Lon Strauss und Njord Wegge (Hrsg.): Defending NATO’s Northern Flank. Power Projection and Military Operations
Die Beiträge dieses Sammelbands beleuchten das sicherheitspolitische Klima im hohen Norden sowie militärische Strategien, Fähigkeiten, Doktrinen und operative Konzepte, die die Arbeit der NATO im Nordatlantik und in der Arktis prägen. Minna Ålander lobt die „umfassende“ Einführung in die spezifischen Herausforderungen, die mit militärischen Operationen unter extremen Bedingungen einhergehen, vermisst aber eine vertiefte Analyse zu den Auswirkungen der Norderweiterung und zur russischen Perspektive auf die dadurch eingetretene Verdopplung der NATO-Russland-Grenze.
Eine Rezension von Minna Ålander
„Arktische Verhältnisse sind nicht nur zu herausfordernd, um sie ohne angemessene Akklimatisierung und Übung zu meistern, sondern sie werden auch jeden töten, der unvorbereitet ist“. Palle Ydstebø fasst eine zentrale Botschaft des Buchs „Defending NATO’s Northern Flank. Power Projection and Military Operations“, herausgegeben von Lon Strauss und Njord Wegge, zusammen (98). Das Buch bietet eine umfassende Einleitung in die eigentümlichen Herausforderungen, die mit militärischen Operationen in arktischen Verhältnissen zusammenhängen. Nichts funktioniert wie gewohnt und das Wetter kann innerhalb kürzester Zeit gewaltig umschlagen – das macht das nackte (oder eher: sehr dick und warm angezogene) Überleben zu einer Kunst für sich.
Unter extremen Bedingungen
Nach der allgemeinen Einleitung der Herausgeber beginnt das Buch mit einer Analyse der US-amerikanischen Multi-Domain Operations[1]-Doktrin und deren Anwendbarkeit auf arktische Verhältnisse, ebenfalls verfasst durch die Herausgeber. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass solche MDO unter bestmöglichen Verhältnissen nahezu unrealistisch herausfordernd und für arktische Klimabedingungen nicht geeignet sind. Dies liege unter anderem daran, dass Gerät in der Kälte nicht wie gewohnt funktioniert und leicht ausgerüstete „expeditionary“ Truppen schnell ohne Rückgriff auf Militärstützpunkte, die in der Arktis Mangelware sind, in Schwierigkeiten geraten könnten. Mit Hinblick auf die Beliebtheit, die MDO momentan unter westlichen Militärs genießen, sind die Einwände bezüglich der Realisierbarkeit der Doktrin bemerkenswert.
Von Norwegen lernen
Das Buch hat einen starken Fokus auf der norwegisch-amerikanischen Perspektive, was Stärke und Schwäche zugleich ist – eine Stärke insofern, als dass man einiges über Norwegens lange Geschichte als NATO-Gründungsmitglied lernt. Und eine Schwäche, weil das Buch die Möglichkeit verpasst, die strategischen Veränderungen, die Finnlands und Schwedens NATO-Beitritt mit sich bringt, tiefgehender zu analysieren. Stian Bones beschreibt die Geschichte des russlandpolitischen Ansatzes Norwegens seit den 1960er-Jahren als „Abschreckung und Rückversicherung“ (deterrence and reassurance). Aus der Perspektive der neuen NATO-Mitglieder Finnland und Schweden sei es hochrelevant zu erlernen, wie Norwegen als ein vergleichbar kleiner Mitgliedstaat durch beispielsweise gemeinsame Forschung und Entwicklung des Verteidigungskonzeptes seine Interessen in die politischen Prozesse der USA eingefügt habe. Tormod Heier fügt dem eine interessante gegenwärtige Perspektive hinzu, indem er die eingeschränkte norwegische Fähigkeit, das deterrence and reassurance-Konzept heute zu verwirklichen, auf die militärische Schwäche des Landes und eine daraus resultierende Abhängigkeit von den USA zurückführt. Joachim Bentzen rundet die Norwegen-Analyse mit seinem Beitrag ab, wobei er das Bedürfnis nach neuen Ansätzen aufgrund der seit dem Kalten Krieg veränderten Rolle Norwegens unterstreicht.
Eine operationelle Sicht auf die Region
Eine zweite thematische Gruppe von Beiträgen bilden die Aufsätze, die einen militärisch-operationellen Blickwinkel auf die Arktis einnehmen. Dabei lernen wir beispielsweise aus Amund Osflatens Beitrag, dass auch Russland – und nicht nur die NATO-Länder – mit arktischer Kriegführung zu kämpfen hat. Auch Russland verfüge über eine relativ eingeschränkte Anzahl an Truppen, die tatsächlich für arktische Verhältnisse ausgebildet und -gerüstet seien. In einem Kriegsfall mit der NATO könnten Russlands arktische Truppen deshalb kaum durch andere Einheiten verstärkt werden – und müssten gegebenenfalls selbst andere verstärken. Palle Ydstebø merkt in seinem Aufsatz zur Bedeutung von Militärdoktrinen in der Arktis an, dass eine russische, auf arktische Kriegführung spezialisierte Brigade aus Petschenga im Winter 2022 in Charkiw nicht sonderlich gut abgeschnitten habe.
Großmachtwettbewerbe und -strategien
Die USA kommen im Buch zu Recht prominent vor und auch Russland sind ein paar Aufsätze gewidmet. China wird jedoch nur in Nebensätzen im Kontext des Großmachtwettbewerbs erwähnt, was eine verpasste Chance ist, die russisch-chinesische Dynamik und Chinas Interessen in der Arktis genauer zu analysieren. Über Amund Osflatens Beitrag hinaus, der die russische Präferenz der konventionellen Kriegführung über andere Methoden analysiert, kommt im Beitrag von Troy J. Bouffard Russlands selektive Einhaltung des Völkerrechts am Beispiel des UN-Seerechtsübereinkommen als Mittel zur Beanspruchung der Kontrolle über den nördlichen Seeweg zur Sprache.
Die US-amerikanische nationale Strategie zur Arktis wird thematisch von David Auerswald analysiert und Ryan Burke und Jahara Matisek unterziehen die dazugehörigen Strategien einem kritischen Realitätscheck. Burke und Matisek schlussfolgern, dass es den in den USA sporadisch auftauchenden arktischen Ambitionen an Kohärenz und überzeugender Budgetierung fehle. Die Autoren empfehlen außerdem eine starke Einbindung der arktischen Bündnispartner der USA, weil jede Nation in der Arktis noch mehr als anderswo auf Zusammenarbeit angewiesen sei. Zu einem ähnlichen Fazit kommen Walter Berbrick und Lars Saunes in ihrer Analyse der Zusammenarbeit zwischen der norwegischen und der US-amerikanischen Marine zur Abschreckung auf See.
Viele der Autoren haben einen militärischen Hintergrund, was die Beiträge beeindruckend detailliert macht. Eine Nebenwirkung sind jedoch die übertrieben vielen Abkürzungen, die für das Militär typisch sind. Darunter leidet der Lesefluss in inhaltlich hochinteressanten Aufsätzen, am meisten im ansonsten spannenden Aufsatz zur Rolle von Spezialeinsatzkräften im arktischen Kontext. Die Autoren Marius Kristiansen, Njål Hoem und Leo Blanken haben selbst Begriffe wie Großmachtwettbewerb (Great Power Competition, GPC) oder Machtinstrumente (Instruments of Power, IoP) abgekürzt.
Die europäisch-arktischen Staaten und ihre Arktispolitik
Der schwächste Teil des Buchs ist der letzte, der Kapitel zu (europäisch-)arktischen Ländern und deren arktische Angelegenheiten beinhaltet. Kanada fehlt ganz, und Finnland und Schweden hätten beide einen eigenen Aufsatz verdient, anstatt zusammen und hauptsächlich im Kontext des NATO-Beitrittsprozesses – mit nur oberflächlichem Bezug zur Arktis – von zwei finnischen Autor*innen ohne schwedische Beteiligung abgehandelt zu werden. Der Beitrag zu Finnland und Schweden ist mit vielen Details zum aktuellen Stand des Beitrittsprozesses im Frühjahr 2023 bei Manuskriptstopp so im Moment verfangen, dass er bereits anderthalb Jahre später schon veraltet ist.
Im Länderteil ist der Beitrag zur dänischen Arktispolitik, mit drei oft gegeneinander agierenden Teilen des Königsreichs (Dänemark, Grönland und den Färöer-Inseln) am spannendsten und schafft es, die Konfliktpunkte und den dänischen Spezialcharakter unter den europäischen Arktisstaaten einleuchtend zu erklären. Der Beitrag zum Vereinigten Königreich bleibt wiederum unzusammenhängend, mit einerseits dankbar vielen Details zur Geschichte des britischen Interesses an der Arktis und des dortigen militärischen Engagements, andererseits aber mit recht zusammenhangslos wirkenden Verweisen auf die Gefahr für die arktische Rolle des Vereinigten Königsreichs, die von einer potenziellen schottischen Unabhängigkeit ausgehe.
Fazit
Insgesamt ist es das größte Manko des sehr lesenswerten Buchs, dass die Bedeutung und Konsequenzen des finnisch-schwedischen NATO-Beitritts nur in Nebensätzen und sehr spekulativ Erwähnung finden. Auch wenn Schweden zum Veröffentlichungszeitpunkt noch nicht Mitglied war, hätten die geostrategischen Implikationen der Norderweiterung eine weiter vorausschauende Analyse verdient gehabt. Eine solche Analyse aus der russischen Perspektive – wie sehr sich die Lage allein durch die Verdopplung der Russland-NATO-Grenze nach Finnlands Beitritt veränderte – wäre dabei besonders interessant gewesen.
Anmerkungen:
[1] Nachfolgend abgekürzt: MDO.
Externe Veröffentlichungen
Joachim Weber / 07.07.2023
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen
Michael Däumer / 03.12.2021
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen
Janis Kluge, Michael Paul / 31.07.2021
Russland-Analysen