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Rezension / 18.04.2024

Ronen Steinke: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht

Berlin, Berlin-Verlag 2023

Michael Kohlstruck sieht in dem vorliegenden Buch eine gelungene Aufarbeitung eines in Politik und Wissenschaft virulenten Themas für die breite Öffentlichkeit: Der Autor Ronen Steinke entfalte darin sowohl eine immanente Kritik des Verfassungsschutzes, die die Einlösung des Ziels einer „wehrhaften Demokratie“ durch die Behörde prüft, als auch eine radikale Kritik, die auf die Auflösung des Inlandsgeheimdienstes abzielt.

Der Journalist Ronen Steinke hat für ein breites Publikum ein kritisches Buch zum behördlichen Verfassungsschutz vorgelegt. Es ist pointiert geschrieben, gut verständlich und enthält anschaulich geschilderte Begebenheiten im Reportagestil, anonymisierte Berichte von Gesprächen mit Mitarbeitern des Inlandsnachrichtendienstes („Agenten und Agentinnen“), Ausblicke in die Frühgeschichte des Bundesamtes für Verfassungsschutzes, eine skandalisierende Darstellung des „Fall Hans-Georg Maaßen“ und einige analytische Überlegungen.

Sein Verdienst besteht in der breitenwirksamen Darstellung eines seit langem anhängigen Problems, eben der Aktivitäten des ebenso erfolgsarmen wie skandalträchtigen Inlandsnachrichtendienstes mit 16 Landesämtern und einem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Das Buch stand im Juli und August 2023 dreimal auf der Bestseller-Liste des „Spiegel“; im Februar 2024 wurde bereits die vierte Auflage verkauft; der Titel wurde vielfach in der Tagespresse sowie dem gehobenen Rundfunk vorgestellt. [1]

Zwei Argumentationslinien: Immanente und radikale Kritik

Die Streitschrift entwickelt zwei Argumentationslinien. Eine erste Linie setzt immanent an und bejaht das Prinzip der „militant democracy“, das sich auf Karl Loewensteins Überlegungen aus der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts beruft (vgl. Loewenstein 1937: 417-432, 638-658). Zu dieser Perspektive gehört die Einrichtung eines administrativen Verfassungsschutzes mit dem Auftrag der Beobachtung von legalen politischen Aktivitäten (29-38). Die Beobachtung erfolgt unter der Aufgabe, potenzielle künftige Gefährdungen der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ (fdGO) frühzeitig auch mittels nachrichtendienstlicher Methoden zu identifizieren und die Exekutive in Bund und Länder sowie nachrangig auch die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Was jeweils als „extremistisch“ klassifiziert werde, ist eine Frage der Politik, mithin also der aktuellen Machtverhältnisse (55-67).

Zu Recht wird betont, dass eine wirksame Kontrolle von Nachrichtendiensten, sei es durch Parlamente, sei es durch Gerichte, ein Widerspruch in sich selbst ist. Ein Geheimdienst kann schlechterdings nicht öffentlich kontrolliert werden (61-64). Die mit diesem Ansatz mögliche Kritik der tatsächlichen Arbeit des Verfassungsschutzes bezieht sich auf mangelnde Erfolge, auf die Beeinflussung der politischen Kultur durch die Publikationspolitik der Ämter durch die Verfassungsschutzberichte (101-103) sowie die Praxis der Überwachung oder das Hintertreiben polizeilicher Aufklärung von Straftaten, wie dies im NSU-Komplex der Fall war (165-174). Dazu gehört auch die Erinnerung an einige ältere Skandale um die Verfassungsschutzbehörden (149-164) und die Schranken ihrer Arbeit, die auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zurückgehen (35, 53, 83 f., 146, 208).

Bemerkenswert und auf der Höhe der Diskussion ist der Band hier mit seinen Verweisen auf das Urteil im zweiten NPD-Verbotsverfahren. Das Gericht hat dabei in Abkehr von einer älteren Entscheidung im Januar 2017 eine verschlankte Auffassung des Schutzgutes „fdGO“ vorgelegt, die nunmehr allein in der Trias von Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaat besteht (vgl. Wihl 2023). In der Konsequenz müsste dies als eine neue Vorgabe auch die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden einschränken. Davon kann nun allerdings nicht die Rede sein. Mit dem Konzept der so genannten „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ wurde 2021 sogar ein neues Beobachtungsfeld des „Dienstes“ definiert; darauf geht das Buch allerdings nicht ein (vgl. Goertz 2022, Murswiek 2022).

Radikaler ist die zweite Argumentation, mit der die Forderung des Bandes begründet wird, die Verfassungsschutzämter aufzulösen (208-210), die legalen politischen Aktivitäten nicht nachrichtendienstlich auszuspähen und die illegalen Handlungen sowie ihre unmittelbaren Vorbereitungen ausschließlich dem polizeilichen Staatsschutz zu überantworten. Mit ihren beiden Hauptaufgaben, der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr, ist die Arbeit der Polizei systematisch eng an konkrete Straftatbestände gebunden. Die Kontrolle ihrer Arbeit sei dadurch deutlich wirksamer als die des Verfassungsschutzes. Damit ist der Einsatz von V-Leuten oder verdeckten Ermittlern nicht ausgeschlossen, aber an präzisere Voraussetzungen gebunden als der Verfassungsschutz. Die Konzepte der „streitbaren“ bzw. der „wehrhaften Demokratie“ werden damit als historische Phänomene der Ideen- und Institutionengeschichte betrachtet, aber eben nicht mehr als maßgebliche Maximen innerhalb eines gefestigten liberalen Rechtsstaates.

Ein gelungenes populäres Sachbuch 

Steinkes Buch liefert für die immanente Kritik, die letztlich den Verfassungsschutz an einer kürzeren Kontrollleine führen möchte, als auch für die radikale Forderung nach seiner Auflösung einiges Material. Skandale und rechtswirksam festgestellte Rechtsverstöße (die nachgerade sprichwörtliche Pistole des Schmücker-Mordes (1974) im Tresor des Berliner Verfassungsschutzes fehlt allerdings, vgl. Remé 1991), Hinweise auf extremismusverdächtige Positionen des früheren Leitungspersonals (175-198) und die lange zurückliegenden berufsbiographischen Kontinuitäten vom Vorgängerregime zur jungen Bundesrepublik eignen sich zur Begründung einer immanenten Kritik. Grundsätzliche Überlegungen zur Meinungsfreiheit und zur freien politischen Betätigung im Rahmen der Gesetze stützen hingegen die Auflösungsforderung.

Ein populäres Sachbuch ist keine wissenschaftliche Analyse: Das Verhältnis der immanenten zur externen Argumentation wird nicht als solches thematisiert; die beiden Sichtweisen werden auch nicht als differente Perspektiven expliziert. Nahezu unsichtbar bleiben auch einige Riesen, auf deren Schultern die Forderung nach Auflösung der Verfassungsschutzbehörden steht: Die Humanistische Union hatte bereits 1981, 1991 und 2013 Memoranden vorgelegt, in denen sie allein oder gemeinsam mit anderen Bürgerrechtsorganisationen Reformen und schließlich die Abschaffung des behördlichen Verfassungsschutzes gefordert und ausführlich begründet hatte (vgl. Humanistische Union et al. 2013). Der Rechtsanwalt Rolf Gössner, 38 Jahre lang selbst unter Dauerbeobachtung des BfV und Mitherausgeber des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Reports“, hatte lange schon vor der Enttarnung des sog. NSU den Verfassungsschutz als „Fremdkörper der Demokratie“ analysiert (vgl. Gössner 2003). Der Jurist und Publizist Horst Meier macht seit den 1990er-Jahren auf die Gefährdung von Grundrechten durch die „Extremistenbuchhaltung“ der Dienste aufmerksam (vgl. Meier 1993). Gemeinsam mit Claus Leggewie hatte er 1995 und 2012 für einen Republikschutz ohne Verfassungsschutzbehörden plädiert (vgl. Leggewie/Meier 2012). Wie man sieht „ein weites Feld“ (Reuter/Stognienko 2014). Doch der resignative Fontane-Ton ist unangebracht: Steinke hat das wichtige Thema erneut auf die Agenda geholt und einen nützlichen Impuls zur Debatte um den nachrichtendienstlichen Verfassungsschutz in einem liberalen Rechtsstaat vorgelegt. Daran muss weitergearbeitet werden.


Anmerkungen

[1] Siehe Franz-Gerstein 2024, Hackl 2023, Schmidt 2023, von Bebenburg 2023, Bahners 2024. Rabhansl 2023.


Literatur

  • Bahners, Patrick (2024): Behörde für Wettbewerbsverzerrung, in: FAZ 30.01.2024.
  • Franz-Gerstein, Joschka (2024): in: Vorgänge 242, S. 161-163.
  • Goertz, Stefan (2022): Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates. "Querdenker" als neuer Extremismus-Phänomenbereich? in: Extremismus & Demokratie 34, S. 175-190.
  • Gössner, Rolf (2003): Geheimdienste als Fremdkörper der Demokratie. Beispiel "Verfassungsschutz", in: Humanistische Union (Hrsg.): Innere Sicherheit als Gefahr, Berlin, S. 156-167.
  • Hackl, Moritz (2023): Braucht diese Demokratie noch V-Männer?, in: Die Zeit, online unter: https://www.zeit.de/kultur/2023-08/ronen-steinke-verfassungsschutz-buch-rezension.
  • Humanistische Union/ Internationale Liga für Menschenrechte/ BAK Kritischer Juragruppen (Hrsg.) (2013): Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein! Memorandum, Berlin .
  • Leggewie, Claus/Meier, Horst (1995): "Republikschutz". Maßstäbe für die Verteidigung der Demokratie, Reinbek 1995.
  • Leggewie, Claus/Meier, Horst (2012): Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik, Berlin.
  • Loewenstein, Karl (1937): Militant Democracy and fundamental Rights, in: The American Political Science Review 31: 3+4, S. 417-432, 638-658.
  • Meier, Horst (1993): Neonazismus und Bürgerrechte. Zur deutschen Verfassung der politischen Freiheit, in: Merkur 47: 5, S. 450-455.
  • Murswiek, Dietrich (2022): Verfassungsschutz: Wer delegitimiert hier wen? in: Legal Tribune Online, online unter: https://www.lto.de/persistent/a_id/50274/.
  • Rabhansl, Christian (2023): "Der Verfassungsschutz passt nicht in eine liberale Demokratie", Deutschlandfunk Kultur, online unter:  https://www.deutschlandfunkkultur.de/ronen-steinke-der-verfassungsschutz-passt-nicht-in-eine-liberale-demokratie-dlf-kultur-d6efedb7-100.html.
  • Remé, Harald (1991): Schmücker-Verfahren endgültig eingestellt, in: Bürgerrechte und Polizei/CILIP 39, S. 72-77.
  • Reuter, Markus/ Stognienko, Michael (2014): Modelle zu Reform und Abschaffung der Geheimdienste, in: Heinrich Böll Stiftung, online unter: https://www.boell.de/de/2014/07/25/modelle-zur-reform-und-abschaffung-der-geheimdienste.
  • Schmidt, Till (2023): Die Politik der Inlandsspione, in: taz, online unter:   https://taz.de/Kritik-am-deutschen-Verfassungsschutz/!5943046/-.
  • von Bebenburg, Pitt (2023): Ronen Steinke: Verfassungsschutz - Weg mit dem Geheimdienst!, in: Frankfurter Rundschau, online unter: https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/ronen-steinke-verfassungsschutz-weg-mit-dem-geheimdienst-92527715.html.
  • Wihl, Tim (2023): Die verfassungsrechtliche Aufklärung des Extremismusmodells, in: Kritische Justiz 3, S. 291-312.

 

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