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Rezension / 26.11.2025

Marco Overhaus: Big Brother Gone. Europa und das Ende der Pax Americana

Frankfurt am Main, Frankfurter Allgemeine Buch 2025

Droht der „Pax Americana“ tatsächlich der Untergang? Marco Overhaus zeichnet ein detailliertes Bild vom schwindenden Einfluss der USA sowohl innenpolitisch durch den Trumpismus als auch außenpolitisch im Nahen Osten und in Europa sowie angesichts des wachsenden Einflusses Chinas im Indopazifik. Laut Overhaus ist vor allem die Abhängigkeit Europas von amerikanischer Militär- und Wirtschaftskraft problematisch, ebenso die instabilen Sicherheitsgarantien in Konflikten wie dem Ukrainekrieg. Ein kenntnisreiches und scharfsinniges Buch, so unser Rezensent Arno Mohr.

Eine Rezension von Arno Mohr

Die historisch-politische Erfahrung lehrt immer wieder, dass man als kritischer Beobachter des Weltgeschehens stets zurückhaltend in seiner Bewertung sein sollte, wenn man sich mit Arbeiten auseinandersetzen will, in deren Haupttitel das Wort „Ende“ mit seinen vielzähligen semantischen Konnotationen eine Position als Leitmotiv einnimmt. In unseren Zeiten ist nämlich ein bisschen viel vom „Ende“ die Rede – ob mit oder ohne Fragezeichen, ist gleich. Wir beobachten eine wahre Inflation von „endisms“, freilich „endism“ nicht im Sinne von Fukuyamas „Ende der Geschichte“, das sich mit dem Siegeszug der liberalen Demokratie als Ergebnis des Untergangs des Sowjetkommunismus erfüllt habe.[1] „Ende“ bedeutet heute vielmehr „declinism“ (Samuel P. Huntington)[2] im Sinne von Verblassen, Zerfall, Verfall und Auflösung. Was droht nicht alles „zu Ende“ zu gehen: der Liberalismus, die parlamentarische Demokratie, Deutschland, die Demokratie in den USA und sofort. Alles steht am Abgrund, alles läuft Gefahr, von gegenläufigen Entwicklungen überfahren zu werden, alles scheint am seidenen Faden zu hängen. Das löst Furcht und Schrecken aus, auch deshalb, weil das bisher Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint. Weil Sicherheiten nicht mehr wie früher garantiert werden können, gar unter Brüdern. Auch die „Pax Americana“, die Rolle der Vereinigten Staaten von Amerika als „Weltfriedensstifter“ schlechthin, aber auch als mächtigster „Weltpolizist“ mit einem selbstzuerkannten Recht auf Intervention bei Gefährdung der eigenen Interessen. Das ist das große Thema von Marco Overhaus‘ kenntnisreichem und scharfsinnigem Buch.

Die „Pax Americana“ als Auslaufmodell?

Der Niedergang der „Pax Americana“ wird vom Autor in fünf Großkapiteln seziert. Im ersten Kapitel gibt Overhaus eine Art Definition dessen, was im Allgemeinen unter die Idee der „Pax Americana“ subsumiert wird: ein Ausmaß an militärischer und wirtschaftlicher Stärke, das nach dem Fall des Sowjetkommunismus nur die USA besaßen, sowie auf der normativen Ebene die Idee ihres liberal-demokratischen Konstitutionalismus, worin enthalten sind: Abwesenheit von Feudalismus und Klassenunterschieden, Schutz religiöser Freiheiten sowie – wie Overhaus sich ausdrückt – „die ‚Zivilisierung‘ vermeintlich ‚leerer‘ Räume (als) Grundlage für den Aufstieg und die Besonderheit der eigenen Nation“ (15). Donald Trump und seine nationalistische Regierungsweise unterminieren nach Ansicht des Autors die Zukunft der amerikanischen Demokratie im Inneren und gefährden damit auch nach außen die wirtschaftliche Prosperität und Sicherheit des Westens (39). Overhaus lässt in seinen Hauptabschnitten zwei fiktive Gesprächspartner auftreten, wobei der eine die „Pax Americana“ verteidigt, der andere sie kritisiert. In diesem einen Punkt aber, dass nämlich Amerika an militärischer und wirtschaftlicher Statur heute eingebüßt habe, sieht Overhaus eine Einmütigkeit beider. Dies sucht er in den folgenden Kapiteln zu begründen und die negativen Folgen aufzuzeigen, die sich vor allem für Europa und Deutschland ergeben (ebd.). Dabei nimmt er sich insbesondere die Beziehungen der USA zu China und dem Nahen Osten vor.

Die Infragestellung der „Pax Americana“ im Inneren

Im zweiten Kapitel geht Overhaus auf die Erosion, gar Spaltung, der amerikanischen Gesellschaft ein, die der Trumpismus mit sich gebracht habe (41-74). So viel sei gesagt: Der Trumpismus hat jene berühmte Vandenberg’sche Formel außer Kraft gesetzt, die da lautet: „Politics stops at the water’s edge“.[3] Das heißt: Die innenpolitischen Streitigkeiten enden dort, wo die außenpolitische Handlungsfähigkeit der – demokratischen oder republikanischen – Präsidentschaft gefordert ist und Amerika mit einer Stimme sprechen muss (51). Der Autor sieht dieses Prinzip im Auflösen begriffen und damit zwangsläufig auch die Führungsrolle der USA in der Welt entwertet.

Amerika und der Ukraine-Krieg

Das dritte Kapitel behandelt mit dem Ukrainekrieg die aktuell düsterste Phase in der europäischen Politik. Damit verknüpft die offenkundig gewordene Fragilität der überkommenen Sicherheitsordnung in West- und Osteuropa, die damit zusammenhängenden verteidigungs- und wirtschaftspolitischen Konsequenzen sowie die Position Amerikas unter der zweiten Administration Trumps dazu. Hier ist der Fixpunkt ganz eindeutig Putins Russland. Auf keinem Gebiet ist die militärische Abhängigkeit der europäischen Verbündeten von den USA größer als hier. Ohne den Einsatz amerikanischer Waffensysteme lässt sich der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht beenden und ein sicheres Leben in diesem Land nicht dauerhaft garantieren. In der ersten Hälfte zeichnet Overhaus die Entwicklung der Beziehungen Amerikas bzw. der NATO und Russlands bis zum Beginn des Krieges nach (75-99), auf die ich aus Platzgründen nicht eingehen möchte. Weitaus wichtiger erscheint mir, wie der Autor die Russland- bzw. Ukrainepolitik der zweiten Trump-Regierung bewertet. Die ist, wie die letzten Monate gezeigt haben, alles andere als von überzeugender Stringenz geprägt. Mal lobt Trump Putin, mal verteufelt er ihn, je nach Gusto. Trumps verworrenene Äußerungen in Richtung Ukraine und Russland stürzten letztendlich die NATO-Verbündeten und die Ukraine, die alles Leid zu ertragen hat und sich wie am Katzentisch der internationalen Politik vorkommen muss, in eine heillose Konfusion. Overhaus meint, dass, wenn es tatsächlich zu einem Waffenstillstand oder gar zu einer Friedensregelung kommen sollte, alles von den Sicherheitsgarantien abhinge, die der Ukraine gewährt würden und die ohne die USA nicht von Dauer sein könnten (106). Davon unberührt bleibt das Verlangen der Ukraine, Mitglied der NATO zu werden. Und in dieser Frage ist Overhaus pessimistisch: Einer Aufnahme würde Trump eine klare Absage erteilen (106).   

Amerika und China

Ich fahre fort mit dem meines Erachtens wichtigsten Kapitel des Buches, dem über die Rivalität zwischen den USA und China (Kap. 4, 121-169). In Deutschland und Europa ist die Bedeutung des Indopazifiks für die USA nie angemessen eingeschätzt worden. Man hat die US-Außenpolitik immer nur nach deutschen bzw. europäischen Maßstäben gesehen, ohne sich im Geringsten darüber Gedanken zu machen, dass nach 1989/90 die Uhren der Internationalen Beziehungen neu justiert worden sind. Barrack Obama hat 2011 seine Doktrin des Pivot to Asia ausgerufen, die die Vorrangstellung der amerikanischen Außenpolitik bezüglich dieser Weltregion vor allen anderen exponierte (122). Der Terminus „Indopazifik“ ist erst durch die erste Trump-Administration in die Leitlinien der US-Außenpolitik aufgenommen worden, um vor allem die gestiegene Bedeutung Indiens, das sich historisch gesehen als Rivale Chinas sieht, hervorzuheben (122 f.).

In den vergangenen drei Dekaden transformierte sich die Volksrepublik China von einer Entwicklungsdiktatur zu einer Wirtschaftsgroßmacht unter marktwirtschaftlichen Bedingungen, die weltweit agiert und in vielerlei Hinsicht wichtige Teilmärkte dominiert. Aber auch militärisch beginnt der Einfluss Chinas im Indopazifik und die Zunahme seiner Drohgebärden gerade mit Blick auf Taiwan stark anzuwachsen. Hier ist eine Konstellation entstanden, die Overhaus mit einem Ausdruck belegt, der auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Graham Allison zurückgeht[4] und in den USA in der Fachdiskussion, aber auch in der öffentlichen Kommunikation weit verbreitet ist: die „Thukydides-Falle“ (125, 164)[5]. Übertragen auf die amerikanisch-chinesische Konkurrenz im Indopazifik heißt das: Eine etablierte Macht wird von einer aufstrebenden Macht herausgefordert. Aus chinesischer Sicht sind es die USA, die sich auf einem absteigenden Ast befinden. Deren Macht stehe unter einem so hohen Druck, dass sie sich überlegten, eher früher zuzuschlagen als abzuwarten und sich dem Nachteil auszusetzen, dass die eigene Position noch mehr geschwächt werden könnte. Klassisch ausgedrückt in der Formel: „Si vis pacem, para bellum“.

Die Rivalität Amerika-China besteht im Grunde aus drei Komponenten: die militärische, die ökonomische und die normative. Grundsätzlich gilt, dass sich in den letzten Jahren in den USA die Ansicht durchgesetzt hat, dass der Aufstieg Chinas zu einer Großmacht auf Kosten Amerikas gegangen sei (Marktzugangsbeschränkungen, erzwungene Technologietransfers, Wirtschaftsspionage; 128). Der Autor schreibt, dass das „neue Entwicklungskonzept“ von Staats- und Parteichef Xi Jinping eine ‚nationalistische‘ Stoßrichtung habe, weil es individuellen Wohlstand, sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Effizienz als fundamentale Staatsziele ausgibt; der internationale Austausch sei für das Wohlergehen der chinesischen Nation von sekundärer Bedeutung. Xi strebe „die große Erneuerung der chinesischen Nation“ an, die 2049 mit dem hundertsten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, abgeschlossen sein soll (129, 132). Von daher gesehen spielen Menschenrechte, soweit diese als universalistisch angesehen werden, keine Rolle; und so gelte auch das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten (133). Was den Stellenwert an Bündnispartnern im Indopazifik angeht, so verfüge China im Unterschied zu den USA nur über einen Partner, nämlich Nordkorea; aber es habe seine sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Russland intensiviert (139). Gerade Nordkorea aber hat sich durch den Druck der Amerikaner, seine Rüstungsanstrengungen insbesondere im atomaren Bereich signifikant zu reduzieren, nicht beirren lassen. Auch die Drohungen Trumps in dessen erster Amtszeit mit einem militärischen Schlag haben lediglich das Gegenteil bewirkt (150). Overhaus konstatiert, dass Amerika im Indopazifik seinen Nimbus militärischer Unbesiegbarkeit verloren habe (151). US-Bündnispartner wie Südkorea fürchteten sogar, in seiner zweiten Amtszeit könnte Trump sich von seinem fernöstlichen Alliierten abkoppeln und den Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Land anvisieren. Die Angst, so der Autor, sei vorhanden, in einem militärischen Konfliktfall zwischen zwei Großmächte zu geraten und zu deren Verfügungsmasse zu degenerieren (152 f.).   

Overhaus gibt zu bedenken, dass der Bedeutungsschwund Amerikas als handelspolitische Macht im Indopazifik auch seine Allianzpartner in Europa in ihrem Verhältnis zu China wesentlich tangiert. Denn Volkswirtschaften wie Deutschland sind erheblich von China abhängig (166). Jenes vertrackte Grunddilemma zwischen liberal-demokratischen Grundüberzeugungen und den nackten wirtschaftlichen Daten ist nicht auflösbar. Die handelspolitische Weltkarte ist eine ganz andere als die „normative Weltkarte“ (167). Der Autor ‚menetekelt‘: Würde sich der sicherheitspolitische Konflikt zwischen China und Taiwan weiter zuspitzen, dann könnten in Amerika die Stimmen lauter werden, von Deutschland (und den europäischen Partnern) zu verlangen, eine rigidere wirtschaftliche Gangart gegenüber China einzuschlagen (169). Nach jetziger Lage wäre dies im Blick auf die deutsche Volkswirtschaft verheerend.

Die „Pax Americana“ im Nahen Osten

In der Regierungszeit Barack Obamas schälte sich in der politischen Klasse der USA ein überparteilicher Konsens heraus, der „endlosen“ Kriege im Nahen Osten leid zu sein und sich aus den dortigen Händeln heraushalten zu wollen. Die beiden Irakkriege zeitigten zwar Erfolge; aber „Afghanistan“ entwickelte sich später zu einem Trauma: Der Kampf gegen die Taliban ging verloren (178). Gleichwohl konnten (und können) die USA Entwicklungen im Nahen Osten nicht einfach ignorieren: Auch wenn hier von jeher nicht die Förderung westlicher Werte und westlicher Verfassungsprinzipien zu den Zielen der Pax Americana gehört habe (175), so zählen nach wie vor der Schutz Israels, der Kampf gegen den Terrorismus, die Sicherung der Energiequellen sowie die Verhinderung der Herstellung und Weiterverbreitung von Atomwaffen zu den Kerninteressen der USA in der Region. Der zuletzt genannte „Tagesordnungspunkt“ betrifft natürlich den Iran, der seit der theokratischen Revolution 1979 zum Hauptgegner der USA in dieser Weltregion avanciert ist. Hatte Obama 2015 noch ein Atomabkommen mit dem Iran abschließen können (unter erheblicher Mitwirkung Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs), verfolgte Trump hingegen eine konfrontative Politik des „maximalen Drucks“: unter anderem vollständiger Verzicht auf die Urananreicherung sowie Verzicht auf Unterstützung der schiitischen Milizen von Hamas und Hisbollah (181).

Die neueste Entwicklung konnte Overhaus natürlich nicht mehr verarbeiten. Er geht zwar davon aus, dass Trump in seiner zweiten Amtszeit zu seiner Politik des „maximalen Drucks“ zurückkehren würde, nur würde sich diesmal die entscheidende Frage stellen, wie weit die Forderungen Trumps gehen würden, ohne dass der Iran Gefahr liefe, sein „Gesicht zu verlieren“ (183 f.). Allerdings schreibt Overhaus geradezu hellseherisch, dass viel dafür spreche, „dass Israel versuchen würde, den Bau einer iranischen Atomwaffe mit militärischen Mitteln zu verhindern“ (192). Alles in allem sieht der Autor in der selbstimaginierten „Pax Americana“ im Nahen Osten einen außerordentlichen Realitätsverlust (211). Er sieht es als fraglich an, „ob amerikanische Rückversicherung […] und Abschreckung […] noch einen Beitrag zur Deeskalation der Gewalt im Nahen Osten leisten können“ (212). Lösungsvorschläge müssten schon konstruktiv sein, so Overhaus (216). Ob der Trump’sche Friedensplan diesem Wunsch entspricht, wissen wir freilich nicht.

Europa und Amerika

Das letzte Kapitel widmet Overhaus Europa. Er hat es mit „Amerikas schwindende Macht und Europas Unsicherheit“ überschrieben. Overhaus hat dies dahingehend erklärt, dass der „große Bruder“ „bei weitem nicht mehr so stark“ wirke wie früher und dass er sich „zunehmend von der Familie westlicher Demokratien entfremdet“ habe (217). Richtig ist, dass Europa – und auch Deutschland – sich im Grunde zwar vor den Kopf gestoßen fühlen, aber ihnen so langsam zu dämmern scheint, eigene Wege zu beschreiten und eigene Potentiale zu schaffen, um auf künftige negative Eventualitäten selbständig antworten zu können. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass die Macht Amerikas im Schwinden begriffen ist. Denn schon allein die Tatsache der Ankündigung, die „europäische Karte“ nicht mehr in das Zentrum der amerikanischen Außenpolitik zu stellen, beweist doch, dass die USA Europa nur noch als Schachfigur im Gewebe ihrer globalen Interessen sehen. Es hat einfach an Wert verloren. So hängt die NATO weiterhin am Tropf der Amerikaner. Eine „Europäisierung“ ihrer Kommandostruktur, wie sie Overhaus vorsichtig vorschlägt, wäre gegen den Willen Amerikas nicht durchsetzbar (227). Overhaus wirft auch die Frage auf, ob Europa auf wirtschaftlichem Gebiet in der Lage sei, eine Art „Gegenmachtbildung“ im Blick auf die USA zu formieren (237). Doch der Autor gibt meines Erachtens zu Recht zu bedenken, dass bei gravierenden Gegenmaßnahmen (Zölle, nichttariffäre Handelsbeschränkungen) die „Kollateralschäden für die transatlantischen Beziehungen und die NATO“ enorm wären (238). Overhaus kommt zum Ergebnis, dass die transatlantischen Beziehungen neu überdacht werden müssten; eine „einfache Neujustierung“ werde nicht mehr ausreichen (244).     

Wahrgenommene Umbruchzeiten verführen oft dazu, diese als Krisensituationen zu interpretieren, deren Vorhandensein als für wahr zu halten, was in der Regel Ängste, Unsicherheiten, Befürchtungen und Besorgnisse freisetzt, an deren Ende oft Mutlosigkeit und Regressivität stehen. An diesem Punkt kommt dann ein Momentum zum Tragen, das ich den „Toynbee-Effekt“ nennen möchte: „Challenge and Response“. Der englische Historiker Arnold Toynbee hat diese Formel in der Zwischenkriegszeit im letzten Jahrhundert geprägt und in dieser Aufeinanderfolge von Herausforderung und Antwort den Entwicklungsmechanismus in der Geschichte seit der Entstehung der ersten menschlichen Kulturen zu entdecken geglaubt. Heute sagt man statt ‚Antwort‘ ‚Chance‘: Krisenlagen stellen Herausforderungen dar, die die Chance bieten, adäquat darauf zu reagieren und die Dinge zum Besseren zu wenden.

Fragile Zukunft der „Pax Americana“

Auch Marco Overhaus bewegt sich auf diesen Pfaden. Zunächst zwingt ihn seine einleuchtende Analyse zu dem Ergebnis, dass „die Welt in den letzten 25 Jahren unsicherer, unberechenbarer und gewalttätiger“ geworden sei. Die Pax Americana sei im Niedergang begriffen, wenn nicht gar schon ausgemergelt (218). Welche Handlungsmöglichkeiten eröffnen sich nun für Deutschland und die anderen westlichen bzw. europäischen Demokratien? Vor allem stellt sich für den Autor die Frage, wie die Europäer – soweit sie der EU bzw. der NATO angehören – auf die radikale Kursänderung der US-amerikanischen Bündnis- und Europapolitik unter Trump reagieren sollten. Sie müssten auf jeden Fall erheblich mehr Geld aufbringen, zumal Trump inzwischen von den NATO-Partnern in Europa sogar fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes fordert. Ein Zweites wäre der Aufbau von militärischen Fähigkeiten, wo bislang eine hohe Abhängigkeit von den USA besteht (225 f.). Drittens müsste eine Reform der Kommandostruktur der NATO diskutiert werden, also in Richtung ihrer „Europäisierung“ (226 f.). Ein Viertes wäre für die EU der Aufbau einer Verteidigungsunion, „die diesen Namen verdient“. Da Overhaus aber vom Faktum einer „unzureichende[n] Interoperabilität“ europäischer Streitkräfte ausgeht, ist er in diesem Punkt sehr skeptisch (229).

In geoökonomischer Hinsicht vermutet der Verfasser ein kaum zu lösendes Problem für Deutschland und Europa: Es erscheint wohl ausgeschlossen, dass sich beide dem amerikanischen Druck werden beugen können, ihre wirtschaftliche und technologische Abhängigkeit von China zu vermindern (234). Allerdings hat mittlerweile auch die EU erkannt, dass ökonomische Beziehungen nicht mehr von sicherheitspolitischen Erfordernissen und Erwägungen abgekoppelt werden können (237). Overhaus weiß natürlich auch, dass es nicht darum geht, die transatlantischen Beziehungen obsolet erscheinen zu lassen. Sie bleiben für Europa und Deutschland ein essenzieller Bestandteil. Es geht ihm – soweit ich ihn verstanden habe – um die Schleifung von zu großen Abhängigkeiten (248).

Der Autor sieht richtigerweise eine gewisse illiberale Multipolarität. Daraus ergebe sich die Etablierung eines Gegenmodells, die er in einer Revitalisierung multilateraler Institutionen erblickt (249). Die große Unbekannte hinsichtlich der Umsetzung solcher Forderungen bleibt der politische Wille. Ist es schon schwierig genug, in den deutschen Regierungen – die zukünftig wohl nur Koalitionsregierungen mit zum Teil erheblich auseinanderliegenden Programmatiken sein werden – einen einheitlichen politischen Willen herbeizuführen, wieviel schwieriger wird dies auf der europäischen Ebene sein. In verteidigungspolitischen Angelegenheiten regelt jedes Land für sich die Rekrutierung seiner Armee, die Entwicklung und Beschaffung von Rüstungsgütern usw. Nationale Alleingänge dürften an der Tagesordnung sein. Marco Overhaus hat dies durchaus erkannt. Dieses „hohe […] Maß an politischer Führung“, das er abschließend einfordert, wird es in Europa nicht geben. Ich sage dies allerdings unter der Maßgabe der ceteris-paribus-Formel: Das heißt, dass sich alles unter den vorliegenden Verhältnissen abspielt. Denn die Verläufe politischer Entwicklungen stecken voller Überraschungen…


Anmerkungen:

[1] Francis Fukuyama: The End of History?, in: The National Interest, no. 16, 3-18.

[2] Samuel Huntington: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, 72, no. 3, 1993, 22-49.

[3] Arthur Vandenberg (1884-1951) war ein republikanischer Senator, der sich aber hinter die Truman-Doktrin gestellt hatte.

[4] Allison, Graham, Destined for War. Can America and China escape Thukydides’s Trap?, 2017.

[5] Dieser Ausdruck leitet sich her aus dem berühmten Geschichtswerk „Der Peloponnesische Krieg“ des griechischen Historikers Thukydides. Dieser Krieg fand zwischen Athen und Sparta (431-404 v. Chr.) um die Auflösung eines Machtdualismus zwischen den beiden Poleis zugunsten Athens unter Perikles statt, den der führende athenische Staatsmann eingedenk des militärischen Übergewichts Athens bewusst eskaliert und vom Zaun gebrochen hatte.



DOI: 10.36206/REZ25.48
CC-BY-NC-SA