumann Stiftung heißt es bezogen auf Deutschland: “the real weapon is not the migrants themselves, but the societal reaction and division provoked within European societies.” Wer die Resilienz der Gesellschaft im Sinne einer Total Defense stärken will, setzt diesen Narrativen etwas entgegen und stärkt sie nicht.
Mehr Differenzierung - mehr Ambivalenztoleranz
Im geschilderten Beispiel zielt die Neuzusammensetzung des wissenschaftlichen Gremiums auf dessen Politisierung und vor allem auf die Komplexitätsreduzierung der Expertise in der Beratung. Aus Perspektive der beteiligten Politikerinnen scheint mir dies ein legitimes Anliegen zu sein. Wissenschaftlerinnen sollten dem aber kritisch begegnen, weil es schlicht nicht ihre Aufgabe ist, zu vereinfachen und zu politisieren. Viel zu oft dominiert weiterhin das Bild einer evidenzbasierten Politikberatung, das davon ausgeht, dass es Probleme gibt, für die eine Lösung bereits existiert, zu denen dann beraten wird, sodass am Ende “bessere” politische Entscheidungen herauskommen. Aber so ist es nicht.
Für manche Probleme müssen Lösungen erst entwickelt werden und es werden in der Regel eher verschiedene Optionen und Szenarien sein, mit Wahrscheinlichkeiten versehen, aus denen im politischen Prozess dann ausgewählt werden muss, welche zu dem hinführt, was dann als “bessere” Entscheidung rationalisiert wird. Das ist für politische Akteure in der Tat voraussetzungsreich und es ist eine Aufgabe für Wissenschaftlerinnen, dies in ihrer Kommunikation zu berücksichtigen. Es sollte aber nicht dazu führen, dass Wissenschaftlerinnen einfach die Codes der politischen Kommunikation adaptieren.
Ein aktuelles Beispiel wäre Herfried Münkler, der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beobachtet, dass die Frankfurter Friedensforschung – ich bin also mitgemeint – die Zeitenwende verpasst habe. Als Kritikpunkt nennt er unter anderem, dass es zu wenig “dezidierte” und “entschiedene” Analysen gebe. Was hier als Schwäche kritisiert wird, würde ich als Stärke ansehen. Die Aufgabe der Forschung ist es nicht, nur Bekenntnisse abzugeben – auf welcher Seite man steht – oder Selbstverständliches festzustellen – von wem eine Aggression ausgeht und was das moralisch bedeutet. Analyse bedeutet eben auch, Widersprüchliches und Doppeldeutiges zu erkennen, einzuordnen und nutzbar zu machen - dass ein (Ex-?)Verbündeter als nicht-neutraler Vermittler etwas erreichen kann, dass Maximalforderungen in einen Prozess überführt werden müssen, wenn Gewalt enden soll; dass die Sorgen Europas nicht die Sorgen sind, die im Rest der Welt geteilt werden. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Hieraus entstehen Beratungsangebote, die man als ein “Sowohl-als-auch” geringschätzen kann. Aus meiner Sicht bieten sie einer Politik, die entschlossen ist, Entscheidungen selbst zu fällen, ein sehr gutes und differenziertes Beratungsangebot. Die Voraussetzung dafür, es zu nutzen, liegt darin, mit Ambivalenz umgehen zu können.
Frieden und Sicherheit
Zu Beginn der Zeitenwende haben sich Sicherheits- und Friedensforschung produktiv aufeinander zubewegt. In kurzer Zeit und durch den Problemdruck angetrieben, sind sehr gute Beratungsangebote entstanden, die – etwa im Rahmen der Debatte über die Nationale Sicherheitsstrategie (hier und hier) – Impulse für die strategische Neuausrichtung gegeben haben. Die Themenfelder Sanktionen, kontrollierte Entflechtung, Aufrüstung und Exportkontrolle, zivile Sicherheit, Krisenresilienz stehen alle für eine produktive Debatte, in der Problemlösungsmuster erarbeitet wurden, die Sicherheit und Frieden nicht gegeneinander wenden, sondern produktiv verbinden.
In der politischen Umsetzung spiegelt sich dies gegenwärtig allerdings nicht wider. Als jüngstes Beispiel hierfür kann die geplante Umstrukturierung im Auswärtigen Amt angeführt werden, die darauf zielt, auf das Thema Sicherheit zu fokussieren, im Rahmen derer aber Bereiche der humanitären Hilfe und Zusammenarbeit verkleinert werden, deren Förderung der Sicherheit Deutschlands dienen. In der Debatte über die Verteidigungsfähigkeit dominieren die Themen Aufrüstung und Wehrpflicht – die zu diskutieren ich beide ausgesprochen wichtig finde. Aber auch dies sollte nicht um den Preis geschehen, die Bedeutung etwa der zivilen Krisenprävention zu relativieren. In der Auseinandersetzung über hybride Bedrohungen geht es nicht zuletzt um die Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz. Hier greift die Debatte häufig zu kurz, beispielsweise weil kontraproduktive politische Initiativen, wie oben gezeigt, gar nicht in diesem Sinne kritisch reflektiert werden. Auf diese Weise kann es nicht gelingen, die nationale und gesellschaftliche Resilienz gegenüber Bedrohungen zu stärken, die uns schon jetzt alltäglich betreffen. In all diesen Bereichen liegt Forschungswissen vor, das aber nur selektiv und mit Blick auf politische Agenden genutzt wird.
Dies können frühe Anzeichen dafür sein, dass auch im Bereich der Zeitenwende eine Phase der wissenschaftlichen Beratung à la carte eintritt, in der verwendet wird, was getroffene politische Weichenstellung begründet, aber nicht unbedingt, was dem Stand der Debatte in der Forschung entspricht und das Potential hat, politische Entscheidungsprozesse konstruktiv zu irritieren. Dieses Potential kann sich am besten entfalten, wenn politische Akteure zwar Forschungsfelder problemorientiert abstecken, aber ansonsten auf die wissenschaftliche Selbstregulierung und Qualitätskontrolle setzen. Und wenn sie sich selbst zutrauen, mit Ambivalenz umzugehen – und nicht nur denjenigen vertrauen, die auf die am leichtesten zu verdauenden Botschaften setzen.
Stand: 9. Dezember 2025