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Problemaufriss / 27.10.2025

Politikwissenschaftliche Selbstreflexionen in Zeiten des Krieges – ein Problemaufriss

Unser Ziel: Nach innen einen Prozess der Selbstreflexion anstoßen und nach außen zeigen, dass die Politikwissenschaft pluraler ist, als sie manchmal scheinen mag. Bild: iStock / VPanteon.
Unser Ziel: Nach innen einen Prozess der Selbstreflexion anstoßen und nach außen zeigen, dass die Politikwissenschaft pluraler ist, als sie manchmal scheinen mag. Bild: iStock / VPanteon.

Innerhalb der Politikwissenschaft gibt es Gesprächsbedarf: Wie gut gelingt das politikwissenschaftliche Sprechen über Krieg und Frieden in der Öffentlichkeit? Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Disziplin in der ‚Zeitenwende‘? Und wird sie ihr bislang gerecht? Mit einem Blogsymposium möchte das pw-portal eine Plattform für kontroverse Debatten schaffen. Lesen Sie hier den Problemaufriss der Redaktion zum Thema „Politikwissenschaftliche Selbstreflexionen in Zeiten des Krieges“.

Ein Problemaufriss von David Kirchner 

Wer sich über die Kriege und Konflikte auf der Welt medial informieren möchte, stößt dabei häufig auf Politikwissenschaftler*innen, die in ihrer professionellen Eigenschaft als Expert*innen prominent in die öffentliche Verarbeitung von Krieg involviert sind. Insbesondere seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wird sicherheitspolitische Expertise in den Medien massiv nachgefragt: Tagtäglich sind Politikwissenschaftler*innen damit befasst, das Kriegsgeschehen in der Öffentlichkeit zu analysieren, zu kommentieren und politische Handlungsempfehlungen abzuleiten.

Dies bringt zwangsläufig große Herausforderungen mit sich. Die Komplexität der Materie, die häufig prekäre Informationsbasis im „Nebel des Krieges“ und die weitreichenden Auswirkungen möglicher Eskalationsprozesse machen sicherheitspolitische Analysen in Echtzeit ohnehin zu einer schwierigen Angelegenheit. Noch größer werden die Schwierigkeiten unter den Bedingungen einer medialen Aufmerksamkeitsökonomie, die nur begrenzt Raum für Abwägung und die Entfaltung komplexer Argumente lässt und stattdessen „Klartext“ und „Haltung“ prämiert. Insofern ist Wissenschaftskommunikation über Fragen von Krieg und Frieden eine höchst anspruchsvolle Aufgabe.

Wie gut die deutsche Politikwissenschaft diese meistert, darüber gehen die Meinungen weit auseinander: Liana Fix bewertete das Wirken der außenpolitischen Expert*innen während des Ukraine-Kriegs als eine „Sternstunde der Politikberatung“[1]; Hans Kundnani kritisierte, dass sich ein Großteil dieser Expert*innen „von Analysten zu Cheerleadern“[2] für die Lieferung bestimmter Waffensysteme verwandelt hätten. Beide Stimmen stammen aus der Think-Tank-Community, die in diesen Kriegszeiten besonders gefragt ist. Doch auch innerhalb der universitären Politikwissenschaft sorgt die „Zeitenwende“, die unter dem Stichwort der „Wehrhaftigkeit“ nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirkt, für Debatten über das eigene Rollenverständnis.

Dass innerhalb des Fachs Gesprächsbedarf besteht, deutete sich bereits auf dem letztjährigen Kongress des politikwissenschaftlichen Dachverbands DVPW an: Intensiv wurde dort etwa über die Frage debattiert, inwiefern die Erfahrung des Ukraine-Krieges die Politikwissenschaft in eine „professionelle Krise“ gestürzt habe. Auch dass der Kongress durch eine Rede des Verteidigungsministers eröffnet wurde, die im Publikum viel Anklang fand, stieß danach auf ein gemischtes Echo. Kritiker*innen betrachteten die Sympathiebekundungen als symptomatisch für eine zu handzahm gewordene Politikwissenschaft, die den „bellizistischen Tenor einer geballten veröffentlichten Meinung“[3] (Jürgen Habermas) akademisch befeuere. Andere lobten den freundlichen Empfang für Boris Pistorius als logische Konsequenz aus den neuen geopolitischen Verhältnissen. Sie betonten, dass angesichts der Bedrohung der Demokratie von innen wie von außen Politikwissenschaft und Politik näher aneinanderrücken müssten und interpretierten die Rede auch als Ausdruck einer Aufwertung der Politikwissenschaft.

Ebenfalls Klärungsbedarf gibt es über die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sich weite Teile der deutschen Politikwissenschaft gegenüber dem militärischen Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 lange so zurückhaltend verhielten. In starkem Kontrast zum ukrainischen Leid spielte die Lage der Palästinenser*innen und die Frage nach dem Charakter der israelischen Kriegsführung auf Konferenzen und Tagungen kaum eine Rolle. Auch was die Auswirkungen des Konflikts auf die deutsche Nahostdebatte in Form von Veranstaltungsabsagen und Protesten an Universitäten sowie der Ausladung internationaler Wissenschaftler*innen anbelangt, waren die politikwissenschaftlichen Reaktionen lange auffällig leise.

Dies verweist auf eine grundsätzliche Frage, nämlich die nach der gesellschaftlichen Funktion von Politikwissenschaft. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Finanzierung durch die Öffentlichkeit, aber auch aufgrund ihres besonderen Forschungsgegenstands („der Politik“) wird häufig eine Bringschuld der Politikwissenschaft gegenüber Politik und Gesellschaft formuliert, die im Fach (inzwischen) auch größtenteils angenommen wird. Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, worin diese Pflicht inhaltlich besteht.  Geht es darum, den „Stand der Wissenschaft“ möglichst neutral zu referieren und Fakten zu liefern oder sollen Politikwissenschaftler*innen nicht gerade auch politische Handlungsempfehlungen ableiten? Ist Solidarität mit den Opfern einer Aggression eine moralische Pflicht oder geht sie auf Kosten der Unparteilichkeit und Glaubwürdigkeit der Wissenschaftler*innen? Sollte Politikwissenschaft den an sie herangetragenen Anspruch erfüllen, „konstruktiv“, „beratend“ und „praxisnah“ zu sein oder macht sie sich damit notwendigerweise unkritisch mit den Zielen und der Gewalt des eigenen Staates gemein?

All dies zeigt, dass sich das politikwissenschaftliche Sprechen über Krieg und Frieden nicht auf die sicherheitspolitische Dimension reduzieren lässt, sondern ethische, theoretische, diskursive und eben politische Fragen aufwirft. Ziel dieses Projekts des pw-portals ist es, der bislang lediglich vereinzelt stattfindenden, aber vielfach eingeforderten disziplinären Selbstreflexion der Politikwissenschaft in Zeiten von Krieg und Aufrüstung eine Plattform für kontroverse Debatten zu geben. Dazu werden wir in den kommenden Tagen und Wochen im Rahmen eines Blogsymposiums Beträge aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkeln veröffentlichen. Dies umfasst neben Texten von Forschenden aus den Internationalen Beziehungen sowie der (kritischen) Friedens- und Konfliktforschung auch Beiträge von Vertreter*innen der Politischen Theorie, der Diskursforschung, der politischen Soziologie und anderen Teilbereichen der Politikwissenschaft.

Um die Auseinandersetzung zu strukturieren, hat die Redaktion innerhalb dieser komplexen und facettenreichen Thematik fünf Dimensionen identifiziert. Auf diese Weise möchten wir nach innen einen Prozess der disziplinären Selbstreflexion anstoßen und nach außen aufzeigen, dass die Politikwissenschaft in diesen Fragen pluraler ist als sie manchmal scheinen mag.

  1. Rollenerwartung:

Wo verlaufen die Grenzen zwischen politischem Engagement, Aktivismus und wissenschaftlicher Objektivität, wenn Politikwissenschaftler*innen öffentlich über Fragen von Krieg und Frieden sprechen? In welcher Rolle sprechen Forscher*innen, wenn sie in politischen Talkshows mit Parteipolitiker*innen debattieren? Gibt es dabei unterschiedliche Rollenverständnisse zwischen Politikwissenschaftler*innen an Universitäten und ihren Kolleg*innen in den Think-Tanks?

  1. Aufgabe der Politikwissenschaft:

Worin besteht die gesellschaftliche Aufgabe der Politikwissenschaft in Kriegszeiten? Können sich unterschiedliche Teile der Disziplin auf einen Minimalkonsens professioneller Ethik einigen, was das öffentliche Sprechen über Krieg und Frieden anbelangt? Wie kann die Politikwissenschaft dazu beitragen, dass in der Öffentlichkeit kontrovers, aber konstruktiv über Sicherheits- und Friedenspolitik gestritten wird?

  1. Qualität der Wissenschaftskommunikation:

Wie präzise waren die sicherheitspolitischen Einschätzungen, die aus den Reihen der Politikwissenschaft seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine kamen? Waren sie zu sehr von einer militärischen Logik geleitet und von Wunschdenken geprägt oder lagen sie in den großen Fragen richtig und wurden von der Politik bloß nicht ausreichend umgesetzt? Wie hat die „Zeitenwende“ die Politikwissenschaft verändert und wie sollte sie mit dem ausgerufenen Imperativ der „Wehrhaftigkeit“ umgehen?

  1. Blinde Flecken und Einseitigkeit:

Was sagt uns das unterschiedliche Ausmaß der Solidaritätsbekundungen und Sichtbarkeit zwischen dem Ukraine- und dem Gaza-Krieg aus bzw. in den Reihen der Politikwissenschaft? War die deutsche Politikwissenschaft zu staatsräsonierend und schweigsam bei der Benennung von Kriegsverbrechen, wenn diese von Israel und nicht von Russland begangen wurden? Wie verhielt sich die Politikwissenschaft gegenüber den zahlreichen Absagen von Veranstaltungen an Universitäten im Kontext des Gaza-Kriegs? Wie können Wissenschaftler*innen dazu beitragen, Aufmerksamkeit für Kriege zu erzeugen, die kaum im medialen Fokus stehen?

  1. Repräsentation:

Spiegelt sich die normative, methodische und forschungspraktische Vielfalt der Disziplin in ihrer medialen Vermittlung angemessen wider? Wie kann es gelingen, unterrepräsentierten und marginalisierten Perspektiven in der Wissenschaftskommunikation mehr Geltung zu verschaffen? Wo bestehen in dieser Hinsicht die größten Defizite? 


Anmerkungen:

[1] Fix, Liana/ Kundnani, Hans (2025): Hat die Berliner Bubble im Ukraine-Krieg versagt? In: Internationale Politik, online unter: https://internationalepolitik.de/de/hat-die-berliner-bubble-im-ukraine-krieg-versagt [letzter Zugriff: 10.09.2025]

[2] Ebd.

[3] Habermas, Jürgen (2023): Ein Plädoyer für Verhandlungen, in: Süddeutsche Zeitung, online unter: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/juergen-habermas-ukraine-sz-verhandlungen-e159105/?reduced=true [letzter Zugriff: 10.09.2025]



DOI: https://doi.org/10.36206/BS25.1
CC-BY-NC-SA