Sören Urbansky, Martin Wagner: China und Russland. Kurze Geschichte einer langen Beziehung
Wie stabil ist die Partnerschaft zwischen China und Russland wirklich? Sören Urbansky und Martin Wagner zeichnen die spannungsgeladene Geschichte der beiden Großmächte nach – von frühen Missverständnissen im 17. Jahrhundert bis zur heutigen autoritären Zweckgemeinschaft. Historische Schlüsselmomente, wirtschaftliche Abhängigkeiten und ideologische Brüche zeigen ein Verhältnis, geprägt von Nähe, Kränkung und Konkurrenz. Unser Rezensent Jakob Kullik nennt das Buch ein „herausragendes“ Werk zur rechten Zeit mit wichtigen Einsichten zu zwei zentralen Akteuren der Weltpolitik.
Eine Rezension von Jakob Kullik
Es gibt immer wieder Bücher, die zur rechten Zeit erscheinen und eine eklatante Leerstelle füllen. Dasjenige der beiden Osteuropahistoriker Sören Urbansky (Ruhr-Universität Bochum) und Martin Wagner (Freie Universität Berlin) zur Beziehungsgeschichte Chinas und Russlands ist so eines. In Deutschland gibt es zwar eine Reihe an fundierten Publikationen zur Geschichte Russlands und Chinas, aber eine Beziehungsgeschichte der beiden Länder (und Imperien), die sich über die letzten vierhundert Jahre bis in die Gegenwart erstreckt, fehlte bislang. Insofern ist das Buch mit dem Untertitel „Kurze Geschichte einer langen Beziehung“ gleichermaßen für die Geschichts- und Politikwissenschaft anschlussfähig – für die praktische Politik sowieso, denn fundiertes Wissen zu beiden Ländern ist in Deutschland nicht sonderlich üppig gesät.
Der methodische Ansatz des Buchs fußt auf drei Analyseebenen: erstens einer Verdichtung auf historische Schlüsselmomente in den beiderseitigen Beziehungen, zweitens einer Analyse der Außenpolitik durch die Brille der Innenpolitik und drittens einer Einbettung in das jeweilige internationale (historische) Machtgefüge. Ergänzt wird das akademische Vorgehen durch das Einflechten lokaler Ereignisgeschichte aus der langen russisch-chinesischen Grenzregion. Kurzum: Das Buch ist „mithin eine Geschichte von zwischenstaatlichen Begegnungen, transnationalen Verflechtungen in Wirtschaft und Gesellschaft sowie internationaler Systemkonkurrenz“ (15). Dieses Vorgehen ist überzeugend und konnte nur geleistet werden, weil beide Forscher des Russischen und Chinesischen mächtig sind und dadurch Originalquellen aus Archiven tiefgreifend erschließen konnten.
Eine lange Geschichte des gegenseitigen Abtastens, Vergessens und langsamen Annäherns
Das erste Kapitel „Peking 1618 – Wissen generieren“ beschreibt die Reise von Iwan Petlin, dem ersten Chinareisenden aus dem zaristischen Russland an den Hof des Kaisers in Peking. Interessant sind nicht nur die Eindrücke vor Ort, sondern die politische Dimension dieser ersten Begegnung der beiden Imperien, die bis dato nicht viel voneinander wussten. Die erste Kontaktaufnahme ging von russischer Seite aus, doch in Peking hegte man nur geringes Interesse am nördlichen Nachbarn: „Der chinesische Hof betrachtete die Russen als tributpflichtige Barbaren“ (24).
In Moskau hingegen habe das an den russischen Zaren mitgegebene Schreiben des chinesischen Kaisers „über ein halbes Jahrhundert lang vergessen in einer Schublade“ (ebd.) gelegen, da niemand die chinesische Sprache beherrschte. Aus heutiger Sicht staunt und schmunzelt man darüber: Desinteresse auf der einen Seite (China) und sprachliches Unvermögen auf der anderen (Russland) verzögerten den Auftakt beiderseitiger diplomatischer Beziehungen. Mit ein Grund dafür war die Geografie. Die beiden Hauptstädte der riesigen eurasischen Landimperien lagen weit auseinander und das nomadisch geprägte und von zahlreichen Ethnien besiedelte Zwischenland, das sich von Sibirien über die mongolische Steppe bis nach Nordchina erstreckte, war infrastrukturell kaum erschlossen und (land-)wirtschaftlich zunächst uninteressant. Grenzfragen wurden frühzeitig zu einem diplomatisch-militärischen Streitpunkt und werfen einen historischen Schatten bis in die Gegenwart. Doch über lange Zeit war das russisch-chinesische Randgebiet für Sankt Petersburg in vielfältiger Hinsicht herausfordernd. Es „erwies sich als schwere Hypothek, welches die Staatskasse belastete, landwirtschaftlich enttäuschend und schwer zu besiedeln war. So verlor die zaristische Regierung bereits kurz nach der Annexion das Interesse an der schütter bevölkerten Peripherie im Schatten Chinas – trotz der wachsenden demografischen Übermacht des Nachbarn“ (80).
Das ist aus heutiger Sicht in mindestens zweifacher Hinsicht ein interessanter Befund: zum einen, weil er die wirtschaftsgeografische These vom „Fluch des Imperiums“[1] zu bestätigen scheint, zum anderen, weil es dem gängigen – von russischer Seite verbreiteten – Narrativ der heiligen russischen Erde widerspricht, die zu allen Zeiten eingesammelt und vor fremden Mächten geschützt werden müsse. Anscheinend war die (heilige) russische Erde im russisch-chinesischen Grenzland nicht immer sakrosankt und schützenswert. Die Schilderungen der Schwierigkeiten bei der landwirtschaftlichen Erschließung des Amur-Lands durch russische Neubauer zeigt frappierende Ähnlichkeiten zur Gegenwart, in der Putin seit 2014 Gebiete in der Ostukraine und die Halbinsel Krim wirtschaftlich und demografisch zu russifizieren versucht. Die langen Linien ausbeuterischer Landnahme durch Russland werden hier deutlich.
Eine weitere Ähnlichkeit zur aktuellen Situation im russischen Fernen Osten zeigt der Blick auf die Herkunft der Arbeiter in jener unwirtlichen Region. Denn obwohl das russische Zarenreich riesige Gebiete für sich beanspruchte, war es schon im 19. Jahrhundert von „chinesischen Arbeitern, koreanischen Bauern und einer überschaubaren Zahl japanischer Händler“ (85) abhängig, ohne die alle Besiedlungsträume am Petersburger Hof nur geopolitische Fieberträume geblieben wären. Die Zahlen der Arbeitsmigration, die Urbansky und Wagner präsentieren, sind beachtlich: „Obschon die [russischen] Generalgouverneure nach immer neuen Wegen suchten, die ‚asiatischen Gäste‘ loszuwerden, blieb der imperiale Rand Russlands abhängig von chinesischer Muskelkraft und Unternehmerschaft: Drei von vier Goldschürfern an den Nebenarmen des Amur, neun von zehn Werftarbeitern in Wladiwostok und fast alle ungelernten Bahnarbeiter waren Chinesen“ (ebd.) Das seien bis heute verschwiegene Zahlen im offiziellen russischen Narrativ von der Eroberung und Bewirtschaftung Sibiriens. Und ein weiterer kaum bekannter Fakt: „In Wladiwostok, der Stadt mit der größten chinesischen Diasporagemeinschaft, sah sich die Polizei Anfang des 20. Jahrhunderts sogar genötigt, eine spezielle Abteilung aus chinesischen Streifenbeamten zu schaffen, um die Ordnung in der Stadt aufrechtzuerhalten“ (85-86). Es sind historisch-ethnografische Darstellungen wie diese, die den russisch-chinesischen Grenzraum für Leserinnen und Leser versteh- und nahbar machen.
Das 20. Jahrhundert zwischen Kränkungen und Abnabelungen
Die Rolle der Sowjetunion bei der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas ist wohlbekannt. Doch die ideologische Vorbildrolle, die die UdSSR für die Volksrepublik auch offiziell ab 1949 übernahm, bekam schnell Risse durch das Verhalten des sowjetischen Diktators Josef Stalin. Als der siegreiche Mao Zedong nach vier Jahren Bürgerkrieg und mehreren Bittsuchen im Dezember 1949 endlich nach Moskau reisen durfte, zeigte Stalin, wer von den beiden, Meister und wer Schüler war. Die Schilderungen im Buch zeigen eindrücklich, wie bedeutsam die persönliche Ebene zwischen den beiden Diktatoren für den weiteren Verlauf der beiderseitigen Beziehungen war: „Das weitere Gespräch offenbarte ihre Hierarchie: Stalin setzte die Themen, Mao antwortete pflichtschuldig. Seine Dominanz demonstrierte Moskaus Machthaber mit seiner subtilsten Machttechnik – Schweigen. Alle weiteren Gesprächsersuche seines Gastes ließ Stalin unbeantwortet und schickte stattdessen seine Gefolgsleute für kurze Visiten zu Mao. […] Das untätige Warten und die Zurückweisung zermürbten Mao […]. Mehr noch: Stalin ließ ihn abhören. Chinas Parteichef hatte geplant, durch die Sowjetunion zu reisen und die Errungenschaften des Sozialismus mit eigenen Augen zu sehen – doch man zeigte ihm nur Potemkin’sche Dörfer und die Leningrader Eremitage. Jahre später bekannte Mao, es habe ihn ‚gekränkt‘, in Moskau nur Nichtbeachtung erfahren zu haben“ (124 f.). Trotz dieser prägenden Kränkungserfahrung war der sino-sowjetische Freundschaftspakt zunächst – und nach außen – ein Erfolg: Die Sowjetunion festigte ihre ökonomische Führungsrolle und behielt die Volksrepublik in einer gewissen ökonomischen Abhängigkeit; das junge sozialistische Reich der Mitte erhielt „brüderliche“ Aufbauhilfe sowie internationale Anerkennung und Sichtbarkeit. Doch trotz dieser vermeintlich engen ideologischen Verbundenheit wurde Sowjetrussland auf chinesischer Seite skeptisch bis misstrauisch betrachtet. Die historischen Gewalterfahrungen und Kränkungen waren keineswegs vergessen.
Mit dem Tod Stalins 1953 und der ersten kritischen Betrachtung des Diktators durch Nikita Chruschtschow im Jahre 1956 bekam nicht nur der Personenkult, sondern auch die sowjetisch-chinesische „Einmütigkeitsfiktion“ (134) erste Risse. „Die ‚grenzenlose Freundschaft‘ zwischen China und der Sowjetunion erschöpfte sich […] in plakativen Bekundungen, die die immanenten Interessengegensätze und ihre asymmetrische Aushandlung nicht bemänteln konnten. […] Darin unterscheidet sich der 1950 geschlossene Bund der kommunistischen Reiche kaum von der autoritären Allianz des 21. Jahrhunderts“ (136). Ab diesem Zeitpunkt ging es in den Beziehungen zur Volksrepublik auf persönlicher, politischer und ideologischer Ebene bergab. Der Tiefpunkt war der kurze Grenzkrieg am Usuri im Frühjahr 1969.
Erstaunlich und auch ein wenig kurios war die diametrale geschichtspolitische Bewertung der Stalin-Zeit: In der UdSSR eine Mischung aus Verschweigen und Schuldablagerung für die Gräuel beim Diktator. Ganz anders die chinesische KP: Der neue sowjetische Kurs war für sie ein Negativbeispiel über den Umgang mit der eigenen heroischen Geschichte. Trotz persönlicher Demütigung ergriff Mao nicht die Chance zur nachwirkenden Verdammung Stalins, sondern passte das Stalin-Bild geschickt in den Zustand der mittlerweile schwierigen sowjetisch-chinesischen Beziehungen ein, ohne dabei die ideologische Klammer irreparabel zu beschädigen und im Zuge dessen, die Legitimität der Partei zu unterminieren. Und so kam die – differenzierte wie amüsante – Formel von den Verdiensten Stalins in die Welt: „Das Zentralkomitee [der KPCh] ist der Ansicht, Fehler und Leistungen Stalins stehen im Verhältnis von 30 zu 70, alles in allem war er ein großer Marxist“ (145). Das Verhältnis von 70 (Verdienste) zu 30 (Fehler) ist nicht nur ideologiegeschichtlich aufschlussreich, sondern zugleich eine interessante (und derzeit spekulative) Vergleichsfolie für die Urteile, die künftig noch über die Staatsführer Putin und Xi gesprochen werden.
Von der sozialistischen Führungsmacht zum Juniorpartner Chinas
Erst unter dem Reformer Gorbatschow näherten sich beide Länder wieder allmählich an. Doch in der Zwischenzeit hatten sich die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten Chinas verschoben. Im Jahr 1949 war das Bruttoinlandsprodukt der Volksrepublik China gerade einmal halb so groß wie das der Sowjetunion, derzeit ist es zehnmal größer als das russische. Diese harten (Macht-)Faktoren und die historische Lektion, die die KP-Führung aus dem Untergang der Sowjetunion gelernt hat – nämlich auch bei einer Öffnung und Liberalisierung der Wirtschaft niemals die politische Führung aus der Hand zu geben – prägen das chinesisch-russische Verhältnis bis heute. Moskau ist innerhalb eines Jahrhunderts vom Lehrmeister des Sozialismus zum Juniorpartner der autoritären Achse herabgesunken, deren weltanschaulicher Gehalt seit Längerem erforscht wird.
Doch, wo eine feste Ideologie fehlt, treten Ersatz- und Versatzstücke auf, deren einigender Kitt die Ablehnung der von den USA geprägten liberalen internationalen Ordnung ist. „Eine gemeinsame Vision bleibt dabei vage. Denn so entschieden ihre substanzielle Ablehnung der US-Dominanz, des Völkerrechts und des ‚westlichen‘ Interventionismus, so opak ist das, was Moskaus und Pekings Machthaber an die Stelle der ‚alten‘ Weltordnung zu setzen gedenken“ (218). In der Tat: Aus den vielen Slogans und Narrativen auf russischer („Russische Welt“) und chinesischer Seite („chinesischer Traum“) (218) ist schwerlich ein gemeinsames bruchfreies Weltordnungskonzept zu formen. Urbansky und Wagner sehen daher im russisch-chinesischen Bündnis die „Schimäre einer monolithischen Schwurgemeinschaft“ (220). Ungeachtet der weltanschaulichen Leerstellen und Widersprüchlichkeiten sprechen zahlreiche Faktoren für eine (Kriegs-)Partnerschaft gegen den Westen, wie das Abschlusskapitel „Kyjiw 2022 – Krieg deuten“ überzeugend darlegt. Diese ist zwar entgegen der offiziellen Freundschaftsrhetorik und des historischen gegenseitigen Misstrauens nicht grenzenlos, aber doch so stabil und effektiv, um die Weltordnung zu erschüttern und den Westen zu schwächen.
Fazit
Sören Urbansky und Martin Wagner ist mit „China und Russland. Kurze Geschichte einer langen Beziehung“ ein wirklich herausragendes Buch zur rechten Zeit gelungen. Es ist für eine breite Leserschaft verfasst und bietet gleichzeitig reichhaltige fachwissenschaftliche Anknüpfungspunkte zwischen verschiedenen Disziplinen. Zu wünschen bleibt, dass das Buch nicht nur in der Geschichtswissenschaft gebührend zur Kenntnis genommen wird, sondern ebenso in der Politikwissenschaft und den Regionalstudien. Auch die praktische Politik kann daraus schöpfen und relevante Lehren im Umgang mit Moskau und Peking ziehen. Nach der Lektüre sollte klar geworden sein, dass man der offiziellen Freundschaftsrhetorik Moskaus und Pekings nicht auf den Leim gehen sollte. Die Beziehungen beider Länder waren ein stetes Auf und Ab und sind bis heute von temporärer Interessenskongruenz, aber auch tiefem Misstrauen gekennzeichnet. Es ist schon einmal gelungen, die sozialistische Achse Moskau-Peking aufzubrechen, warum also sollte die gegenwärtige für die Ewigkeit sein?
Anmerkungen:
[1] Die These vom „Fluch des Imperiums“ besagt laut Schönfelder, dass die durch Russland über Jahrhunderte praktizierte imperiale Landnahme zu einer „gewachsene[n] wirtschaftsgeographische[n] Fehlstrukturierung des Landes“ geführt habe, wodurch ein bis heute wirkender Teufelskreis entstanden sei. Da die imperiale Landnahme primär machtpolitisch motiviert war und nicht wirtschaftlich sinnvollen Erwägungen folgte, konnte sich keine vollendete Marktwirtschaft mit bürgerlichen Mittelschichtsstrukturen entwickeln, sondern vorrangig vom imperialen Zentrum abhängige – „wirtschaftlich unsinnige“ Wirtschaftsstrukturen und Siedlungsmuster – und dies unter Inkaufnahme enormer Transportkosten in den Weiten Russlands. Dadurch wiederum wurden autoritäre (Landbeherrschungs-)Strukturen verfestigt und die Ausbildung einer föderalen Demokratie verhindert. Schönfelder, Bruno (2022): Der Fluch des Imperiums, Berlin: Edition Europolis, S. 10, 143.
Externe Veröffentlichungen
Claus Soong / 07.05.2025
China-Russia alignment – a shared vision, without fully seeing eye to eye
Mercator Institute for China Studies (Merics)
Sarah Kirchberger, Svenja Sinjen, Nils Wörmer / 2022
Springer OPEN ACCESS