Nicolò Fasola: Reinterpreting Russia’s Strategic Culture – The Russian Way of War
Nicolò Fasola analysiert Primärquellen auf das Vorhandensein strategischer Überzeugungen russischer Eliten im Sicherheitsbereich und wendet die Erkenntnisse auf russische Militäroperationen in Georgien (2008), in der Ukraine (2014-2015) und in Syrien (2015-2018) an. Jene Fallstudien zeichneten das Bild eines konsistenten russischen Vorgehens im Untersuchungszeitraum, basierend auf erwartbaren, strategisch-kulturell determinierten Verhaltensweisen. Norbert Eitelhuber lobt den Beitrag dieser im Konstruktivismus verankerten, wissenschaftlichen Arbeit zur Frage „Wie mit Russland umgehen?“.
Eine Rezension von Norbert Eitelhuber
Nicolò Fasola analysiert, welche Denkkategorien der strategischen Entscheidungsfindung und den militärischen Operationen Russlands zugrunde liegen. Diese sieht er in der strategischen Kultur des Landes begründet. Er entwickelt für seine Untersuchung das Modell der strategischen Kultur weiter und wendet dieses als konzeptionellen Rahmen an, um russische Primärquellen und die militärischen Einsätze des Landes in der Zeit zwischen 2008 und 2018 zu hinterfragen. Auf dieser Basis formuliert er Hypothesen, die er an drei Fallstudien – Georgien (2008), Ukraine (2014-2015) und Syrien (2015-2018) – überprüft. Er schafft so eine Grundlage, aus der heraus sowohl Erwartungen an Moskaus Handlungen formuliert als auch Gegenstrategien entwickelt werden können.
Während des Kalten Krieges gab es eine erste breite wissenschaftliche Befassung mit den Grundlagen der strategischen Kultur Russlands. Doch mit dem Zerfall der Sowjetunion verlor man im politischen Westen das Interesse an diesem Untersuchungsansatz. Im Bereich der Internationalen Beziehungen werden heute vor allem (1) die opportunistische Verfolgung materieller Gewinne, (2) die antidemokratischen Bestrebungen eines autoritären Systems und (3) die in der Person Putins begründeten Ziele als Erklärungsansätze für Russlands strategisches Handeln genannt. Die materialistische Natur der Theorie des Realismus und ihre vermeintliche universelle Gültigkeit erweckt den Eindruck, dass das Handeln von Staaten vorprogrammiert und stets leicht zu erklären sei. Der Liberalismus hingegen fokussiert auf den Regimetyp, ohne den breiteren soziokulturellen Kontext zu berücksichtigen. Die Fokussierung auf Putin wiederum missachtet die Ergebnisse von Studien, die russischem Verhalten auf der internationalen Bühne eine bemerkenswerte Beständigkeit attestieren unabhängig davon, wer in Russland die Macht in Händen hält.
Den Raum für Missverständnisse verkleinern
Fasola vertritt die Auffassung, dass solch simplifizierte Herangehensweisen zu einem fehlenden Verständnis der inneren Logik russischen Handelns führen und den Raum für Missverständnisse öffnen. An diesem Punkt setzt er an und definiert strategische Kultur als die bestimmenden Glaubenssätze einer sicherheitspolitischen Elite sowohl für den Bereich der Sicherheitspolitik als auch der Androhung und Anwendung von Gewalt, die über die Zeitachse hinweg weitgehend konstant sind. In Abgrenzung zu anderen Untersuchungen bietet Fasola ein verfeinertes konzeptionelles Modell strategischer Kultur an. Er operationalisiert strategische Kultur, indem er sie in ihre zugrundeliegenden Überzeugungen (‚beliefs‘) aufbricht: (1) die politisch-strategischen Überzeugungen, die die Selbstwahrnehmung und Weltsicht der sicherheitspolitischen Elite umfasst, und (2) die militär-strategischen Überzeugungen der Elite, die deren Präferenzen und Annahmen hinsichtlich des Einsatzes bewaffneter Gewalt beschreiben. Von einer spezifischen russischen strategischen Kultur kann seines Erachtens nur die Rede sein, wenn sich diese Überzeugungen in den drei von ihm untersuchten Fallstudien sowohl in den Reden und Dokumenten als auch in den beobachtbaren Handlungen wiederfinden. Denn Änderungen der strategischen Kultur sind in der Regel inkrementeller Natur.
Überzeugungen auf Seiten der russischen Sicherheitselite
Russlands Elite im Sicherheitsbereich definiert Fasola als eine kleine Gruppe von Individuen, die die Entscheidungsgewalt in der Sicherheits- und Militärpolitik innehaben. Im Bereich der politisch-strategischen Überzeugungen dieser Elite unterscheidet Fasola weiter zwischen existentiellen und wissenschaftlichen Überzeugungen. Bei den existenziellen Überzeugungen gründet sich die Selbstwahrnehmung der Elite auf drei Säulen. Die erste bezeichnet er als ‚Zuschreibung‘, die in der Natur der russischen Gemeinschaft und deren Abgrenzung nach außen besteht. Hierzu zählt er nicht-verhandelbare Eigenschaften wie Blut, Sprache und Kultur. Die Einstellungen zu nationaler Unabhängigkeit, souveräner Demokratie, Kollektivismus, sozialer Solidarität und Familienwerten gründeten in dieser breiteren Idee des Russischseins, die ohne Rücksicht auf Kosten verteidigt werden müsse. Diese existenziellen Elemente des Russischseins seien nicht an Staatsgrenzen gebunden, sondern erstreckten sich auf einen gemeinsamen zivilisatorischen Raum, der sogenannten russischen Welt (russkij mir). Die zweite Grundüberzeugung russischer Selbstwahrnehmung sei die als gegeben betrachtete Position von Russland als Großmacht. Die negative Formulierung hiervon, die unerreichte Größe, begründe die durchgängige Kritik Russlands am internationalen Status quo und die häufige Nachahmung des Verhaltens der USA. Innerhalb der russischen Welt sei zu erwarten, dass sich dieses Großmachtbewusstsein in Interventionismus oder gar Expansionismus übersetze. Als die dritte existentielle Überzeugung bezeichnet Fasola ‚Staatlichkeit‘, also die Zuschreibung von absoluter Autorität an den Staat und dessen Vorrang vor der Gesellschaft und den Individuen.
Im Bereich der wissenschaftlichen Überzeugungen unterscheidet er in Holismus, Determinismus und Huntingtonismus, also der Geopolitik der Macht. Die Definition der externen Bedrohungen, das Gefühl der ständigen Verwundbarkeit sowie die Interessen und Prioritäten in den strategischen Grundlagendokumenten spiegelten den holistischen Blick der Elite auf die Welt wider. Die Wahrnehmung der Welt als einen ständigen Kampf, als ein Nullsummenspiel, gründe in dem russischen Verständnis von Geopolitik. Dabei stehe für Russland nicht der Wettbewerb um materielle Interessen, sondern um Werte und kulturelle Begriffe im Vordergrund. In einer so verstandenen Welt werde die Realität durch den Konflikt (mit dem liberalen Westen) bestimmt, „teile und herrsche“ würde zur Handlungslogik und das Zeigen von Macht zur Einschüchterung eine Selbstverständlichkeit. Im Bereich der russischen Welt sei im Falle einer ideellen Bedrohung daher mit einer raschen und harschen Reaktion zu rechnen. Die systematische Nutzung von Gewalt und Zwang außerhalb der Grenzen des Russischseins sei nicht zu erwarten.
Die militär-strategischen Überzeugungen unterteilt Fasola in die bewusst getroffenen Überzeugungen, die ihm zufolge aufzeigen, unter welchen Bedingungen eine soziale Gemeinschaft bereit ist, Krieg zu führen sowie die operationellen Einsatzgrundsätze. Fasola erkennt selbst, dass der Bereich der bewusst getroffenen Überzeugungen analytisch nur schwer zu greifen ist, da davon auszugehen ist, dass Eliten sich in ihren Erklärungen an den vom internationalen Recht vorgegebenen Grenzen orientieren werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist die im russischen Verständnis vorgenommene Unterscheidung in ‚Ringen‘ (bor’ba) und ‚Kampf/ Krieg‘ (vojna). Während der Krieg darauf abzielt, die Bedingungen für einen vorteilhaften Frieden zu schaffen, sollen im Ringen lediglich nützliche, aber nicht entscheidende Siege im Nullsummenspiel des täglichen Wettbewerbs erzielt werden. Diese klare Trennung wird im westlichen Verständnis hybrider Kriegführung nicht vorgenommen. Die Bereitschaft, sich auf einer bestimmten Ebene zu engagieren, variiert mit der Natur der Ziele und dem geografischen Raum. Bei den operationellen Einsatzgrundsätzen erkennt Fasola in den von ihm untersuchten Grundlagendokumenten eine Präferenz des russischen Militärs für den qualitativ und oder quantitativ asymmetrischen und proaktiven Einsatz vorwiegend der Landstreitkräfte. Nuklearstreitkräfte würden als Zeichen des russischen Großmachtseins und als ultimative Garantie der strategischen Stabilität und des Überlebens betrachtet. Ein nuklearer Schlagabtausch stünde den Hauptzielen, die Führung und die Eskalationsdominanz zu behalten, entgegen. Die Einsetzbarkeit von Nuklearwaffen als Kriegsführungselement wird als limitiert betrachtet.
Die Fallbeispiele Georgien, Ukraine und Syrien
Fasola leitet seinen theoretischen Rahmen stringent aus der Analyse vielfältiger Quellen her. Seine abgeleiteten Erwartungen an russisches Verhalten sind aus der Sicht des konstruktivistischen Ansatzes der strategischen Kultur klar nachvollziehbar. Fasola nutzt das oben beschriebene System kultureller Überzeugungen im Fortgang seiner Arbeit als Hypothese, die er anhand der von ihm ausgewählten drei Fallbeispiele Georgien, Ukraine und Syrien validieren möchte.
Russland und der georgische Krieg: Südossetien und Abchasien erklärten aufgrund des aufkommenden georgischen Nationalismus („Georgien den Georgiern“) Anfang der 1990er-Jahre ihre Unabhängigkeit. Die folgenden Kämpfe wurden mittels eines von der OSZE vermittelten Waffenstillstandsabkommens beendet. Die Übertragung des Kommandos einer multinationalen Peacekeeping-Truppe auf Russland legitimierte de facto dessen zeitlich unbegrenzte Anwesenheit auf georgischem Territorium. Als sich Georgien der NATO annäherte und zugleich die Kontrolle über die abtrünnigen Gebiete zurückerlangen wollte, reagierte Moskau auf die georgische Militäroperation gegen Südossetien hart. Der Einsatz militärischer Gewalt wurde als schnelle Lösung gesehen, um dem wachsenden Einfluss regional-externer Akteure zu begegnen. Die Eliten schrieben Georgien der russischen Welt zu, mit der Georgien vor allem durch die historische Brille betrachtet eine zivilisatorische Verbindung habe. Ohne Russland würde Georgien nicht als Nation existieren, es sei ein Produkt der russischen Geschichte. Durch den militärischen Erfolg sah sich Moskau in seiner regionalen und globalen Glaubwürdigkeit gestärkt. Man war wieder zurück im Spiel der Großmächte. Im Bereich der wissenschaftlichen Überzeugungen habe die russische Elite Georgien als einen weiteren Fall westlicher Interventionen angesehen, mit deren Hilfe Russland eingekreist werden sollte. Die von Fasola beobachtete Interpretation der Geschehnisse durch Moskau, die militärische Eskalationsdynamik sowie der asymmetrische und pro-aktive Stil der Kriegführung decken sich mit den Erwartungen, die sich aus der Betrachtung der strategischen Kultur ergeben haben. Allerdings hätten die Mängel in der russischen Kriegführung theoretisch zu einem Wandel der militärischen strategischen Kultur führen können, taten dies aber nicht. Diese Beobachtung bestätigt, wie wenig änderbar strategische Kultur grundsätzlich ist.
Die Fallstudie Ukraine: Aus russischer Sicht wird die Ukraine unzweifelhaft der russischen Welt zugeschrieben basierend auf ihrem slawischen und christlich-orthodoxen Erbe. Dieses Framing sei tief im russischen Denken verankert, habe aber nie zu einer Gleichwertigkeit in den Beziehungen geführt. Auch wenn diese Zuschreibung eng mit dem russischen Großmachtbewusstsein mit den daraus abgeleiteten Ansprüchen und Verantwortungen verbunden sei, so liegt für den Autor der Fokus auf dem zivilisatorischen Wert der Ukraine und nicht auf den imperialen Bestrebungen Russlands. Brüssel hingegen pries sein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine klar als zivilisatorische Alternative zu Russland an. Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik der Ukraine sollten auf die Europäische Union ausgerichtet werden. Der mögliche Verlust der Ukraine sei für Russland somit auch zum Test seiner Macht geworden. Zugleich habe man sich in Moskau verwundbar gefühlt, da man den USA unterstellte, in Russlands zivilisatorischem Raum Unruhe zu stiften. Verwundbarkeit, Holismus und Determinismus hätten dazu geführt, dass die russische Elite das gesamte ihr zur Verfügung stehende Arsenal zur Anwendung gebracht und entsprechend ihrer militärstrategischen Überzeugungen nach Beginn der Unruhen in Kiew schnell vom Ringen, das sich als nicht hinreichend erwiesen hatte, zum Kampf eskaliert habe. Operationell ging Russland entsprechend seiner Einsatzgrundsätze vor. Alle aufgrund der strategischen Kultur zu erwartenden Reaktionen und Handlungsansätze wurden laut Fasola im Falle der Ukraine bestätigt.
Russland und der Krieg in Syrien: Dieser Fallstudie kommt besondere Bedeutung zu, da Syrien der einzige Krieg ist, den Russland außerhalb des post-sowjetischen Raumes geführt hat. Als die Gefahr einer Ausbreitung des Islamismus über die Region hinaus entstand, habe Russland begonnen, sich stärker für seinen langjährigen Partner Syrien zu engagieren. Russland habe sich als ein führender internationaler Akteur gesehen, der zu einer eigenständigen Politik in der Lage war. Russlands Unterstützung sei auf die Verteidigung des Prinzips der Souveränität, nicht auf die Person Assad gerichtet gewesen. Die westliche Argumentation, es ginge Russland um materielle Interessen, konnte in Fasolas Untersuchung nicht belegt werden. Russlands holistischer Ansatz spiegele sich in dem starken Nexus der politischen und militärischen Dimension wider. Russland betone im Rahmen seiner militärstrategischen Überzeugungen allerdings die Legitimität seiner Intervention deutlich stärker als in der russischen Welt. Zu beobachten sei auch ein späterer und weniger abrupter Übergang vom Ringen zum Kämpfen. Die operativen Überzeugungen unterschieden sich, mit Ausnahme der intensiveren Luftkriegsoperationen, nicht besonders von den Ansätzen in Georgien und der Ukraine.
An den drei Fallstudien wird deutlich, wie sehr die russische Elite den Wettbewerb, nicht den Frieden, als Normalität in den internationalen Beziehungen betrachtet. Entsprechend sei sie auch eher bereit, sich militärisch zu engagieren, insbesondere in der russischen Welt. Aufgrund der Charakteristika der russischen strategischen Kultur sei das Risiko einer (unbeabsichtigten) Eskalation in den Beziehungen zu Russland hoch. Und es sei weniger die Person Putins als die Überzeugungen der Elite, die Russlands Handeln bestimmten.
Der Nutzen von strategischer Kultur als Analyserahmen russischer Sicherheitspolitik
Durch die Nutzung der strategischen Kultur als Analyserahmen eröffnet Fasola einen wissenschaftlich begründeten Zugang zum Verständnis russischer Sicherheitspolitik und russischer Kriegführung. In seinen Fallstudien zeigt er auf, wie konsistent russisches Vorgehen zu den aufgrund der strategischen Kultur erwartbaren Verhaltensweisen ist. Damit belegt er die Nützlichkeit von strategischer Kultur als Analyserahmen.
Seine Unterscheidung in Ringen und Kampf ermöglicht eine Differenzierung, die in der gegenwärtigen oft wenig auf wissenschaftlicher Analyse beruhenden Diskussion wohltuend ist. Kritiker*innen werden ihn gemeinhin als ‚Russlandversteher‘ abtun, nicht erkennend, welch wichtigen Beitrag im Konstruktivismus verankerte wissenschaftliche Analysen gerade in der heutigen angespannten sicherheitspolitischen Lage leisten, um Russland und sein Handeln besser zu verstehen. Hierin liegt Fasolas eigentliche Leistung. Es wäre wünschenswert, wenn Fasolas wissenschaftlich hergeleitete Erkenntnisse Eingang in die derzeit stark polarisierte und eingeengte Diskussion um die Frage „Wie mit Russland umgehen?“ finden würden.