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Veranstaltungsbericht / 05.07.2024

„(Re-)Learning War – Lessons from the Black Sea“ – Kiel International Seapower Symposium 2024 (21.06.2024)

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird durch die Konfrontation im Schwarzen Meer maßgeblich auch durch maritime Aspekte geprägt. Vor diesem Hintergrund diskutierten Expert*innen aus Forschung und Praxis auf der KISS24, welche Lektionen aus diesem ersten Seekrieg in Europa nach Beendigung des 2. Weltkriegs zur Antizipation künftiger Konflikte und strategischer Planungen taugen, welche (auch globalen) Gefahren aus dem Konfrontationsverlauf ersichtlich geworden sind und was dies für die Seestreitkräfte der NATO-Bündnispartner bedeutet.

In den eingangs formulierten Grußworten zur Tagung[1kam unter anderem ein Konsens darüber zum Ausdruck, wonach man mit Blick auf gegenwärtige Debatten nicht um den Begriff der Kriegstüchtigkeit herumkomme – und daher fragen müsse, was er in der Zeitenwende konkret bedeute: Vorgeschlagen wurden unter anderem notwendige Veränderungen des allgemeinen Mindsets („to become faster and more flexible in minds > fear of making mistakes“) unter dem Verweis, dass das „re-learning war“ für Streitkräfte nicht nur im Kontext maritimer Sicherheit nach einer langen Friedensphase (mit Schwerpunkt auf vereinzelten Auslandseinsätzen) des Austauschs zwischen Praxis und Forschung bedürfe. Die Wissenschaft liefere ihre Erkenntnisse naturgemäß meist mit Verzögerung, zugleich vermochten Forscher*innen beispielsweise historische Trends auf der Makroebene schneller zu identifizieren. Einen solchen Trend stelle das probing behaviour von mit dem Westen rivalisierenden Staaten wie China, Russland oder Iran dar, die die Ressourcen und den Willen des Westens gezielt und mit zunehmender Persistenz austesteten: Nämlich, ob dieser die Geltung des Völkerrechts in unterschiedlichen Regionen noch zu behaupten im Stande sei: Probing, so eine These, habe sich global verbreitet und werde ebenso in Staaten, die sich jener axis of disruption and upheaval zugehörig fühlten, inzwischen als Option mit niedrigem Risiko und hohem Belohnungswert im Outcome angesehen wie von nichtstaatlichen Akteuren, die oft von Staaten bei ihren Terroraktionen unterstützt würden: Beispiele wie die graue Kriegführung[2] Chinas gegen seine Nachbarn, das konfrontative Verhalten Nordkoreas, die Angriffe der Huthi-Milizen auf Handelsschiffe oder der erste direkte Angriff des Irans auf Israel in 2024 zeigten hier eine ansteigende Tendenz. Beunruhigend sei auch, wie die Annexion der Krim 2014 und das damit verbundene (Nicht-)Handeln des Westens auf Chinas Militärstrategen bezüglich der Taiwan-Frage gewirkt haben könnte und ebenso, welche Schlüsse China (und andere) aus den Effekten des nuclear blackmailing seitens Russlands auf das Ausmaß westlicher Militärhilfen für die Ukraine zögen. Umgekehrt erlaube der fortgesetzte Einsatz der Ukraine trotz rückläufiger westlicher Unterstützung Erkenntnisse über andere Faktoren im Verlauf einer Auseinandersetzung, wie etwa den fortgesetzten Willen zum Widerstand und die Erfahrung in der Konfrontation mit einem als übermächtig wahrgenommenen Gegner. Die ukrainischen Seestreitkräfte illustrierten aktuell im Schwarzen Meer, wie ein Staat notgedrungen von Land aus einen Seekrieg führen könne. In Deutschland schienen Politiker*innen und Sicherheitsexpert*innen sicherheitspolitische Handlungsbedarfe lange trotz Zeitenwende unterschiedlich zu beurteilen. Dies unterstreiche die wichtige Rolle von regionaler Expertise in sicherheitspolitischen Fragen, wo immer es Aussagen und interne Faktoren anderer Staaten zu verstehen und entsprechende Erkenntnisse zu vermitteln gelte.

Krieg im Schwarzen Meer

In der ersten Gesprächsrunde diskutierten unter anderem Timothy Heck, Olga Chiriac und Daria Isachenko unter Moderation von Alix Valenti maritime Aspekte des russischen Angriffskriegs, der vielfach als Landkrieg wahrgenommen werde, aber zu einem nicht unwesentlichen Teil auf dem Schwarzen Meer stattfinde. Dieser Seekrieg biete keine Konfrontationen zwischen Flotten, vielmehr stehe eine große, aber verwundbare russische Marine den ukrainischen Seestreitkräften als kleinerem, aber agilem und mit Anti-Schiffsraketen oder Marinedrohnen ausgestattetem Akteur gegenüber. Russlands Minen, Marschflugkörper und Flugzeuge bedrohten hingegen die Infrastruktur ukrainischer Häfen und maritime Getreidekorridore.

Dies warf die Frage auf, welche Beobachtungen sich im Schwarzmeer in Bezug auf Sea Control[3] machen ließen: Den russischen Seestreitkräften habe sich hier neben der Freiheit für taktische Überlegungen[4] und der Freiheit des Manövrierens auch die Möglichkeit zur Strangulation der ukrainischen Wirtschaft geboten. Hierzu wurden vier Aspekte näher betrachtet: 1) Die russische Inbesitznahme Sewastopols im Jahr 2014, bei der schätzungsweise 75 Prozent der ukrainischen Seestreitkräfte verlorengingen. 2) Die Bedeutsamkeit von unbemannten Drohnen als Kampfmittel der ukrainischen Kriegführung zur See und in der Luft. 3) Die Verwendung bodengebundener Raketen als einer nicht aus der Seekriegführung stammenden strategischen Anpassung auf ukrainischer Seite. 4) Die Black Sea Grain Initiative (BSGI), die bis zur ausbleibenden Verlängerung durch Russland und der sich daran unmittelbar anschließenden russischen Angriffe auf Kornspeicher in den Hafenanlagen Odessas im Juli 2023 bestand und zeigte, was der abstrakt klingende Begriff Sea Power konkret im Schwarzen Meer für die Ernährungsversorgungssicherheit weltweit bedeutet.

Doch wie blickt Russland auf das Schwarze Meer? Russlands außenpolitische Sicht auf die in der Region realisierbaren Machtoptionen lasse sich anhand der Russian Grand Strategy nachzeichnen: Russland sehe sich demnach 1) in einer Konfrontation der Supermächte mit den USA und. ihren NATO-Verbündeten. Gegenstand des Konflikts seien 2) sogenannte zones of privileged interests (zu denen der Kreml zwar auch postsowjetische Staaten zähle; die trotzdem nicht mit den Grenzen der einstigen Blockbildung des Kalten Kriegs identisch seien) zwischen der klassischen Landmacht (Russland) und den USA als einer Seemacht. Diese Wahrnehmung habe 3) den russischen turn to the East zur Folge gehabt; einer Idee, die bereits auf die nach Jewgeni Primakow benannte Doktrin der 1990er-Jahre sowie auf Gedankengut von Juri Andropow zurückgehe: Putin bewundere beide für ihre Ideen einer Ostpolitik, die die Durchführung eines Kriegs gegen die Seesupermacht USA ermöglichen sollte. Die Primakow-Doktrin habe etwa darauf abgezielt, die strategische Position Russlands zu stärken und einer unipolaren Weltordnung unter US-Dominanz entgegenzuwirken. Russlands wirtschaftliche Anbindung an China habe somit bereits vor den westlichen Sanktionen oder den Konflikten in Moldau, Georgien oder der Ukraine begonnen. Diese Säulen russischer Außenpolitik machten Überlegungen zum Schutz internationaler Kommunikationswege, des internationalen Warenverkehrs und der internationalen Ordnung auf strategischer Ebene erforderlich.

Das Schwarze Meer selbst sei nicht eins zu eins in Hinblick auf Sea Control und Sea Denial mit anderen maritimen Schauplätzen, wie beispielsweise der Ostsee oder dem Nordmeer, vergleichbar, wo andere Kooperationstraditionen vorlägen. Es ermögliche keine großflächigen Schiffsbewegungen und sei nicht für alle Akteure zugänglich, sodass das Bild einer non visible confrontation das aktuelle Geschehen kennzeichne. Strategische Abschreckung durch den Westen, so eine lesson learned, habe im Schwarzen Meer nicht funktioniert und niedrigschwellige, aber lediglich im Nachhinein angewendete, Maßnahmen, wie die Drohnenkriegführung, würden der Ukraine helfen, der russischen Invasion etwas entgegenzusetzen.

Eine Besonderheit in Bezug auf das Schwarze Meer stellt die Montreux-Konvention von 1936 dar, die als Bestandteil der Internationalen Ordnung die vollständige Kontrolle der Dardanellen, des Marmarameeres und des Bosporus durch die Türkei festschreibt, was das heutige Kriegsgeschehen präge[5]: Die Türkei sperrte am 28. Februar 2022 den Bosporus und die Dardanellen für die Durchfahrt von Kriegsschiffen. Ankara habe damit über die regionale Ebene auf die Großmachtkonkurrenz einwirken können, auch wenn die Konventionsgeltung beispielsweise keine militärischen Operationen zur Unterstützung der Ukraine abseits der maritimen Sphäre (das heißt zu Land, im Cyberraum, in der Luft) umfasse. Die Logik der Konvention präge die dem Westen gegenüber zurückhaltend auftretende türkische Außenpolitik, so eine These, und dies aus folgenden Überlegungen heraus: 1) Eigene historische Erfahrungen von Bedrängnis im Verhältnis zum Westen; 2) die Überzeugung, wonach nichtregionale Drittstaaten, die bislang in der Region gar keine Rolle gespielt hätten, nun nicht über den aktuellen Konflikt ein Mitspracherecht[6] in den Sicherheitsfragen der Schwarzmeerregion erlangen sollten; und 3) die Auffassung, den Westen kümmere die Region ansonsten nicht und es mangele ihm an langfristig ausgelegten Plänen für die Zeit nach militärischen Maßnahmen. Die Türkei schaue daher aus zweierlei Perspektiven auf Russland, das auf der Makro-Ebene (aus NATO-Sicht) die Rolle einer Bedrohung eingenommen habe und zugleich auf regionaler Ebene einen traditionellen Nachbarstaat im Schwarzen Meer und im Nahen Osten darstelle. Hierfür gelte es eines türkischen Sprichwortes zu gedenken: „If you buy a house, what matters is the neighbour, not the house“.

Aus Sicht der Ukraine spielten, besonders in Bezug auf strategische Aspekte im Asowschen Meer, folgende lessons learned für die Zukunft eine bedeutende Rolle: 1) eine widerspruchsfreie (Marine-)Politik, anders als vorangegangene kurzsichtige sicherheitspolitische Entscheidungen (beispielsweise die Abgabe eigener taktischer/strategischer Atomwaffen), durch die Schaden entstanden sei; 2) die Verbindung von leadership und nationaler Idee; 3) Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, basierend auf den Kapazitäten des Gegners; 4) Hybridität und Asymmetrie, um strategische Dilemmata für den Gegner kreieren zu können und dessen hybride Aktionen abzuschrecken; 4) die Notwendigkeit der Integration von allen verfügbaren Kräften in einen holistischen Ansatz, wie der Erfolg der Befreiung der Schlangeninsel trotz fehlender Seestreitkräfte veranschaulicht habe; und 5) Diplomatie und strategische Partnerschaft. Fragen aus dem Plenum betrafen zum Beispiel beobachtbare Anpassungen der russischen Streitkräfte an die agileren Befehlsstrukturen ihrer ukrainischen Kontrahenten sowie die Prognosen zur aktuellen Situation der ukrainischen Getreideexporte nach dem Auslaufen des BSGI.

Die NATO

Die North Atlantic Treaty Organization wurde in einer Zeit gegründet, in der die Kontrolle über Seewege und maritime Dominanz als entscheidend für die Sicherheit und den wirtschaftlichen Wiederaufbau ihrer Mitgliedsstaaten angesehen wurden. Den maritimen Streitkräften kam in der gemeinsamen Verteidigungsstrategie somit früh große Bedeutung zu. Das nunmehr seit 75 Jahren bestehende Bündnis werde durch die aktuellen Ereignisse auf diese maritimen Wurzeln zurückgeworfen. Dazu stellten sich daher Stuart Munsch, Mike Utley, Frank Lenski sowie Andrew Burns den NATO-spezifischen Fragen von Alix Valenti und den Tagungsteilnehmer*innen. Es wurde diskutiert, was das Jubiläum für die Weltgemeinschaft bedeute: Die lange Friedensperiode in Europa seit der Gründung sei dahingehend zu bewerten, dass Abschreckung und fortdauernde Anpassung des Bündnisses erfolgreich gewesen seien. Doch zeigten die aktuellen Herausforderungen der kollektiven Sicherheitsstrukturen mit der Gleichzeitigkeit eines Kriegs in Europa, Spionagefällen sowie etlichen Konflikten unterhalb der Schwelle zum Krieg (sub wars) weltweit, dass die NATO es sich nicht länger leisten könne, darauf zu vertrauen und den ursprünglichen Wirkungsradius des Bündnisses beizubehalten. Regierungen aus nicht-alliierten Staaten würden beobachten, ob der Westen in der Lage bleibe, die Glaubwürdigkeit der Abschreckung weiter aufrechtzuerhalten.

Was könne daraus für die internen Aufgaben der NATO-Bündnisstaaten und für ihre Verantwortlichen zur Bewältigung dieser Situation abgeleitet werden? Welche Auswirkungen habe das auf die Adaptionsgeschwindigkeit der Streitkräfte oder die Integration von Komponenten in Kampfsysteme? Und wie könne es gelingen, das Bündnis von einer alliance of affinitys zur echten Gemeinschaft zu reformieren? Hierzu wurden unter anderem einheitliche Ausstattungsstandards sowie die aktuell noch starke Gewichtung der jeweiligen nationalen Hauptquartiere diskutiert, da für das Bündnis nun eine Umstellung zur kollektiven territorialen Verteidigung erforderlich werden könnte: Gerade diese erfordere, „an enviroment of the rules to move in the speed of the fight“ aufzubauen. Man könne aber, so ein Fazit, trotz aller genannten Schwierigkeiten auch zu ihrer Bewältigung auf Netzwerke und Fähigkeiten zur Kooperation aufbauen, die über sieben Jahrzehnte lang gewachsen seien.

Ereignisse im Schwarzen Meer und ihre Implikationen für Europa und die USA

Salvatore Mercogliano, Thomas Puga, Robin Allers und Henry J. Hendrix sprachen abschließend darüber, ob Ereignisse im Schwarzen Meer auch Rückschlüsse auf künftige Konfliktszenarien erlaubten. Die Aufkündigung der BSGI im Schwarzen Meer oder die Angriffe der Huthi-Milizen auf Handelsschiffe im roten Meer illustrierten trotz unterschiedlicher Schauplätze den zunehmenden global war on trade der jüngsten Gegenwart, in dem wichtige Handelsrouten leichtes Ziel von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren wurden, „trade is a mechanism everyone can hit on“. So nutzten die größten Reedereien trotz damit verbundener Kostensteigerung das Rote Meer nicht weiter für ihre Passagen (und damit einhergehender massiver finanzieller Verluste für den ägyptischen Staatsbetrieb Suez Canal Authority), während im Schwarzen Meer mit Russland und der Ukraine zwei Staaten über die Fähigkeiten verfügten, die aktuell von keinem Abkommen geschützten Handelsaktivitäten der jeweils anderen Seite zu stören. All dies verdeutliche, wie sehr Sea Power und Wirtschaft miteinander verbunden seien.

Die vielfältigen Herausforderungen auf See seien zugleich ein Novum für das Bündnis, das somit nicht um die Notwendigkeit einer glaubhaften nuklearen Abschreckung „from the shrimps to the sky“ und der Globalisierung eigener maritimer Operationen herumkomme, wo es die Freiheit der Navigation, der Transportwege sowie einzelner Territorien und ihrer Bevölkerungen weiter zu gewährleisten gelte: ob im chinesischen Meer oder im Roten Meer. Dies erfordere insbesondere im maritimen Bereich, wo Kriegsschiffe beispielsweise bis zu 80 Jahre im Dienst blieben, langfristige Planungen und industrielle Partnerschaften für technologische und taktische Innovationen, „we need to adapt tactics, to use it and to be able to innovate it and to deliever doctrines“.

Mit Finnland und Schweden vollzogen zwei Ostseeanrainerstaaten mit sehr hoher regionaler Expertise den Wandel von Partnern zu vollwertigen NATO-Mitgliedern. Für die strategischen Dynamiken an der Nordflanke des Bündnisses bedeute dies, regionale Kooperationen, Formate und Sicherheitspläne rund um die Barentssee (auf der daran grenzenden Kola-Halbinsel konzentrieren sich neben der Nordflotte zahlreiche Basen für Atom-Uboote Russlands), die Ostsee und den Meerengen mit Zugang zum Nordatlantik neu zu denken. Insbesondere Norwegen habe lange die Schaffung eines regionalen und zugleich atlantischen Joint Force Command für Lagebilderstattung, Präsenz und Abschreckung unter Beteiligung der Bündnispartner und den Staaten der skandinavischen Halbinsel gewünscht, wie es sich nun nach der Erweiterung mit Sitz in Norfolk in Planung befinde. Dieses werfe noch Fragen auf, beispielsweise über die Grenzziehung zu den baltischen Staaten, zur Ostsee oder über Sinn und Umsetzbarkeit der Integration Finnlands und Schwedens mit ihren Landmassen in ein atlantisches Kommando. Trends zu Lösungsversuchen seien neben den gemeinsam unternommenen response exercices auch insbesondere im Bereich der mutual commitments zu beobachten, wie es beispielsweise Deutschland mit seinen Plänen zur Entsendung einer feststehenden Brigade nach Litauen übernommen habe. Daneben zeichneten sich die Nordländer, gemessen an ihren BIP, durch große Anstrengungen zur Erreichung der Bündnisvorgaben für Verteidigungsausgaben sowie durch hohes Engagement bei der Ukraineunterstützung aus, während sich die Rolle einzelner Staaten, illustriert am Beispiel Norwegens, in Fragen des Transits und für die division of labor durch die Bündniserweiterung verlagert habe.

Einen Perspektivwechsel vollzog die Diskussion zur Frage, was NATO und Europa künftig von den USA zu erwarten hätten. 1953 habe die langewährende Tradition US-amerikanischer Isolationspolitik mit der Präsidentschaft Dwight D. Eisenhowers ein Ende gefunden, doch werde die globale Orientierung der USA zunehmend durch populistische Strömungen in republikanischen Kreisen zugunsten eines neo-isolationism in Frage gestellt, was sich zuletzt in der Ablehnung weiterer Militärhilfen für die Ukraine zeigte. Die Tradition der Jacksonian Foreign Policy[7] und eine gewisse sea blindness in der Bevölkerung in Bezug auf die sich für die USA aus der Allianzstruktur ergebenen Vorteile (Handels- und Wirtschaftswachstum, Stabilität der gegenseitigen Sicherheit, Kostenteilung der Verteidigungsausgaben) begünstigten diese Tendenzen, ebenso eine Wahrnehmung, wonach Bündnispartner sich finanziell zurücklehnten (in 2024 erreichten indes 20 Bündnispartner das Zwei Prozent-Ziel der NATO) und sich auf Kosten der US-Bürger*innen, die nun 3,43 Prozent ihres BIP für Militärausgaben aufwendeten, beschützen ließen. Die USA befänden sich daher selbst in einem Verständigungsprozess darüber, dass die Internationale Sicherheitsordnung und eine Führungsrolle darin ihren Preis hätten; auch wenn das in den 1990er-Jahren proklamierte Ende der Geschichte etwas anderes in Aussicht gestellt habe. Diese Kosten seien nicht mit denen eines globalen Krieges vergleichbar, wie es ihn seit über 70 Jahren nicht mehr gegeben hat. Zudem fehle es in seither herangewachsenen Generationen ohne eigenes Erfahrungswissen am Verständnis für die verheerenden Dimensionen von Krieg: Allianzen beinhalteten die ihnen eigenen diplomatischen Zwänge, während es innerhalb der US-Eliten eine wachsende Zahl von Befürworter*innen dafür gäbe, Spielräume für Verhandlungen mit aufstrebenden Staaten und neuen Großmächten über das bisher Dagewesene zu erweitern. Hier sei daran zu erinnern, dass Allianzen trotz ihrer Limitationen über die Fähigkeiten verfügten, Instabilität und Chaos zu verhindern. Diese Debatte um die Wertigkeit der Allianz für die Vereinigten Staaten und für Europa sei in den USA in vollem Gange. In Hinblick auf eine weitere mögliche Trump-Administration sei daher auf Personen mit militärischer Expertise zu verweisen wie Mike Pompeo, Robert O’Brian oder Tom Cotton; ferner sei davon auszugehen, dass zwischen den USA und Europa unabhängig vom Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen weitere Verhandlungen zur Anhebung der Verteidigungs- und Bündnisausgaben anstünden.

Weitere Fragen im Plenum betrafen die Fachkräftesicherung der maritimen (Rüstungs-)Industrie, auch unter besonderer Berücksichtigung von Planungsunsicherheiten bei staatlichen Aufträgen, die spezifischen Erfordernisse technischer Innovationen (etwa im Bereich der Data Sciences.) und des demografischen Wandels bei der Fachkräfterekrutierung sowie den Verlust von technischem Knowhow durch Wegfall oder Abverkauf von amerikanischen und europäischen Traditionswerften an Investoren aus Drittländern, darunter strategische Konkurrenten wie China.

In den Tagungsbeiträgen verdichteten sich insgesamt Erfahrungen, Entwicklungen sowie Hinweise auf Fehler und Risiken aus dem Schwarzmeerkonflikt zu einem Lagebild, das über die regionale und die maritime Komponente des Kriegs hinausging und einen regen wissenschaftlichen Austausch über Handlungsbedarfe für das NATO-Bündnis ermöglichte. Die Analysen und Bewertungen der einzelnen Teilnehmer*innen unterstrichen dabei die Bedeutung einer fortgesetzten glaubhaften Abschreckung zur Friedens- und Stabilitätssicherung. Zugleich wurde in Ausführungen und Querverweisen deutlich, dass sich das Bündnis mit gewaltigen Herausforderungen in Bereichen wie denen der zwischenstaatlichen Politik, der sich wandelnden Kooperationsformate, der technischen Ausstattung und Innovationsfähigkeit oder der Finanzierung konfrontiert sieht. Was zudem mit Hinweisen auf die Verbindung von Sea Power und weltweiter Ernährungssicherheit zur Sprache kam, sind die spürbaren Auswirkungen von (maritimer) Sicherheits- und NATO-Bündnispolitik – je nach Phase von (In-)Stabilität – für den menschlichen Alltag weltweit. Ob und inwieweit sicherheitspolitische Forscher*innen als Vertreter*innen ihrer politikwissenschaftlichen Teildisziplin hierzu gegenüber der Bevölkerung (und politischen Entscheidungsträger*innen) in gesellschaftlichen Debatten noch stärker erklärend auftreten können, bildet im Kontext von Krieg(sverhinderung) und Frieden(ssicherung) eine wichtige Frage einer auf Wissensvermittlung und Verständigung ausgerichteten Forschungskommunikation. Dass sicherheitspolitische Debatten, beispielsweise bei Befürchtungen und in der Bevölkerung vorhandenen Ängsten vor möglichen Eskalationsgeschehen in Bezug auf Aufrüstung und Aktionsradius-Erweiterung der NATO, geführt und ernstgenommen werden müssen, wird gerade in politisch unruhigen Wahl- und Wendezeiten in den Bündnisdemokratien immer deutlicher.


Anmerkungen 

[1] Das diesjährige Kiel International Seapower Symposium, organsiert durch die Maritime Abteilung des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK), fand in Kooperation mit dem German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) statt.

[2] Als solche bezeichnet man eine Art der Kriegsführung, die sich zwischen Frieden und offenem Krieg bewegt und Aktivitäten umfasst, die darauf abzielen, einen Gegner zu destabilisieren, ohne dabei die Schwelle zum offenen militärischen Konflikt zu überschreiten. Im südchinesischen Meer gelten hierfür der Bau und die Militarisierung künstlicher Inseln durch China sowie der chinesische Einsatz der Küstenwache zur Durchsetzung territorialer Ansprüche, etwa durch Patrouillen in der Sperrzone zu Taiwan, als Beispiele.

[3] Sea Control bezeichnet die Fähigkeit einer Marine, den Zugang zu einem bestimmten Seegebiet zu kontrollieren, zu nutzen und ggf. gegnerische Streitkräfte daran zu hindern, in einem Seegebiet und/oder auf Seewegen eigene militärische oder wirtschaftliche Aktivitäten durchzuführen. Maßnahmen hierzu können die Präsenz von See- und Luftstreitkräften, Überwachung und Aufklärung, Minenlegung und -räumung sowie die Sicherung von maritimen Kommunikations- und Versorgungslinien umfassen.

[4] Darunter versteht man die Fähigkeit einer Marine, ohne Einschränkungen durch äußere Einflüsse oder Bedingungen taktische Entscheidungen zu treffen und Operationen durchzuführen.

[5] Die Montreux-Konvention regelt die Anzahl erlaubter Passagen von Kriegsschiffen in Friedenszeiten, jeweils nach Herkunft aus (Nicht-)Anrainerstaaten, und erlaubt der Türkei in Kriegszeiten, den Kriegsschiffen anderer kriegführender Mächte die Passage der Meerenge zu untersagen (Ausnahme: diese kehren in ihren Heimathafen zurück).

[6] Hinzu komme die Ansicht Ankaras, dass abweichend zum häufig vom Westen praktizierten Vorgehen der Gleichrangigkeit im Fall einer Beteiligung an regionalen Sicherheitsangelegenheiten im Schwarzen Meer nicht alle Staaten gleichwertig über deren Fragen mitentscheiden sollten, sondern stets den Staaten der Region ein größeres Gewicht beigemessen werden müsse.

[7] Die Jacksonian Foreign Policy stellt eine der vier außenpolitischen Traditionen in den USA dar, sie ist u. a. durch Nationalismus, Populismus sowie einem Misstrauen gegenüber internationalen Bündnissen geprägt, was sich Isolationismus und Unilateralismus ausdrückt. Vgl. hierzu beispielsweise: David Sirakov (2023): Die USA zwischen Internationalismus und Isolationismus. Bundeszentrale für Politische Bildung. https://www.bpb.deindex.php?Itemid=1232/517667/die-usa-zwischen-internationalismus-und-isolationismus/ (Zuletzt aufgerufen 05.07.2024).

 

DOI: https://doi.org/10.36206/TB24.2
CC-BY-NC-SA
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