Schlaglichter vom DVPW-Kongress 2024: Sicherheitspolitik
Vom 24. bis zum 27. September 2024 fand an der Universität Göttingen unter dem Titel „Politik in der Polykrise” der Kongress der der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) statt. Aufgrund der Menge an Inhalten können wir die vier Kongresstage nicht in ihrer Gesamtheit abbilden. Stattdessen veröffentlichen wir kurze Panelberichte unterschiedlicher Autor*innen als „Schlaglichter“, um das Kongressgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. In diesem Beitrag berichten Johannes Peters (Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel) und Oliver Drewes (Universität Trier) über zwei sicherheitspolitischen Panels.
Rüstungsdynamiken und Abschreckung – Krisen, Trends und Perspektiven
Ein Schlaglicht von Johannes Peters
Das trotz der undankbaren Zeit am Freitagnachmittag gut besuchte Panel diskutierte die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die internationale Rüstungskontrolle. Ausgangspunkt war dabei die These, dass diese in einer tiefen Krise stecke und stattdessen wirksame militärische Abschreckung das (politische) Gebot der Stunde sei. Eine reine Fokussierung auf den 22. Februar 2022 und seine Folgen würden dabei der Tragweite der Entwicklungen in Rüstung und Rüstungskontrolle sowie den nötigen neuen Perspektiven auf Abschreckung keineswegs gerecht.
Verstärkend zu seit längerem identifizierbaren Trends bei nuklearen und konventionellen Waffen (den „klassischen“ Bereichen der (Ab-)Rüstungskontrolle), kämen Dynamiken in verschiedenen militärischen Sektoren hinzu, welche Abrüstungs- und Rüstungskontrollbemühungen global stark unter Druck setzten. Neben den Krisen der traditionellen Rüstungskontrollarchitektur bei Nuklear-, Bio- und Chemiewaffen, Streumunition oder Minen würden zunehmende militärische Applikationen von neuen Technologien wie KI, Drohnen sowie satellitengestützter Aufklärung und Kommunikation neue Fragen nach den sicherheitspolitischen Implikationen sowie angepassten Strategien und Konzepten zur wirksamen Abschreckung aufwerfen.
Zusätzliche Komplexität ergebe sich durch die Erweiterung der klassischen Gefechtsfelder Luft, Land und See durch neue Bereiche wie den Cyber- und Informationsraum, Space oder den Unterwasserbereich. Hinzu kämen eine breitere Proliferation von Dual-Use-Technologie und eine damit einhergehende Erweiterung der Akteure in den substaatlichen bzw. privaten Bereich. Dies erfordere nicht nur militärische Anpassungen, sondern impliziere auch politische Handlungsherausforderungen und regulatorischen Anpassungsdruck. Diskutiert wurden dazu vier Papiere, wobei sich zwei mit nuklearer Abschreckung bzw. Rüstungskontrolle befassten, sowie je eines mit politischen Prozessen in der deutschen Rüstungsdebatte und dem Unterwasserbereich als sich rasch verändernder neuer „warfare area“.
Dr. Alexander Greafs (IFSH) Papier „Nukleares Rauschen und die strategische Kommunikation Russlands: Die Kunst der Risikomanipulation im Krieg gegen die Ukraine“ setzte sich mit der russischen Rhetorik um eine mögliche nukleare Eskalation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auseinander. Er untersuchte dabei sowohl das Verhältnis zwischen eskalatorischen und deeskalatorischen Statements, als auch von welchen russischen Akteuren diese getätigt wurden und werden.
Tim Thies (ebenfalls IFSH) betrachtete in seinem Papier „Ross oder Reiter? Atomwaffen in der wissenschaftlichen Literatur“ verschiedene Ansätze zur Überwindung der Krise der nuklearen Rüstungskontrolle. Dabei fokussierte er zum einen auf reformatorische Kräfte, die auf eine Neuverhandlung von Rüstungskontrollmechanismen setzen und zum anderen auf abolitionistische Bestrebungen, die ein generelles Atomwaffenverbot anstreben.
Dr. Jens Heinrich-Fuchs (Universität Rostock) Papier „The Reluctant Supplier: Deutsche Rüstungsexporte im Lichte konkurrierender Theorien“ näherte sich der Frage, warum Deutschlands militärische Unterstützung für die Ukraine so zögerlich erfolgt beziehungsweise als so zögerlich wahrgenommen wird mittels verschiedener politiktheoretischer Ansätze.
Johannes Peters (ISPK) schließlich beleuchtete in seinem Papier „Seabed Warfare – Rüstungsdynamiken und Konzepte zur Einbettung in militärische Abschreckung“ den Unterwasserbereich als neue, dynamische „warfare area“ in der sich der Einfluss neuer Technologien, die Proliferation von Dual-Use-Technologie und der Übergang von Technologieführerschaft auf private Akteure exemplarisch manifestieren und neue Konzepte der militärischen Abschreckung nötig machen.
Den hilfreichen und nuancierten Anmerkungen der Diskutantin Antje Nötzold (TU Chemnitz) folgte eine lebhafte Diskussion mit dem Publikum, bei der sich methodisch-konzeptionelle Hinweise und interessierte inhaltliche Nachfragen angenehm die Waage hielten.
Nachrichtendienste im Lichte von Krisen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
Ein Schlaglicht von Oliver Drewes
Während in zahlreichen Panels des DVPW-Kongresses versucht wurde, die Mannigfaltigkeit der Polykrise zu erfassen, zu erklären und interpretieren, stellte das Panel „Nachrichtendienste im Lichte von Krisen und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ die Frage, wie die etwas unter dem politikwissenschaftlichen Radar fliegenden Nachrichtendienste eigentlich mit diesen Umständen umgehen und sich in und durch die Polykrise bewegen. In vier Beiträgen wurden unterschiedliche Facetten der nachrichtendienstlichen Arbeit unter die Lupe genommen.
Barbara Gruber (Universität Krems) ging der Beobachtung nach, dass Nachrichtendienste zunehmend den Rahmen ihrer Maßnahmen ausdehnen (Versicherheitlichung), wenn sie beginnen, Radikalisierungsprävention zu betreiben. Eine bedenkenswerte Konsequenz dieser sozialarbeiterischen Tätigkeit sei unter anderem, dass die Nachrichtendienste bereits an Informationen im Vorfeld ihrer sonstigen Tätigkeitsschwelle gelangten.
Einen seltenen Einblick in das Innenleben des Verfassungsschutzes bot Tobias Neef-Methfessel (Universität Göttingen). Er analysierte die Arbeits- und Organisationspraxis des niedersächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz gegenüber dem Rechtsextremismus zwischen 1950 und 1980. Durch seine Einblicke in Archivbestände konnte er zeigen, dass die Beobachtung rechtsextremer Milieus auch trotz dringender Hinweise auf Gewaltbereitschaft und Anschlagsplanungen inkonsequent vorgenommen wurde und in einem fragwürdigen Verhältnis zu der Aktivität gegenüber dem Linksextremismus stand.
Auch Eva Herschinger (Bundeswehr-Universität München) warf in ihrem Vortrag einen Blick in das Innere des Verfassungsschutzes. Seit der Pandemie führte der Verfassungsschutz die Kategorie „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein, die diejenigen Teile der damaligen Protestbewegungen, die im Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit stehen, nachrichtendienstlich erfassen soll. Wie geht die Behörde damit um, dass bisher „normale“ Bürgerinnen und Bürger, die in der Mitte der Gesellschaft zu stehen schienen, ohne zuvor erkennbares Gefährdungspotenzial nun Beobachtungsobjekte wurden? Herschinger untersucht die Eröffnung einer neuen Extremismuskategorie als eine soziale Praktik, die einen Begründungsanspruch mit sich bringt, weil der Verfassungsschutz auf diese Weise gegenüber der Bevölkerung ein bestimmtes Verständnis des verfassungsmäßig „Normalen“ artikuliert.
Dass die Außenkommunikation von Nachrichtendiensten nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern einen Zweck erfüllt, zeigte Thomas Doerfler (Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung). Er stellte die Frage, welche Adressaten und Funktionen sich in nachrichtendienstlicher Kommunikation identifizieren lassen. Exemplarisch am Fall des Social-Media Auftritts des britischen Verteidigungsministeriums wurden unter anderem forwarning, deterrence, shared awareness und die Kontrolle des Informationsraums als Funktionen der nachrichtendienstlichen Kommunikation erschlossen.
Obwohl die Polykrise, von der auf dem Kongress so viel die Rede war, Bedrohungslagen in vielfacher Hinsicht mit sich bringt, nahmen auffallend wenig Pandels diejenigen staatlichen Behörden und Institutionen in den Blick, die der demokratischen Gesellschaft helfen, durch die Polykrise zu navigieren. Auch wenn die Intelligence Studies eine Nische in der Politikwissenschaft einnehmen, hätten der Konferenz mehr Diskussionen dieser Art sicher nicht geschadet.
Das Fach Politikwissenschaft
Weiterführende Links
„Politik in der Polykrise“
Webseite des 29. Wissenschaftlichen Kongresses der DVPW an der Georg-August-Universität in Göttingen
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