Schlaglichter vom DVPW-Kongress 2024: Politikwissenschaftliche Selbstreflexion
Vom 24. bis zum 27. September 2024 fand an der Universität Göttingen unter dem Titel „Politik in der Polykrise” der Kongress der der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) statt. Aufgrund der Menge an Inhalten können wir die vier Kongresstage nicht in ihrer Gesamtheit abbilden. Stattdessen veröffentlichen wir kurze Panelberichte unterschiedlicher Autor*innen als „Schlaglichter“, um das Kongressgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Im letzten Teil der Serie berichten Wilhelm Knelangen (Universität Kiel) und David Kirchner (Portal für Politikwissenschaft) über zwei Roundtables, die sich der Selbstreflexion der Politikwissenschaft angesichts der Krise der konstitutionellen Demokratie und des Ukraine-Kriegs gewidmet haben.
In der Krise der konstitutionellen Demokratie: Was können wir von den Göttinger Sieben und anderen „politischen Professoren“ lernen?
Ein Schlaglicht von Wilhelm Knelangen
Dass sich die Wissenschaft in die Politik einmischt, hat an der Göttinger Universität eine lange Geschichte – nicht immer eine rühmliche. Daran erinnerten eingangs des Roundtables Tine Stein und Andreas Busch (beide Universität Göttingen). 1837 hatten hier sieben Professoren, unter ihnen der Professor für Politik, Friedrich Christoph Dahlmann, gegen die Aufhebung der Verfassung durch den König von Hannover protestiert. 1933 beeilte sich Friedrich Neumann, neuer Rektor der Universität, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die Säuberung des Lehrkörpers von jüdischen und politisch missliebigen Personen durchzusetzen, ohne dass er auf nennenswerten Widerstand stieß. Unter ihnen war 1935 auch Gerhard Leibholz, der später nach Großbritannien floh, 1947 nach Göttingen zurückkehrte und ein wichtiger Vordenker der Idee des Parteienstaates wurde. Als Leonhard Schlüter, ein rechtsradikaler Verleger aus Göttingen, 1955 für die FDP als niedersächsischer Kultusminister ins Amt kam, traten Rektor, Senat, Dekane und AStA der Universität aus Protest geschlossen zurück. Schlüter gab sein Amt schließlich auf.
Mit dem rechten Verhältnis zur Politik ist es für die Wissenschaft mithin so eine Sache. Das zeigte sich auch in den Beiträgen des Roundtables. Während sich allgemeine Prinzipien und Leitsätze vergleichsweise leicht formulieren lassen, kann es im konkreten Fall kompliziert werden. Wo genau die Grenze zwischen begründeter wissenschaftlicher Stellungnahme für eine (möglicherweise sogar gute) Sache und dem politischen Aktivismus unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit liegt, ist eine schwierige Frage. Das gilt erst recht für die Politikwissenschaft, die sich ja schon ihrem Namen nach mit der Politik und dem Politischen beschäftigt und deshalb zu Recht aus der Öffentlichkeit zu diesem Thema angefragt wird. Welche Rolle kommt ihr in Zeiten der „Polykrise“ zu? Kann und soll sich das Fach angesichts der drängenden, sich überlappenden und wechselseitig verstärkenden Problemlagen von Klimawandel, demokratischem Vertrauensverlust bis zur nachlassenden Handlungsfähigkeit der staatlichen Institutionen öffentlich das Wort ergreifen, sich einmischen und Ratschläge erteilen – oder wäre damit die eben benannte Grenze bereits überschritten?
Die eingeladenen Sprecherinnen setzten zu dieser Frage unterschiedliche Akzente. Schon die Vorstellung von Gesine Schwan ließ ahnen, in welche Richtung sie argumentieren würde. Sie war Professorin für Politische Philosophie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, danach Präsidentin der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder, Koordinatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, zweimal sozialdemokratische Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin, Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, sie kandidierte zuletzt für den Vorsitz ihrer Partei und ist aktuell Präsidentin der Berlin Governance Platform. Politikwissenschaft, so ihre zentrale These, solle sich in die öffentliche Debatte einmischen und sich für eine Stärkung der Demokratie einsetzen. Notwendig sei dabei aus wissenschaftlicher Sicht, eigene Annahmen offen zu legen und Positionen präzise zu begründen. Am Beispiel ihrer eigenen Projekte für kommunale Entwicklungsbeiräte, in denen Bürgerinnen und Bürger Erfahrungen im Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen sammeln können, hob sie hervor, dass es gelingen könne, die Akzeptanz demokratischer Institutionen zu stärken.
Für Nicole Deitelhoff befindet sich Wissenschaft ebenso wie die Politik in einer Vertrauenskrise. Das habe Auswirkungen darauf, wie Wissenschaft in der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Deitelhoff hat als Professorin an der Universität Frankfurt/Main, als geschäftsführende Vorsitzende des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung und als Sprecherin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt politische Parteien beraten und jüngst in zahlreichen Talkshows und öffentlichen Veranstaltungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Stellung genommen. Sie betonte die Gefahr, dass wissenschaftliche Aussagen in polarisierten und moralisierten Diskussionen zwar immer stärker nachgefragt, aber nur noch als Positionierungen im politischen Meinungsstreit wahrgenommen werden. Die Politikwissenschaft sei der Förderung der Demokratie verpflichtet. Als wissenschaftliche Disziplin sei sie aber nicht dafür zuständig, einer politischen Position zur Durchsetzung zu verhelfen, sondern könne einen Mehrwert leisten, deren leitende Annahmen und mögliche Konsequenzen aufzuzeigen. Schon das, so machte Deitelhoff klar, sei in der erregten Welt der sozialen Medien vielfach mit Gegenwehr und Anfeindungen verbunden.
Für eine klare Grenzziehung zwischen der politischen und wissenschaftlichen Arena plädierte Tanja Börzel, Professorin für Politikwissenschaft und Direktorin des Exzellenzclusters „Contestation of the Liberal Script“ an der FU Berlin. Auch die Politikwissenschaft befinde sich in der „Polykrise“. Sie hob auf der einen Seite hervor, dass die Freiheit der Wissenschaft für die liberale Demokratie eine schlechthin konstituierende Rolle spiele. Auf der anderen Seite betonte sie jedoch, dass diese Rolle auf einer klaren Abgrenzung zwischen Wissenschaft und politischem Engagement basiere. Die Kritik an der Wissenschaftsfreiheit resultiere üblicherweise aus der Wahrnehmung von Grenzverletzungen zwischen den beiden Sphären, die Gegenwehr hervorrufe. Deswegen sei es wichtig, zwischen der Freiheit der Meinung und der Freiheit der Wissenschaft zu differenzieren. Anders als eine Parteinahme für eine politische Aussage müsse eine wissenschaftliche Aussage den Kriterien der Wissenschaftlichkeit entsprechen.
In einer zweiten Runde sollten die Sprecherinnen sich zu Möglichkeiten und Fallstricken wissenschaftlicher Politikberatung äußern. Gesine Schwan bekräftigte ihre Ansicht, dass sich die Politikwissenschaft auch außerhalb von Universitäten und Hochschulen einbringen solle. Für das Fach beanspruchte sie gerade in Zeiten stürmischer Auseinandersetzungen die Aufgabe, eine sachliche Debatte durch die Erörterung von Handlungsalternativen und ihren Rationalitäten zu führen. Das setze voraus, die eigenen theoretischen Annahmen transparent zu machen. Dabei sei zum einen zentral, dass der Unterschied zwischen politischen Entscheidungsträgern und der wissenschaftlichen Beratung jederzeit klar sei, zum anderen dürfe sich das Engagement nicht auf die Regierungen und Parlamente beschränken, sondern solle ebenso die Zivilgesellschaft adressieren. Tanja Börzel teilte zwar die Einschätzung, dass die Politikwissenschaft in der Lage sei, zur Identifikation von politischen Lösungen einen Beitrag zu leisten. Sie insistierte aber darauf, dass das auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen geschehen müsse und nicht etwa auf der Basis moralischer Urteile und politischen Haltungen. Nicole Deitelhoff stimmte der Forderung zu, die wissenschaftliche Tragfähigkeit der eigenen Aussagen und die erkenntnisleitenden Interessen offenzulegen, gab aber zugleich zu bedenken, dass viele öffentliche Formate genau das kaum zuließen. Als eine Gefahr für eine in der Öffentlichkeit stehende Politikwissenschaft markierte sie zudem, dass sich politische Akteure die ihnen jeweils genehmste Positionen heraussuchen und als legitimatorischen Mantel ihrer Position missbrauchen könnten.
Angesichts dieser Ausführungen machte sich eine gewisse Ratlosigkeit im Hörsaal breit. Waren die drei Sprecherinnen im Grunde einer Meinung und akzentuierten lediglich unterschiedlich? Oder standen sich verschiedene Auffassungen vom Fach und seinen Aufgaben gegenüber? Die anschließende Diskussion trug zur Klärung bei. Annette Töller (Universität Hagen) berichtete über ihre Erfahrungen im Sachverständigenrat Umwelt, während Achim Goerres (Universität Duisburg-Essen) an das Problem erinnerte, dass der weitaus größte Teil der politikwissenschaftlich Tätigen sich auf befristeten Stellen befinde. Liesbeth Zimmermann (Universität Frankfurt am Main) fragte aus der Perspektive der kritischen Theorie, ob es nicht ein aussichtsloses Unterfangen sei, die Grenze zwischen Wissenschaft und politischem Aktivismus präzise zu ziehen. Hilfreich war schließlich der Hinweis von Hubertus Buchstein (Universität Greifswald), hinter der Kontroverse zwischen den Referentinnen verberge sich eine Frage, die im ganzen Fach umstritten ist: Wie wahrheitsfähig sind moralische Aussagen, und: stehen sie einer wissenschaftlichen Diskussion offen? Während Tanja Börzel moralische Fragen allenfalls in der politischen Theorie beheimatet sah, kritisierte Gesine Schwan die in Börzels Aussage angelegte Trennung von politischer Theorie und empirischer Forschung. Es komme aber darauf an, mit Max Weber zwischen Sachurteil und moralischem Urteil zu trennen sowie die jeweils zugrunde liegenden Bewertungsgrundlagen offenzulegen. Das war Nicole Deitelhoff zu wenig, denn das könne auch für journalistische Arbeiten beansprucht werden. Wissenschaftliche Aussagen zeichneten sich aber durch besondere Gütekriterien aus.
Was nun von den „politischen Professoren“ zu lernen ist? Die Debatte des Roundtables ging diesem Impuls, wie er in der Einleitung durch Tine Stein und Andreas Busch gesetzt worden war, am Ende aus dem Weg. Stattdessen konzentrierten sich die Beitragenden darauf, den Grenzbereich von politischem Aktivismus und freier Wissenschaft besser auszuleuchten. Offensichtlich wurde dabei, dass die Klärung der Frage, wo genau diese Grenze liegt und wie sie aussieht, weiterer Bemühungen bedarf.
Let’s talk about war! - Der Krieg in der Ukraine als Erfahrung einer professionellen Krise
Ein Schlaglicht von David Kirchner
Wer sich über den Krieg in der Ukraine medial informiert, wird dabei zwangsläufig auf viele Politikwissenschaftler*innen stoßen, die in ihrer professionellen Eigenschaft als „Expert*innen“ prominent in die öffentliche Verarbeitung des Krieges involviert sind. Vor diesem Hintergrund wollte der Roundtable „Let’s talk about war“ explizit keine sicherheitspolitische Analyse des Kriegsgeschehens leisten, sondern eine dringend notwendige Selbstreflexion über die Rolle, die Ethik und das Selbstverständnis der Politikwissenschaft bei der Erforschung und massenmedialen Einordnung von Krieg und Frieden anstoßen. „Let’s talk about us in times of war“ wäre wohl ein programmatisch noch passenderer Titel gewesen.
Bei einer solchen Auseinandersetzung spielen persönliche Überzeugungen, Emotionen und Erfahrungen der Diskutant*innen naturgemäß eine wichtige Rolle. Hinzu kommt, dass die Redner*innen, die allesamt aus der Sicherheitsforschung sowie der Friedens- und Konfliktforschung stammen, sich in Bezug auf öffentliche Exponiertheit, persönliche Involviertheit und forschungspolitisches Selbstverständnis erheblich unterscheiden. Um eine möglichst offene Auseinandersetzung zu ermöglichen, fand die Diskussion daher unter Einhaltung der Chatham-House-Regel statt, die besagt, dass die Identität oder die Zugehörigkeit der Sprechenden nicht preisgegeben werden darf. Im Schutz dieser Regel entstand eine lebhafte, kontroverse und teilweise emotionale Debatte, deren große Linien hier nur grob dargestellt werden können. Bemerkenswert und als Ausdruck einer gewissen Vielschichtigkeit war zu beobachten, wie schnell die „Allianzen“ auf dem Podium wechselten. Wissenschaftler*innen, die eben noch energisch ihre Übereinstimmung betonten, fanden sich teilweise nur wenige Minuten später an unterschiedlichen Polen einer Konfliktlinie wieder.
Der erste Themenkomplex betraf das Verhältnis von Wissenschaft und Aktivismus. Immer wieder kehrte die Diskussion zu der Frage zurück, ob Wissenschaftler*innen auch aktivistisch tätig sein dürfen und falls ja, ob der Aktivismus auch im Prozess der Wissensproduktion und -vermittlung zulässig sei oder ob es einer klaren Trennung bedürfe. Auch die Frage, wo überhaupt die Grenzen zwischen politischem Aktivismus, einer wissenschaftlich informierten politischen Forderung und der wissenschaftlichen Erforschung eines politischen Gegenstands verlaufen, wurden diskutiert. Leider geschah dies jedoch kaum systematisch, sondern verblieb vor allem im Modus der engagierten Darstellung der eigenen subjektiven Position: Max Webers Postulat der „Werturteilsfreiheit“ und das Idealbild des abgeklärten Wissenschaftlers auf der einen, engagierte Wissenschaft als kritische Aktivität auf Basis der Standorttheorie in Solidarität mit Betroffenen auf der anderen Seite. In diesen recht erwartbaren Bahnen spielte sich die Diskussion ab. Interessant wurde es hingegen vor allem an den Stellen, an denen es um konkrete Probleme ging. Dazu zählt etwa die Frage, wie Betroffenenperspektiven strukturell stärker in die Forschungspraxis westlicher Wissenschaftler*innen integriert werden können oder was die unterschiedlichen Ausmaße der trauernder Anteilnahme an den zivilen Toten in Gaza und der Ukraine erklärt.
Der zweite Themenkomplex betraf die Bedeutung der politikwissenschaftlichen Regionalstudien und damit die Frage, welche Art von Expertise es überhaupt bedarf, um Konflikte zu untersuchen und öffentlich einzuordnen. Auf dem Podium herrschte Einigkeit, dass die Regionalstudien, im konkreten Fall die Osteuropastudien, für ein tiefgehendes Verständnis des Ukraine-Krieges entscheidend seien. Ohne die regionenspezifische Unterfütterung, so die Argumentation, seien beispielsweise die großen Theorien der Internationalen Beziehungen mit ihrem hohen Abstraktionsniveau für analytische Fehlschlüsse prädestiniert. Vor diesem Hintergrund sei umso dramatischer, dass es viel zu wenig Regionalstudien gebe und diese in Friedenszeiten zu häufig despektierlich als „Orchideenfach“ behandelt würden. An diesem Punkt regte sich entschiedener Widerspruch von Osteuropaforscher*innen aus dem Publikum, die darauf verwiesen, dass das Problem nicht im Forschungsmangel, sondern in der unzureichenden Rezeption der Regionalstudien liege.
Ein weiteres Themenfeld betraf das Verhältnis von Feminismus und Militär. Auf der einen Seite wurde die Position vertreten, dass der systematische Einsatz von sexueller Gewalt durch die russische Armee bei der Invasion der Ukraine eine entschiedene feministische Gegenwehr erfordere, die im konkreten Fall die Ausweitung der Lieferung von Waffen an die Ukraine notwendig mache. Auf der anderen Seite wurde zu bedenken gegeben, die Erkenntnisse der feministischen Konfliktforschung nicht zu vergessen, die zeigten, dass der Militarisierung von Konflikten immer eine maskulinistische Logik zugrunde liege.
Obwohl eine etwas systematischere Herangehensweise der Diskussion sicher gutgetan hätte, könnte es diesem Roundtable gelungen sein, eine verstärkte Selbstreflexion innerhalb der Politikwissenschaft zu diesem Thema anzuregen. Gerade vor dem Hintergrund politischer Wehrhaftigkeitsimperative und der Wahrnehmung der Politikwissenschaft als zu handzahm und konform in Teilen der Disziplin ist eine stärkere Auseinandersetzung über diese Fragen überfällig.
Das Fach Politikwissenschaft
Weiterführende Links
„Politik in der Polykrise“
Webseite des 29. Wissenschaftlichen Kongresses der DVPW an der Georg-August-Universität in Göttingen
Mehr zum Themenfeld Das Fach Politikwissenschaft