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Rezension / 16.01.2025

Frieder Vogelmann: Umkämpfte Wissenschaften – zwischen Idealisierung und Verachtung

Stuttgart, Reclam 2024

Über die Rolle von Wissenschaft in der Öffentlichkeit wird viel und heftig gestritten. Gegen die Leugnung „der Wissenschaft“ würden ihre Verteidiger*innen dabei häufig ein verzerrtes Idealbild errichten, kritisiert Frieder Vogelmann und plädiert für ein realistisches Verständnis wissenschaftlicher Praktiken jenseits von Idealisierung und Verachtung. „Bestechend“, lobt unser Rezensent Nils Kumkar, weil es dem Essay eindrucksvoll gelinge, den wissenschaftlichen Stand unseres Wissens über die Produktion wissenschaftlicher Wahrheiten einem breiten Publikum zu vermitteln.

Eine Rezension von Nils C. Kumkar

Vor nun beinahe 100 Jahren veröffentlichte der US-amerikanische pragmatistische Philosoph John Dewey eine überarbeitete Version einer Vorlesung, die kürzlich unter dem Titel „Die Öffentlichkeit und ihre Probleme“[1] vom Suhrkamp Verlag wieder aufgelegt wurde. Das Buch schließt mit einem Plädoyer für eine demokratische Öffentlichkeit und gegen die Idee einer Expert*innenherrschaft. Bedingung dafür wäre allerdings, dass die politische Öffentlichkeit intellektuell befähigt würde, sich und ihr Handeln in allen seinen Nebenfolgen so gut zu verstehen, dass sie darüber auch informiert entscheiden könne. Mangelnde intellektuelle Kapazitäten der ‚Leute‘ lässt er dabei als Einwand nicht gelten: Diese seien eben so intelligent wie die sozialen Verhältnisse, in denen und über die sie sich verständigen müssten[2], und es sei eben auch eine wichtige Funktion der Wissenschaften, die Menschen dabei zu unterstützen.

Die ungebrochene Aktualität des so aufgeworfenen Problems, wie die „Wahrheit der Gesellschaft“ sich auch darüber konstituiert, wie öffentlich über Wissenschaft diskutiert werden kann und wie die Wissenschaft selbst in die Öffentlichkeit wirkt, dürfte selbst bei nur kursorischer Lektüre des politischen Feuilletons der letzten Jahre unmittelbar einleuchten: Debatten um die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit[3], um eine vermeintliche Cancel Culture[4], um sogenannte „alternative Fakten“[5] oder die Frage eines post-truth-Zeitalters[6] – sie alle drehen sich, mal implizit, mal explizit, um die Frage, was Wissenschaft in unserer politischen Öffentlichkeit eigentlich (nicht) sein und (nicht) machen sollte.

Gegen Verachtung und Idealisierung „der Wissenschaft“ …

Frieder Vogelmanns, aus der Überarbeitung seiner Antrittsvorlesung für eine Privatdozentur an der Goethe-Universität Frankfurt hervorgegangener und 2023 im Reclam Verlag veröffentlichter Essay „Umkämpfte Wissenschaften – zwischen Idealisierung und Verachtung“ interveniert in diese in den letzten Jahren intensiv geführte Debatte um den Stellenwert und die Funktion wissenschaftlichen Wissens in der politischen Öffentlichkeit in der politischen Öffentlichkeit. Falls Sie über die Dopplung im letzten Satz gestolpert sein sollten – hier hat sich kein Fehler eingeschlichen, sondern diese Dopplung ist als Re-Entry vielleicht das wichtigste Merkmal des Essays: Es entwickelt, ganz im Sinne von Deweys Plädoyer, eben nicht nur (aber auch!) ein wissenschaftstheoretisch originelles Argument, sondern es entwickelt dieses Argument in dichter, aber auch für Lai*innen ohne großes wissenschaftstheoretisches Vorwissen leicht verständlicher Form.

Vogelmann selbst fasst das Anliegen seines Essays in zwei Kernthesen zusammen (14):[7] (i) Es gelte gegen die Idealisierung der Wissenschaft eine realistische Auffassung wissenschaftlicher Praktiken zu entwickeln, (ii) die zugleich erlaube, wissenschaftliche Wahrheiten gegen die Verächter*innen der Wissenschaft zu verteidigen.

… für ein realistisches Bild wissenschaftlicher Praktiken

In vier Kapiteln wird dieses Argument entfaltet und geprüft: Zunächst umreißt Vogelmann an den drei Fällen der organisierten Klimawandelleugnung, der Impfgegnerschaft und „der politisch durchgesetzten Ignoranz“ (am Beispiel der vom Bundesinnenministerium verhinderten Studie zu Rassismus in der Polizei) das Problemfeld der Wissenschaftsverachtung. Das zweite Kapitel „Idealisieren“ zeigt in Auseinandersetzung vor allem mit den wissenschaftstheoretischen Debatten um die Abgrenzung „der Wissenschaft“, dass die politische Verteidigung gegen die Verächter*innen wissenschaftlichen Wissens oft Gefahr läuft, eben einer vereinfachenden Idealisierung aufzusitzen und damit letzten Endes einen „Popanz“ zu verteidigen (46), der wissenschaftstheoretisch eigentlich schon lange erledigt ist – weil man mittlerweile wissen könnte, dass es eben den einen Maßstab, an dem die Güte wissenschaftlichen Wissens objektiv vermessen könnte, praktisch nicht gibt, weil die Güte immer sozial situiert in bestimmten Hinsichten bestimmt und ausgehandelt wird.

Folgerichtig plädiert das dritte Kapitel für „ein realistisches Bild wissenschaftlicher Praktiken“, das dem Umstand Rechnung trägt, dass es „die Wissenschaft“ nicht gibt und nicht geben kann, sondern dass es sich vielmehr um eine eher von Familienähnlichkeiten zusammengehaltene Menge wissenschaftlicher Praktiken handelt, die in ihrer Vielfalt zunächst einmal angenommen werden müssen, wenn man sie verstehen und ihre Wahrheiten verteidigen will.

Dabei hebt Vogelmann überzeugend hervor, dass sich daraus mitnichten Relativismus ergeben muss, – sondern dass es umgekehrt gerade eine „nichtsouveräne Erkenntnistheorie“, die also darauf verzichtet, einen objektiv außerhalb der sozialen Prozesse, in denen Wissenschaftlichkeit ausgehandelt wird, zu hypostasierten, erst ermöglicht, Abstand von illusionären Standards zu nehmen, „die keine wissenschaftliche Praxis jemals erfüllen kann“ (69) und stattdessen das – im vierten Kapitel konzeptuell entwickelte – Wirken von Wahrheit als Kraft als „bescheidenes Abgrenzungskriterium“ (78) in den Blick zu nehmen. Nachdem an den drei eingangs eingeführten Fällen der Wissenschaftsverachtung demonstriert wurde, dass dieses Kriterium durchaus dafür taugt, Pseudowissenschaft von wissenschaftlichen Praktiken abzugrenzen, schließt das Buch mit einem Plädoyer gegen „Reinheitsgebote“ und dafür, die Komplexität der sozialen Aushandlungen darüber, was als wissenschaftliche Wahrheit Wirkung entfalten kann, in den Blick zu nehmen.

Dialektik von Idealisierung und Verachtung

Die Auswahl der drei Fälle der Wissenschaftsverachtung ist äußerst geschickt, weil sie die oft in Überlegungen zur „Wissenschaftsskepsis“ mindestens implizit mitlaufende Psychologisierung unterläuft: Denn ob jemand aus – wirtschaftlichen oder politischen Interessen – eine wissenschaftliche Erkenntnis leugnet; ob jemand seine eigenen Plausibilitätsannahmen oder Befürchtungen gegenüber einer medizinischen Maßnahme in Anschlag bringt und dabei die wissenschaftlichen Argumente für diese Maßnahme vom Tisch wischt; oder ob aus Angst vor den politischen Folgen vonseiten der Regierung die Produktion bestimmter wissenschaftlicher Wahrheiten unterbunden wird: Die Gemeinsamkeit dieser Fälle liegt ja nicht in den anzunehmenden Bewusstseinsinhalten ihrer Protagonist*innen. Im ersten Fall dürften diese sehr wohl wissen, was sie tun; im zweiten wohl eher nicht; und im dritten Fall wissen sie wohl zumindest, dass sie es nicht so genau wissen wollen. Zugleich zeigt sich aber an allen drei Fällen, dass die in diesen Praktiken dokumentierte Verachtung wissenschaftlicher Wahrheiten politisch wirksam werden kann, indem die entsprechenden Akteure mit öffentlichem Unwissen darüber kalkulieren, was wissenschaftliche Praktiken ausmacht und woran man gegebenenfalls ihre Güte bemessen kann.

Man mag sich fragen, ob Vogelmann die Dialektik von Idealisierung und Verachtung, die er ins Zentrum seiner Überlegungen stellt, nicht zumindest stellenweise zu sehr auf die Idealisierung als Problem hin zuspitzt – mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass für ihn die Wissenschaftsverachtung ohne den von ihm kritisierten „nostalgische[n] Positivismus“ (32) kaum eine Wirkung entfalten könnte – aber, dass es eben eine Dialektik zwischen den beiden gibt, das hält er ohne Frage zurecht fest.

Ein Essay, der einlöst, was er fordert

Bestechend an dem Essay ist vor allem die gerade bei Büchern, die auf ein breiteres Publikum zielen und dennoch ihren wissenschaftlichen Anspruch nicht hintenanstellen, so nicht häufig anzutreffende geglückte Einheit von Form und Inhalt: Als zugängliches und engagiertes Plädoyer für eine nicht-souveräne, demokratische Perspektive auf wissenschaftliche Praktiken führt der Essay selbst vor, was er einfordert und demonstriert dabei eben auch, dass diese Forderung nicht nur berechtigt, sondern auch erfüllbar ist. Denn in der Tat muss man konstatieren, dass gerade die öffentliche Verteidigung der Wissenschaft gegen ihre Verächter*innen oft mit einem Bild wissenschaftlicher Praxis argumentiert, das weit hinter den wissenschaftlich (!) längst etablierten Stand unseres Wissens über diese Praktiken zurückfällt.

Zumindest das Argument, dass die Komplexität des Gegenstandes die Öffentlichkeit überfordern würde, kann man nach der Lektüre dieses Essays nicht mehr gelten lassen: Denn gerade wenn man von den Menschen verlangt, dass sie selbst in der Lage sein sollten, wissenschaftliche Wahrheiten als solche zu erkennen und kritisch beurteilen zu können, dann muss man sie in diese Lage auch versetzen, indem man ihnen das Wissen darüber, wie diese Wahrheiten produziert werden und was sie ausmacht, nicht vorenthält. Über die konkreten Inhalte dieses Wissens kann und wird wissenschaftlich und politisch weiter gestritten werden, (wie auch darüber, ob dieser Streit nun eigentlich wissenschaftlich oder politisch ist) – aber das relativiert die Erkenntnisse ja nicht ex-ante, sondern ist genau der Weg, über den die schwache Kraft der wissenschaftlichen Wahrheit überhaupt zur Geltung kommen kann.

Es ist der Kürze des Formats und der philosophischen Flughöhe, aber eben auch der konstitutiven Reflexivität des Gegenstandes – die öffentliche Wirksamkeit von Wissen über Wissen – geschuldet, dass Leser*innen nach der Lektüre des Essays wahrscheinlich mehr Fragen zu den ganz konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen über Wissenschaft gestritten wird, sowie dazu, welches Wissen wann wirkt (und welches nicht), haben dürften als davor. Aber es sind eben auch interessantere Fragen.


Anmerkungen:

[1] Dewey, John (2024): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme. Berlin, Suhrkamp.

[2] Kumkar, Nils C. (2024): „Vernunft als Funktion: Rezension zu ‚Die Öffentlichkeit und ihre Probleme‘ von John Dewey“. Soziopolis: Gesellschaft beobachten.

[3] Strohschneider, Peter (2020): Zumutungen: Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie. Hamburg, kursbuch.edition.

[4] Daub, Adrian (2023): Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.

[5] Kumkar, Nils C. (2022): Alternative Fakten: Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung. Berlin, Suhrkamp.

[6] McIntyre, Lee (2018): Post-Truth. Cambridge, MIT Press.

[7] Vogelmann selbst schreibt von drei Thesen, von denen die dritte allerdings – „Wer ohnehin keine der beiden Extrempositionen vertreten will, lernt eine Möglichkeit kennen, wissenschaftliche Ergebnisse begründet anzuerkennen und in demokratische Prozesse einzubeziehen, ohne auf ihre Kritik verzichten zu müssen“ – zwar ohne Frage zutreffend beschreibt, was das Buch leistet, aber strenggenommen keine These ist.



DOI: 10.36206/REZ25.3
CC-BY-NC-SA
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