Peter R. Neumann: Die Rückkehr des Terrors. Wie uns der Dschihadismus herausfordert
War der dschihadistische Terror je verschwunden – oder haben wir ihn nur aus dem Blick verloren? Peter R. Neumann analysiert die Entwicklung dschihadistischer Bewegungen seit 1928, beleuchtet aktuelle Dynamiken nach dem Hamas-Angriff von 2023 und warnt vor neuer Radikalisierung – auch online. Seine Analyse zeigt, wie sich Dschihadismus und Rechtsextremismus gegenseitig verstärken und welche politischen Versäumnisse Radikalisierung begünstigen. Evelyn Bokler hebt besonders die präzise Sprache, den analytischen Tiefgang und die konstruktiven Handlungsempfehlungen hervor.
Eine Rezension von Evelyn Bokler
Nun ist er also wieder da – der dschihadistische Terror. In seinem neuen Buch „Die Rückkehr des Terrors“ bietet Peter R. Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, einen fundierten Überblick über die aktuellen Entwicklungen im dschihadistischen Spektrum. Doch, so mag man sich beim Titel fragen: War der Dschihadismus je wirklich verschwunden? Wie Neumanns Analyse erhellt, ist die Antwort weitaus komplexer, als der Titel vermuten lässt. Seine Ausführungen sind deutlich differenzierter – und das ist auch gut so.
Dschihadistische ‚Bewegungen‘ und ihr Ausgangspunkt
Das Buch gliedert sich in drei Teile, die eine Wellenbewegung des dschihadistischen Terrorismus beschreiben sollen. Zunächst zeichnet der Wissenschaftler die historischen Wurzeln des Dschihadismus nach – beginnend 1928 mit Hasan al-Bannā, dem Gründer der Muslimbruderschaft (MB) in Ägypten als Reaktion auf koloniale Erfahrungen. Sie gilt als Mutter aller islamistischen Bewegungen, zu denen auch der Dschihadismus zählt. Seither prägen zahlreiche Ereignisse das Verhältnis zwischen dem Westen und den Staaten der MENA-Region (Middle East and North Africa). Sie beeinflussen die Strategien dschihadistischer Bewegungen, um an die Macht zu gelangen: Sollten sich diese in ihrem Dschihad auf den „nahen Feind“ – also regionale Regime – konzentrieren, oder auf den „fernen Feind“ – insbesondere die USA –, der die lokalen Machthaber stützt? Neumann gelingt es, die strategischen Brüche und Weiterentwicklungen des Dschihadismus im Zeitenverlauf knapp, aber pointiert nachzuzeichnen. Und schließlich bei den letzten zwei Terror-Wellen vom 11. September 2001 und den verheerenden Folgen des Irakkriegs 2003 sowie der Syrien-Welle im Zuge des Arabischen Frühlings ab 2011 anzukommen. Am vorläufigen Höhepunkt der letzten Welle stand 2014 die Ausrufung des „Islamischen Staates“ (IS) – ein international schlagkräftiger dschihadistischer Akteur.
Im zweiten Teil widmet sich der Terrorismusforscher den Entwicklungen seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, da er eine durch ihn ausgelöste neue Terror-Welle identifiziert. Besonders aufschlussreich sind seine Ausführungen zur Rolle des Iran, ohne dessen Einbeziehung die Komplexität der (sicherheits-)politischen und militärischen Herausforderungen kaum zu erfassen ist. Bei der Allianz zwischen Iran, Hamas und Hisbollah handele es sich eben nicht allein um ein militärisches, sondern primär um ein ideologisches und ethnisch-religiöses Bündnis. Der Autor beschreibt daher den Iran als das „Gravitationszentrum für alle antiwestlichen Akteure in der Region“ (102).
Auf dieser Grundlage widmet sich Neumann im dritten Teil der wachsenden Bedrohung jüdischen Lebens in Europa seit dem Hamas-Angriff und der damit verbundenen “Militärkampagne” (52) Israels in Gaza. Er untermauert seine Analyse mit aktuellen Zahlen, etwa einer Tabelle mit Anschlagsplänen des Irans in Westeuropa zwischen Juni 2018 und Juni 2024 (110), die die Gefahr für jüdisches Leben bezeugt. Zugleich lässt der Terrorismusforscher auch die wachsende Radikalisierung und damit einhergehende Islamfeindlichkeit von rechts nicht außer Acht – obgleich diese in der neunten Kapitelüberschrift nicht eigens genannt wird. Denn was verbindet den Dschihadismus mit dem Rechtsextremismus? Viel nach seiner Ansicht. Beide verstärkten sich gegenseitig in ihren Radikalisierungs- und Co-Radikalisierungsdynamiken. Sie bedienen sich Neumann zufolge wechselseitig als Feindbilder, treiben so ihre gewünschte Polarisierung für eine Radikalisierung in der Bevölkerung voran und bestätigen einander in ihrer Weltsicht.
Praktikable Handlungsempfehlungen
Das letzte Kapitel mit fünf konkreten Handlungsempfehlungen ist besonders hervorzuheben. Es verleiht der Analyse eine konstruktive Note. Statt Leser*innen mit Ohnmachtsgefühlen vor der komplexen Herausforderung allein zurückzulassen, liefert Neumann praktikable Ansätze: Erstens sei eine „ausgewogene Priorisierung“ der Bedrohungen nötig – insbesondere der Islamismus und Rechtsextremismus bedeuteten eine Gefahr für die Gesellschaft. Zweitens brauche es eine „gezielte Repression“, die nicht planlos Druck ausübt, sondern strategisch vorgeht und lösungsorientiert ist. Drittens betont er die Notwendigkeit einer „geduldigen Prävention“ – etwa durch integrative Ansätze, die nicht widersprüchlich zwischen der Forderung eines „europäischen Islams“ und der Aussage „Der Islam gehört nicht zu Europa“ schwanken (146 f.). Viertens: Konflikte sollten gelöst, nicht neu eröffnet werden. Und schließlich fünftens: „reagieren, aber nicht überreagieren“ – denn die Gratwanderung sollte allen deutlich sein: Ein Staat müsse sich wehrhaft zeigen, ohne den Zusammenhalt in einer pluralistischen Gesellschaft auseinanderbrechen zu lassen.
Die Grenzen der Wellentheorie
Die Analyse fußt auf der Theorie des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers David C. Rapoport, der den Terrorismus als eine Abfolge historischer „Wellen“ beschreibt. Neumann differenziert diesen Ansatz früh und spricht von mehreren „Miniwellen“ des Dschihadismus (16), die sich in einem wiederkehrenden Muster aufbauten: zuerst ein einschneidendes Ereignis, dann folgten Repression, Radikalisierung, Reaktion und schließlich Erschöpfung.
Diese Wellen-Struktur versucht Neumann historisch zu belegen. Sein Urteil über die Schwäche des Dschihadismus um 2011 und den damit verbundenen Rückgriff auf die „Strategie der einsamen Wölfe“ (38) scheint nachvollziehbar – er setzt hier sogar das Ende einer Welle. Dennoch bleibt diskussionswürdig, wie endgültig der Abschluss einer Welle zu definieren ist, ohne dass es willkürlich erscheint oder der Eindruck entsteht, hier würden Ereignisse in ein Analyseschema gepresst, das der heuristischen Theorie Rapoports genügt. Neumanns Einordnung, der Dschihadismus sei immer wieder „am Ende“ gewesen und habe sich dann neuformiert, greift daher womöglich zu kurz und unterschätzt die Unsterblichkeit dieser Ideologie. Wieso sollte der Dschihadismus auch an sein Ende gekommen sein, wo doch alle maßgeblichen Probleme, die er adressierte, politisch nicht gelöst waren (und sind): Die Palästinenser*innen hatten noch immer keinen eigenen Staat und die israelische Siedlergewalt wuchs; der Westen suchte weiterhin die Politik betroffener Länder wie Syrien, Libanon, Irak oder Iran (um nur ein paar zu nennen) erheblich nach seinen Interessen zu beeinflussen; korrupte Eliten bestimmten zudem in der MENA-Region die Politik; polarisierende Islamfeindlichkeit wuchs in westlichen Ländern; und geschlossene, islamistische Systemvorstellungen stehen von jeher offenen Gesellschaften in einer globalen Staatenwelt diametral gegenüber und ringen um machtpolitische Einflussnahmen.
So räumt Neumann selbst ein, dass die Netzwerke des IS nach 2019 bestehen blieben und neue Generationen nachrücken. Vielleicht wäre es folglich zutreffender, diese Entwicklung nicht als „Wellen“, sondern als dialektisches Zusammenspiel von Aktion und Reaktion – eingebettet in Generationenkonflikte – zu beschreiben, also weniger historizistisch-deterministisch zu argumentieren. Der Machtkampf zwischen al-Qaida und IS etwa war nicht nur ideologisch, sondern auch altersbedingt geprägt. Ein Generationenkonflikt charakterisierte eindeutig die blutige Auseinandersetzung zwischen den „Granden” bei al-Qaida und den Heißspornen des IS, die das „Kalifat" nachhaltig schwächte. Die Phasen mögen brüchig wirken, aber sie sind eben nicht übergangslos. Denn nun wiederum regiert in Syrien der ehemalige al-Qaida-Kämpfer al-Dschaulani aka al-Scharaa – dabei schien doch der IS al-Qaida abgelöst zu haben.
Es bleibt daher fraglich, ob das Wellenmodell in all seinen Aspekten analytisch tragfähig ist. So mögen die geografischen Schwerpunkte des IS mit seiner Niederlage 2019 verändert sein, seine Stärke muss dadurch jedoch nicht verloren sein, sondern er kann sie einfach relokalisiert haben. So war der IS Khorasan 2022 in Afghanistan stärker denn je, wie Neumann selbst festhält (72) – ein Hinweis darauf, dass zwischen den – angeblich sichtbaren – Wellen eben keine Ruhe herrschte, wie von Neumann insinuiert. Auch die Corona-Pandemie ab 2020 hat Radikalisierungsprozesse nicht gestoppt, sondern vielmehr ins Verborgene verlagert oder kurzfristig eingefroren. Die Rede von einer „Rückkehr” des Terrors ist somit nicht ganz zutreffend. Sie bestätigte nur den fatalen Eindruck, dem wir allzu lange aufsaßen: Durch ein vermeintliches Absterben des Dschihadismus könnten wir uns in einer Sicherheit wiegen, ohne dass diese je real gegeben war.
Problematisch erscheint Neumanns Behauptung, Hasan al-Bannā habe sich grundsätzlich gegen Gewalt ausgesprochen (18). Gudrun Krämers Biografie zum Gründer der MB liefert hier ein differenzierteres Bild.[1] Der Einsatz von Gewalt unterlag von Beginn an strategischen Erwägungen; ideologisch ausgeschlossen war er nie – schließlich kämpfen die MB für Gottes Recht, in seinem Namen, gegen Ungläubige und Apostat*innen. Ebenfalls diskutabel ist die These des Autors, der IS setze weniger auf Ideologie und Theologie (43). Gerade in der Führungsriege des IS fanden sich durchaus ideologisch versierte Theolog*innen wie die weibliche Scharia-Gelehrte Imam al-Bugha, die ihre Entscheidung zur Emigration in den IS mit theologischen Überzeugungen begründete.[2] Und die Anhänger*innen sahen im IS ebenso wie die Bevölkerung im Irak und Syrien ein Projekt religiöser Eiferer, denen sie nicht den Bezug zu fundamentalistischen, randständigen Islaminterpretationen absprechen konnten und wollten.[3] Was nicht bedeutet, diese gutzuheißen, wie die kämpferischen theologischen Erklärungen unzähliger islamischer Gelehrter gegen den IS und dessen Häresie belegen.[4] Sie verweisen vielmehr auf die Notwendigkeit einer theologischen Auseinandersetzung mit dem IS – neben einer militärischen oder politischen.
Europäisierung des Dschihadismus und Defizite im Umgang mit Online-Radikalisierung
Doch die Kritik sollte nicht vom Wert des Buches ablenken. Insbesondere durch den erklärenden historischen Blick und die Selbstkritik gewinnt das Werk ebenso seine Stärke wie durch die Aufarbeitung analytischer Versäumnisse in der Vergangenheit. Zum Beispiel, wenn Neumann die ideologischen Ursprünge des Dschihadismus ebenso betont wie dessen zunehmende Europäisierung (33) – ein Aspekt, der in vielen Auseinandersetzungen lange Zeit vernachlässigt und dadurch als Gefahr unterschätzt wurde. Ein zentrales Moment radikalisierender Ideologien ist ihr affektiver Nährboden – insbesondere Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Ausgrenzung und wahrgenommener Islamfeindlichkeit werden im Dschihadismus verarbeitet. Ohne diese subjektiven Wahrnehmungen könnten dschihadistische Narrative kaum verfangen. Sie knüpfen an die Erfahrungswelt einer muslimischen Migrationsgesellschaft an und versuchen die Menschen in ihrem Sinne zu radikalisieren. Der in diesem Kontext oft erhobene Vorwurf westlicher Heuchelei in der Außenpolitik – etwa bei „Demokratieexporten“ wie im Fall Afghanistan – ist zudem nicht unbegründet. Neumanns Plädoyer für mehr Ehrlichkeit und weniger Doppelmoral, um der Radikalisierung präventiv zu begegnen, ist daher begrüßenswert (30 ff.) – auch mit Blick auf Präventionsarbeit im legalistisch-islamistischen Bereich. Es sind eben auch Narrative, die radikalisieren.
Ein weiterer wertvoller Aspekt von Neumanns Analyse bedeutet seine klare Benennung der Defizite im bisherigen Umgang mit sozialen Medien (81 ff.): Algorithmen, Echokammern und virtuelle Gruppen fördern Radikalisierung massiv. Selbst Terroranschläge werden in digitalen Netzwerken vorbereitet. Und: Auch das „female empowerment“ macht vor dem Dschihadismus vor allem im Netz nicht Halt – zunehmend finden sich Mädchen unter den dort radikalisierten Kämpfer*innen. Zwei Entwicklungen greifen somit ineinander: Eine neue Generation radikaler Dschihadist*innen entsteht, während gleichzeitig die Online-Radikalisierung immer jüngere Zielgruppen erfasst und der Bewegung zuführt. Die Herausforderungen sind gewaltig und doch hat Neumann Recht: Es sei an uns, wie wir dieser Bedrohung jetzt begegnen. Schließlich ist Geschichte eben kein determinierter Prozess.
Insgesamt ist Peter R. Neumann mit diesem Buch erneut ein ausgesprochen kenntnisreicher Überblick über die gegenwärtige Bedrohungslage gelungen. Die nüchterne, präzise Sprache unterstreicht seine besondere analytische Stärke. Hoffentlich nehmen nicht nur interessierte Laien, sondern vor allem auch Politiker*innen sowie Entscheidungsträger*innen das Buch zur sorgfältigen Lektüre in die Hand.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Krämer, Gudrun (2022): Der Architekt des Islamismus. Hasan al-Banna und die Muslimbrüder. Eine Biographie. München: C. H. Beck.
[2] Vgl. Abu Hanieh, Hassan & Mohammed Abu Rumman (2018): Dschihadistinnen. Faszination Märtyrertod. Bonn: Dietz.
[3] Vgl. Bokler-Völkel, Evelyn (2023): Die Diktatur des Islamischen Staates und seine normative Grundlage. Baden-Baden: Nomos.
[4] Vgl. statt vieler folgende Erklärung: “Offener Brief an al-Baghdadi und ISIS”, abrufbar unter: www.madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-und-isis (letzter Aufruf 8. Juli 2025).
Externe Veröffentlichungen
Colin P. Clarke, Clara Broekaert /11.04.2025
Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ)