Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung
Adom Getachew führt in das politische Denken antikolonialer Intellektueller und Staatsmänner wie Nnamdi Azikiwe, Kwame Nkrumah oder Julius Nyerere ein und zeigt, wie postkoloniale Staaten ihre Rolle im internationalen Gefüge zu gestalten suchten, Föderationen bildeten und andauernde Machtgefälle infrage stellten. Trotz des Scheiterns dieser Initiativen blieben ihre Ideen wegweisend, um „bestehende Dynamiken internationaler Politik“ kritisch zu hinterfragen, so die Autorin. Max Lüggert lobt die detaillierte Darstellung, beanstandet aber auch blinde Flecken der Analyse und den „Eindruck von historischer Zwangsläufigkeit“.
Eine Rezension von Max Lüggert
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war auf globaler Ebene unter anderem geprägt durch die weitgehende Auflösung der damals noch bestehenden Kolonialreiche. Im gesamten Globalen Süden, aber vornehmlich in Afrika und etwas später auch in der Karibik erreichten viele kolonisierte Staaten ihre Unabhängigkeit. In diesem Zusammenhang wurden neue Stimmen auf der Weltbühne hörbar und die postkolonialen Staaten nutzten bereits bestehende Institutionen der internationalen Politik – vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen –, um ihre eigenen Sichtweisen vorzustellen und ein Verständnis internationaler Politik zu präsentieren, das sich von den Ansichten und Praktiken der einstigen Kolonialmächte abgrenzte. Die äthiopisch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Adom Getachew hat diese Periode in ihrer Dissertation „Die Welt nach den Imperien“ näher betrachtet – diese Arbeit liegt nun auch als Taschenbuch in deutscher Übersetzung vor.
Die Logik von Exklusion und Inklusion
Zu Beginn liefert die Autorin einen allgemeinen theoretischen Einstieg, der sich dem Verständnis kolonialer Verhältnisse widmet. Hierfür führt sie die Denker*innen ein, an denen sie sich in ihrem Buch vornehmlich orientiert. Dazu gehören einerseits afroamerikanische Vordenker wie W. E. B. Du Bois und andererseits postkoloniale Staatsmänner wie Kwame Nkrumah (erster Präsident von Ghana), Julius Nyerere (erster Präsident von Tansania) und Eric Williams (erster Premierminister von Trinidad und Tobago). Mit Verweis auf diese Theoretiker skizziert die Autorin die Situation der Kolonialreiche im 19. Jahrhundert als Ausgangspunkt. Im Kolonialismus wurden die Ungleichbehandlung und eine Unterordnung der kolonisierten Staaten unter die Kolonialmächte völkerrechtlich fixiert. In dieser „Logik von Exklusion-Inklusion“ (49) wurden den kolonisierten Staaten somit Pflichten auferlegt, allerdings ohne im Ausgleich dafür über dieselben Rechte wie die Kolonialstaaten zu verfügen.
Getachew zeigt auch schlüssig, dass die parallel dazu in vielen Ländern stattfindende Abschaffung der Sklaverei kein Indiz dafür war, dass bestehende Ungleichheiten abgebaut wurden. Vielmehr habe das Vorurteil eines zivilisatorischen Gefälles zwischen Kolonialmächten und den ihnen unterworfenen Staaten fortbestanden, was sich auch daran zeigte, dass stärker europäisch geprägten Kolonien wie Australien, Kanada oder Neuseeland gewisse Autonomierechte bereits früher zugesprochen wurden.
Das ‚bedingte‘ Recht auf nationale Selbstbestimmung
Das koloniale System des 19. Jahrhunderts wurde mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zwar keineswegs abgeschafft, aber durchaus neugeordnet. Als ein Schlagwort der damaligen Nachkriegsordnung ist der Begriff des Selbstbestimmungsrechts im historischen Bewusstsein geblieben, mit dem der damalige amerikanische Präsident Woodrow Wilson unter anderem die Grundlage für die Bildung neuer Staaten aus den Gebieten des Deutschen Reiches sowie Österreich-Ungarns bildete.
Getachew unterzieht diese Lesart einer gründlichen Kritik. Die Ära nach dem Ersten Weltkrieg – maßgeblich geprägt durch den Völkerbund – ist für die Autorin noch kein Ausweis einer auf nationaler Selbstbestimmung basierenden Ordnung, sondern vielmehr ein „konterrevolutionärer Moment“ (95), durch den die verbliebenen Kolonialreiche der Siegermächte geschützt werden sollten. Als Beleg für die Widersprüchlichkeit des amerikanischen Versprechens von nationaler Selbstbestimmung nennt die Autorin die Situation der Philippinen: Wilson selbst wird so zitiert, dass die amerikanische Verwaltung der Philippinen einen treuhänderischen Akt darstelle, während die volle Unabhängigkeit erst gewährt werden könne, wenn die örtliche Bevölkerung über eine gewisse politische Reife verfüge. Vor diesem Hintergrund wurde die allgemeine Rechtsidee der Selbstbestimmung der Völker somit praktisch ad absurdum geführt.
In Bezug auf die Zwischenkriegszeit schildert die Autorin abschließend das Schicksal Äthiopiens: Äthiopien wurde als nicht kolonisierter Staat in den Völkerbund aufgenommen, bei der Invasion durch Italien intervenierte der Völkerbund jedoch nicht, da dort die Ansicht bestand, dass Äthiopien nicht über die vollen Rechte wie die anderen Mitgliedstaaten verfügte.
Postkoloniale Ordnungsvorstellungen der Nachkriegszeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg schärfte sich die Vorstellung davon, wie eine postkoloniale politische Ordnung aussehen sollte. In dieser Ordnung sollten bestehende imperialistische Strukturen abgeschafft und im Anschluss daran wirtschaftliche Ausbeutung überwunden werden. Das als „Afrikanisches Jahr“ bekanntgewordene Jahr 1960 ist in diesem Zusammenhang aus Sicht der Autorin ein wichtiger Wendepunkt. In diesem Jahr wurden nicht nur mehrere afrikanische Kolonien unabhängig, die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete auch eine Resolution, in der die Unabhängigkeit der verbliebenen Kolonien als unverzüglich umzusetzendes Ziel festgelegt wurde.
Getachew schildert, wie das Versprechen der Selbstbestimmung allerdings in den neu gegründeten Staaten rasch herausgefordert wurde. In verschiedenen Staaten gab es gewaltsame Auseinandersetzungen über abtrünnige Regionen, wobei sich postkoloniale Staatschefs hier unterschiedlich positionierten. So war es der mehrfach im Buch erwähnte Kwame Nkrumah, der sich im Konflikt um die Region Katanga klar auf die Seite der Zentralregierung des Kongo stellte – für die Autorin ein Hinweis dafür, dass sich Nkrumah nicht vollständig der Situation bewusst gewesen sei, dass ethnische und nationale Grenzen in postkolonialen Staaten nicht immer kongruent sind. Eine andere Herangehensweise verfolgte Julius Nyerere im Biafra-Konflikt, indem seine Regierung die abtrünnige Region mit dem Hinweis als Staat anerkannte, dass die nigerianische Zentralregierung die dort lebenden Menschen unzureichend schütze. Getachew zeigt somit, dass die Staatlichkeit der postkolonialen Staaten durchaus prekär war. Eine Reaktion darauf war die Entwicklung föderaler Ideen, wie sie an mehreren Beispielen verdeutlicht.
Die Genese postkolonial-föderaler Ideen
An dieser Stelle erläutert die Autorin, wie sich postkoloniale Staatsmänner unter anderem an den Ideen aus dem Vorfeld der amerikanischen Unabhängigkeit und der Frühphase der Vereinigten Staaten – allen voran den „Federalist Papers“ – orientierten. Die grundsätzliche Idee sei hierbei gewesen, dass im Rahmen einer Föderation die Unterdrückung durch einflussreichere Staaten vermieden werden kann. Als erstes Beispiel bezieht sich Getachew wieder auf Nkrumah, der die Situation der postkolonialen Staaten in Afrika als „Scheinunabhängigkeit“ (195) betrachtete. Seine Reaktion darauf bestand in der Vorstellung, dass sich alle afrikanischen Staaten in einer Union zusammenschließen müssten. Und von 1958 bis 1963 wurde dieses Ideal tatsächlich en miniature durch eine Union von Ghana, Guinea und Mali verwirklicht.
Diese Idee entfaltete jedoch auch auf einem anderen Erdteil ihre Wirkung, nämlich in der Karibik. Getachew widmet sich ausführlicher der Westindischen Föderation als zweitem föderalem Beispiel, die 1958 aus mehreren britischen Kolonien in der Region gebildet wurde. Die Autorin zeichnet dabei besonders das Engagement von Eric Williams nach, der sich besonders für die Bildung und den Fortbestand der Westindischen Föderation einsetzte. Diese föderalen Projekte zerfielen jedoch ebenfalls rasch. Getachew sieht dies darin begründet, dass die Vordenker dieser Föderationen die Bindungskraft der postkolonialen Staaten und der damit verbundenen Identitäten falsch einschätzten – in gewisser Weise also eine Bestätigung der Diagnose, die die Autorin in Bezug auf die Entwicklung der postkolonialen Staaten unmittelbar nach deren Unabhängigkeit stellte.
Die Neue Weltwirtschaftsordnung
Nach dem Scheitern jener postkolonialen Föderationen widmet sich Getachew abschließend einer weiteren postkolonialen politischen Initiative: der Idee einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO). Unter diesem Leitbegriff versuchten postkoloniale Staaten in Afrika und der Karibik globale Umverteilung und den Abbau von Ausbeutungsverhältnissen zu realisieren. Als Exponenten dieser Denkweise führt die Autorin neben dem schon mehrmals genannten Julius Nyerere auch den langjährigen jamaikanischen Premierminister Michael Manley als wichtigen Akteur ein. Konkrete Bestandteile der NWWO waren laut Getachew der Versuch, die UN-Generalversammlung mit der Befugnis zu Entscheidungen in Bezug auf die internationale Wirtschaft auszustatten, zudem eine kritische Sicht auf die damals schon etablierte Praxis von Entwicklungshilfe und eine Offenheit für protektionistische Maßnahmen.
Auch diese Idee konnte sich angesichts der geschichtlichen Entwicklung allerdings nicht durchsetzen. So führt Getachew aus, dass mit der Ölkrise und der darauffolgenden allgemeinen Rezession in den 1970er-Jahren viele postkoloniale Staaten wirtschaftliche Unterstützung durch den Internationalen Währungsfonds annehmen mussten. Mit der unfreiwilligen Einbindung in diese Institution des sich abzeichnenden Washington Consensus war eine Überwindung jenes Systems also praktisch ausgeschlossen.
Fazit
Das Buch schildert insgesamt eine Geschichte, wie postkoloniale Staaten ihre Position in der internationalen Politik neu zu definieren versuchten und sich dabei mit den bestehenden Ungleichheiten und dem überkommenen Machtgefälle zwischen neuen Staaten und ehemaligen Kolonialmächten nicht abfinden wollten. Getachew räumt selbst ein, dass die verschiedenen Initiativen allesamt gescheitert sind. Sie hebt aber auch hervor, dass diese Ideen weiterhin wichtig sind und als Inspiration dafür dienen können, die bestehenden Dynamiken internationaler Politik kritisch zu hinterfragen. Diese ausführliche Schilderung ist ein Verdienst der Autorin.
Es bleiben allerdings einige Leerstellen. Getachew erklärt kaum, weshalb sie die postkoloniale Entwicklung im frankophonen Teil Afrikas (inklusive weitgehend fehlender Verweise auf frankophone Autor*innen wie beispielsweise Frantz Fanon) fast vollständig ignoriert, und auch der Einfluss der Sowjetunion in den 1960er- und 1970er-Jahren bleibt praktisch unerwähnt. An vielen Stellen verwendet die Autorin zudem einen fachspezifischen Jargon, der das Verständnis des Buches für Leser*innen ohne thematische Vorkenntnisse erschweren kann. Allgemein vermittelt das Buch in gewisser Weise eine Erzählung historischer Zwangsläufigkeit: Verschiedene historische Ereignisse werden oft kausal hintereinander erzählt, auf mögliche alternative Entwicklungswege wird allerdings selten eingegangen. Getachews Buch liest sich somit stellenweise eher wie eine Sammelbiografie einzelner Protagonisten wie Nkrumah, Nyerere, Williams und Manley: Darin steckt zweifelsohne ein Erkenntnisgewinn, für ein umfassendes Bild der Entwicklung postkolonialen Denkens wirkt es allerdings etwas unvollständig.
Externe Veröffentlichung
Katharina Döbler / 26.01.2023
Deutschlandfunk