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Rezension / 19.11.2025

Ferdinand Gehringer, Johannes Steger: Deutschland im Ernstfall. Was passiert, wenn wir angegriffen werden

Hamburg, Hoffmann und Campe 2025

Wie würde Deutschland im Ernstfall eines militärischen Konflikts reagieren – und welche Auswirkungen hätte das auf Alltag, Demokratie und Freiheit? Ferdinand Gehringer und Johannes Steger zeigen, wie staatliche Strukturen, die Bundeswehr und die zivile Gesellschaft zusammenwirken müssten, um Krisen zu bewältigen, und welche Risiken etwa bei der Versorgung mit Medikamenten oder Lebensmitteln bestehen. Das Buch leistet trotz der bedrückenden Problematik wertvolle Aufklärungsarbeit, so unser Rezensent Jakob Kullik.

Eine Rezension von Jakob Kullik

Krisenratgeber und Survivalliteratur erleben mit jeder Krise Aufwind. Und an Krisen mangelt es in den internationalen Beziehungen im Regelfall nicht. Das publizistische Spektrum reicht von halbseriösen Prepper-Büchern über apokalyptische Szenarien zum Dritten Weltkrieg. Hin und wieder werden auch von offizieller Seite wie dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe seriöse Ratschläge zur Bevorratung von Lebensmitteln und zu Verhaltensweisen in Notlagen mitgeteilt. Nicht selten fehlt jedoch die gekonnte, unaufgeregte Verknüpfung zwischen der Makro-Ebene – Was macht der Staat? – und der Mikro-Ebene – Wie sollte ich mich persönlich verhalten? Dieser Brückenschlag ist nicht einfach herzustellen, denn entweder geht es in den auf dem deutschen Buchmarkt vorhandenen Publikationen ums nackte Überleben oder es wird der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung durchexerziert. In schwelenden Krisenlagen wie der unsrigen ist es jedoch viel wichtiger, nüchtern und ausgewogen auf die komplexe Thematik zu schauen und sich dabei weder von Emotionen noch von Wunsch- oder Zerrbildern leiten zu lassen. Krise heißt eben nicht gleich Krieg, sondern sie kann ein Kontinuum an Zuständen und Reaktionen hervorrufen. Und die Kenntnis über die politischen Reaktionsmöglichkeiten des deutschen Staates ist nicht nur für Fachleute relevant, sondern kann für alle Bürgerinnen und Bürger des Landes einmal überlebenswichtig sein. Schon in Friedenszeiten kann es daher nicht schaden, sich Gedanken über den Ernstfall zu machen.

Genau an dieser Stelle setzt das Buch von Ferdinand Gehringer und Johannes Steger an. Sie fragen in der gebotenen Klarheit, „Was also passiert mit Deutschland, wenn sich ein bewaffneter Konflikt in Europa zuspitzt? Wie reagieren unsere staatlichen Strukturen – und wie reagiert unsere Gesellschaft? Welche Folgen hätte ein solcher Ernstfall für unsere Demokratie, unsere Freiheit und unseren Alltag?“ (8). Das sind genau die Fragen, denen man in der Politik nicht selten ausweicht, weil sie unangenehm und unpopulär sind, Geld kosten und vieles unklar bleibt. Doch irgendwann können sich Krisenlagen so zuspitzen, dass man sich mit ihnen auseinandersetzen muss. Das Buch der beiden Sicherheitsexperten ist daher zeitlich passend. Und wer das Buch angesichts der Thematik mit einem mulmigen Gefühl aufschlägt, wird erst einmal beruhigt. Denn, so die Autoren, in der Einleitung: „Deutschland und Europa sind, um es klar zu formulieren, nicht unvorbereitet. Erlebt haben wir zahlreiche Menschen in Behörden, Politik, Organisationen und Unternehmen, die den Ernstfall durchdenken, sich einsetzen und an entsprechenden Vorkehrungen arbeiten – sei es, um den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels zu begegnen, eines technischen Fehlers oder eben einer geopolitischen Krise“ (9). Dies macht ein wenig Mut.

Der Rechtsstaat ist auf dem Papier auf diverse Krisenlagen vorbereitet

Um Spannung und Nahbarkeit von Krisenlagen zu erzeugen, beginnt jedes Kapitel mit einem Szenario, das eskalativ fortgeschrieben wird. Diese Szenarien-Folge geht maßgeblich von Russland und seinen Verbündeten aus. Die russischen Aktivitäten umfassen Manöverübungen, Desinformationen, Cyberoperationen und gezielte Provokationen des NATO-Bündnisses, woraufhin Artikel 4 – der Konsultationsmechanismus – in der Allianz ausgerufen wird. Deutschland reagiert, indem es den sogenannten Spannungsfall ausruft. Die osteuropäischen NATO-Staaten versetzen daraufhin ihre Truppen in Alarmbereitschaft. Entlang solcher Szenarien schildern die Autoren, wie das Bündnis vermutlich reagieren würde und welche militärischen, sicherheitspolitischen, aber auch innenpolitischen Folgen dies für die Bundesrepublik hätte.

Sicherheitspolitische Praktikerinnen und Praktiker mögen vor allem auf die spezifischen zivilen und militärischen Fähigkeiten schauen, aber diese sind nicht losgelöst vom Rechtsrahmen zu betrachten. Denn auch im Spannungs- und Krisenfall agieren deutsche Behörden nach rechtsstaatlichen Prinzipien und im Rahmen geltender Gesetze. Gehringer und Steger zeigen diese rechtsstaatliche Eskalationsleiter auf und machen deutlich, dass das Grundgesetz und eine Reihe weiterer Gesetze zahlreiche Krisenlagen und Kompetenzermächtigungen vorsehen. Die politisch-rechtlichen Zustände sind demnach der Verteidigungsfall, der Spannungsfall, der Zustimmungsfall und der Bündnisfall, ergänzt durch die Notstandsgesetzgebung und diverse Vorsorge- und Sicherstellungsgesetze etwa für die Aufrechterhaltung der Lebensmittelversorgung oder des Verkehrs (18-21). Die Bundesrepublik ist somit zumindest auf dem Papier auf diverse Krisen- und Katastrophenlagen vorbereitet. Immerhin, habe „es seit Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 keine Situation [gegeben], die diese Maßnahmen in vollem Umfang notwendig gemacht hätte“ (18). Das könne sich jedoch mit Blick auf Russlands anhaltenden hybriden Krieg gegen westliche Staaten ändern. Dann würde aus der Vorstufe unterhalb eines Kriegs bitterer Ernst werden.

Krisenreaktion und Verteidigung als zivile und militärische Gesamtaufgabe

Der Zustand der Bundeswehr ist allgemein bekannt. Von einer „kriegstüchtigen“ Armee, die einmal die konventionell stärkste Streitkraft Europas werden soll, ist sie gegenwärtig weit entfernt. Und selbst wenn die deutsche Armee ihre Befähigungsziele erreicht hätte, muss klar sein, dass es in einer ernsten Krisenlage nicht nur auf das Militär ankommt. Im Gegenteil: Ohne die Unterstützung zahlreicher ziviler Stellen und das gesellschaftliche Ehrenamt wäre die Wehrfähigkeit der Truppe nicht lange gewährleistet. Die sogenannte zivile Verteidigung ist erfolgskritisch, wenn man einigermaßen geordnete Verhältnisse aufrechterhalten will. Hierzu zählen der Schutz kritischer Infrastrukturen, also von Strom- und Umspannwerken, aber auch die Gewährleistung von Transportwegen auf Schiene und Straße. Im Grunde kann im Krisen- und Kriegsfall theoretisch alles militärisch relevant werden. Was das konkret bedeutet, wer hierfür konkret verantwortlich ist und welche Bereiche betroffen sind, liest man im Eingangsszenario in Kapitel II „Deutschland im Spannungszustand“. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die deutschen Ministerien schon in Friedenszeiten nicht immer optimal miteinander zusammenarbeiten und kommunizieren, dann bleibt zu hoffen, dass dies wenigstens im Spannungsfall gelingt. Denn dann geht es um Existenzielles: die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten, die Priorisierung von Verkehrswegen für militärische Transporte und den Umgang mit Demonstrationen im Inland. Denn dass in einer solchen Ausnahmesituation alle mit anpacken und sprichwörtlich wie ein Mann hinter der Regierung stehen, darf bezweifelt werden.

Dass der Staat und die Gesellschaft bestmöglich auf eine solche Lage vorbereitet werden und schnell reagieren, ist Gegenstand des „Operationsplans Deutschland“ (OPLAN DEU) (48). Dieser soll im Sinne eines zivil-militärischen Masterplans das Land in eine gesamtgesellschaftliche Verteidigungsfähigkeit versetzen. Und hierzu gehören Dinge, die ans Eingemachte gehen. Deutschland würde dann zur logistischen Drehscheibe für Truppentransporte (vermutlich) Richtung Osteuropa – und zwar in beide Richtungen: Nach Osten würden Truppen und Material gehen. Zurückkämen Verwundete und Tote. Dieses Zusammenspiel zu durchdenken, bereitet keine Freude, ist aber notwendig und kann Leben retten. Folglich ist der OPLAN DEU als geheim eingestuft. Dass er existiert, sollen Russland und andere Staaten jedoch wissen. Denn auch strategische Kommunikation zur Signalisierung der Bereitschaft einer fähigen militärisch-zivilen Gesamtverteidigung gehört mittlerweile zur Abschreckung.

Wenn der Verteidigungsfall ausgerufen wird

Wer die Eskalationsstufen im Buch nicht nacheinander lesen will, kann direkt zu Kapitel V „Eskalation im Osten“ springen. Hier greift Russland das Nato-Gebiet an und die theoretischen Abläufe in den vorherigen Kapiteln werden nun real. Die Ausrufung des Verteidigungsfalls sei der „absolute Ernstfall für Deutschland“ (164). Unter ihm gilt Kriegsrecht, welches bisher noch nie in der Bundesrepublik ausgerufen wurde. Das Grundgesetz benennt zwar fein säuberlich, wer den Verteidigungsfall feststellen darf, nämlich nur der Bundestag mit einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen. Doch ob dieser in einer solchen Lage überhaupt rechtzeitig und vollzählig zusammentritt, ist ungewiss. Ein sogenannter „Gemeinsamer Ausschuss“ von Bundesrat und Bundestag könnte in diesem Fall gemäß Grundgesetz als Notparlament die Aufgaben übernehmen und so die staatliche Regierungsfähigkeit auf Bundesebene sicherstellen. In der Exekutive übernähme der Bundeskanzler die Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr. Ist ein solcher Zustand erreicht, ist im Grunde vieles möglich. Die Bundeswehr kann dann im Innern des Landes agieren und erhält erweiterte Befugnisse. Unternehmen könnten dazu verpflichtet werden, kriegswichtige Dienstleistungen und Güter bereitzustellen.

Und das alltägliche Leben spielte sich nicht mehr in gewohnten Bahnen ab. Gerade hier zeigen die Autoren anschaulich, was der Verteidigungsfall – also der Kriegszustand – für das persönliche Leben bedeutet. In knappen Kapiteln werden drängende Themen behandelt, so etwa zur Gesundheitsversorgung, zum Arbeitseinsatz oder zur Reisefreiheit. Was in Friedenszeiten selten ein Problem darstellt, nämlich die hohe Abhängigkeit deutscher Apotheken von internationalen Zulieferern, kann im Kriegsfall katastrophale Folgen haben. Denn: „Die Bundeswehr ist in der Lage, mit ihren Apotheken geringfügige Mengen von Medikamenten selbst zu produzieren. Sie kann aber niemals Engpässe bei der Arzneimittelversorgung überwinden. Im Ernstfall werden die Mengen selbst für den Eigenbedarf der Bundeswehr nicht ausreichen“ (185). Wir halten fest: Der Bundeswehr fehlt es schon jetzt an Personal, Munition und Medikamenten. Das sind denkbar schlechte Vorzeichen, sollte es einmal wie im Falle der Ukraine zu einem jahrelangen Abnutzungskrieg kommen. Immerhin, so beruhigen die Autoren: „zahlreiche Sicherheitsexpertinnen und -experten [gehen] derzeit nicht davon aus, das großflächige Bomben- und Raketenangriffe auf deutsche Städte ein wirklich realistisches Szenario sind“ (189). Hinter diesen Befund darf man allerdings ein Fragezeichen setzen, denn jeder Krieg zeigt aufs Neue, wie wenig die Konfliktmittel und die Konfliktmuster vorhersehbar sind.

Fazit

Das Buch leistet trotz der bedrückenden Problematik wertvolle Aufklärungsarbeit. Es ist kein politikwissenschaftliches Werk, behandelt jedoch ein hochpolitisches Thema: den Umgang Deutschlands mit dem militärischen Ernstfall. Über die theoretisch möglichen Abläufe und Verantwortlichkeiten im Vorfeld Bescheid zu wissen, schafft Klarheit und Transparenz. Ob dadurch mehr Vertrauen in die staatliche Leistungsfähigkeit entsteht, bleibt ungewiss, denn vieles hängt, wie die beiden Autoren überzeugend ausführen, von jedem und jeder einzelnen ab. Es ist daher ein Buch nicht nur für Fachleute und Sicherheitspolitik-Interessierte, sondern für krisenmündige Staatsbürgerinnen und -bürger – mit oder ohne Uniform. Die Szenarien im Buch schaffen den notwendigen Thrill beim Lesen und zeigen plastisch, was es heißt, wenn die – im Krisenfall hoffentlich arbeitsfähige – Bundesregierung schwerwiegende Entscheidungen treffen muss. Und selbst, wer sich für all dies nicht interessiert, sollte sich klarmachen, dass im Falle des Falles jede und jeder betroffen sein wird. Den Autoren gelingt es anschaulich und ausgewogen, die Materie interessant aufzubereiten und in ein realistisches Gesamtbild zu packen. Gleichwohl haben beide zu bestimmten Themen eine dezidierte Meinung und sparen nicht mit konstruktiver Kritik, so etwa an Deutschlands geopolitischer Verantwortungsscheu oder dem Vorhandensein von Zivilklauseln an deutschen Universitäten, die militärische Forschung erschweren würden. Sollte die im Buch geäußerte Kritik zur Verbesserung von Strukturen, Abläufen und Fähigkeiten führen, wäre schon einiges erreicht. Viele Krisenbücher er- oder verschrecken; dieses klärt auf und legt den Finger in die Wunden. Und diese sollten noch in Friedenszeiten behandelt werden, bevor aus ihnen echte Wunden werden mit tödlichen Konsequenzen.    



DOI: 10.36206/REZ25.47
CC-BY-NC-SA