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Rezension / 25.10.2023

Evelyn Bokler-Völkel: Die Diktatur des Islamischen Staates und seine normative Grundlage

Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft 2023

Evelyn Bokler-Völkel untersucht, auf Basis welcher Traditionen und Narrative der Islamische Staat (IS) seine Diktatur legitimiert. Im Gegensatz zu den großen nihilistisch-säkularistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts handele es sich hierbei um eine dezidiert ideokratische Herrschaftsform, so eine Einordnung der Autorin. Das Resultat sei eine „sehr gute und wichtige Arbeit“ aus politik- und islamwissenschaftlicher Perspektive: Wichtig, weil es im Umgang mit dem IS, oder auch den Taliban, seitens Politik und Medien angesichts der Komplexität der Thematik oft noch an Fachwissen fehle, lobt unser Rezensent.

Herrschaft muss gerechtfertigt werden. In Ihrer Habilitationsschrift untersucht Evelyn Bokler-Völkel, wie sich die Diktatur des Islamischen Staates (IS) legitimierte und auf welche Traditionen und Narrative sie dabei Rückgriff nahm. Wie die Autorin im Einführungstext bemerkt, stelle die „Verbindung von politikwissenschaftlichen Ansätzen mit theologischen und islamwissenschaftlichen Lesarten […] eine besondere Stärke dieser interdisziplinär angelegten Arbeit“ dar (6). Dieser Einschätzung aus dem Vorwort kann ich mich anschließen.

Bokler-Völkel adressiert mit ihrer Arbeit das Forschungsdesiderat einer bisher nicht erfolgten wissenschaftlichen Betrachtung zur Spezifik der IS-Herrschaft inklusive ihrer ideengeschichtlichen Legitimation. Hierzu schlägt sie die Einordnung des IS-Staatswesens als ideokratische Diktatur („Weltanschauungsdiktatur“, vergleiche 63) vor, die sie wie folgt charakterisiert: „In einer Ideokratie wird das Interesse einer Gemeinschaft, das heißt jener, die in eine Machtposition versetzt werden soll, als kollektives Gemeinwohl absolut gesetzt“ (67). Da für die Anhänger*innen von Ideokratien die „Welt aus einem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, einem existenziellen Ring, um die Vorherrschaft des einen über das andere“ (68) bestehe, gebe sie in der Folge noch eine Übersicht zur religionsgeschichtlichen Entstehung der Gut-Böse Dichotomien. Entsprechend diesem Denken kennen Ideokratien zwei Hauptgegner: die Anderen (das heißt, wer nicht Anhänger*in der eigenen Glaubenslehre ist) und die Verräter*innen (im religiösen Kontext: Häretiker*innen) in den eigenen Reihen. Zum Vergleich zieht sie die beiden großen säkularreligiösen Diktaturformen des 20. Jahrhunderts, den Kommunismus und den Nationalsozialismus, heran und kommt zu dem Schluss, das alle diese Herrschaftsformen vereinende Element sei „der kommunikative Einsatz des Terrors zur Errichtung und Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft durch Erbarmungslosigkeit“ (102).

Sehr richtig erteilt sie politisch und medial verbreiteten Deutungen des IS als einer „primitive[n] und oberflächliche[n] Auslegung des Islams“ (189) eine Absage und stellt vielmehr fest: „[…] der IS-Dschihadismus umspannt religiöse ignorante Anhänger ebenso wie theologisch geschulte Fanatiker“ (190). So zitiert sie beispielsweise die ehemalige saudische Hochschullehrerin für islamisches Recht, Imam Mustafa al-Burgha, die in den Islamischen Staat emigrierte: „Ich bin zum IS gekommen, weil er für alles steht, woran ich immer geglaubt und was ich gelernt habe. Der IS hat meine Meinung nicht geändert. […] Ich habe dort nichts gelernt, was ich nicht vorher wusste. Ich bin zum IS gegangen, weil er die Scharia so umsetzt, wie ich sie kenne und wie ich sie gelehrt habe“ (193). Daher konstatiert die Autorin folglich: Eine „hermeneutische Beschäftigung mit den IS-Quellen, die sich um eine ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzung bemüht, führt rasch zu der Erkenntnis, wie tief die narrativ des IS-Dschihadismus nicht nur in die Herzen seiner Anhänge eingesunken sind, sondern auch, wie tief sie in der islamischen Geschichte, sogar in ihren Anfängen, verwurzelt sind. Dadurch gewinnt der IS-Dschihadismus eine politisch-ideologische Stärke, die gar nicht überschätzt werden kann“ (199).

Da gerade die islamische Frühgeschichte – und hier insbesondere die Prophetengemeinde – die relevanteste Bezugsgröße für alle islamischen Narrative bildet, befasst sich Bokler-Völkel auch ausführlich mit den Quellen zum Leben Muhammads. Auch hier erkennt sie zu Recht die Kontextgebundenheit seiner Entscheidungen: „Historisch gesichert scheint daher eine gewisse bellizistische Grundstimmung, welche den Propheten und seine Anhänger*innen von Beginn an begleitete. Sie waren sozialisiert in einer kriegerischen Stammesgesellschaft, die vor allem das Recht des Stärkeren und die gewaltsame Auseinandersetzung zur Konfliktlösung kannte, weniger eine friedliche Kommunikationspolitik, die auf die Deeskalation, Anti-Aggressionstraining und Gesprächskreise mit einer gestalteten Mitte ausgerichtet war“ (209). Da alle islamischen Gruppierungen vom prophetischen Beispiel und der Urgemeinde ausgehen, sind denn auch die Streitpunkte und Kritiken am IS – sowohl seitens der Mehrheit der Muslim*innen, von Salafist*innen als auch anderer dschihadistischer Gruppen – weniger im Kern der Ideologie als in der Umsetzung zu suchen.

Lesenswert ist auch das Kapitel, das sich der Anziehungskraft des IS-Narratives auf Frauen widmet und diejenigen, die freiwillig ins IS-Kalifat emigrierten, nicht lediglich als Opfer darstellt. Wenn man überhaupt eine Schwäche dieser sehr guten und sehr wichtigen Arbeit sehen wollte, so wäre dies in ihrer Annahme, dass Ideokratien immer aus zwei Gründen scheitern müssten: „Einerseits, weil eine totale Kontrolle über Menschen unerreichbar sei und andererseits, da/weil das Heilversprechen der Ideokratie selbst nicht eingelöst werden könne.“ Inwiefern der erste Aspekt in Zeiten immer weitergehender technischer Möglichkeiten (beispielsweise im chinesischen Überwachungsstaat) aufrechterhalten werden kann, ist fraglich. Hinsichtlich des zweiten Aspektes fallen mir ganz spontan im islamischen Kontext das fatimidische Kalifat und die Safawiden nach Schah Ismail I. ein. In beiden Fällen ist es gelungen, eine messianische Bewegung mit naher Endzeiterwartung in ein dauerhaftes und stabiles politisches Gebilde zu überführen. Hier könnte allerdings eingewandt werden, dass der ideokratische Charakter der Bewegung dazu deutlich abgeschwächt werden musste.

Dies sind aber Nebensächlichkeiten. Bokler-Völkel hat eine sehr gute und wichtige Arbeit vorgelegt, die vor allem von (Sicherheits-)Politiker*innen rezipiert werden sollte. Der politisch-mediale Umgang mit islamistischen Gewaltphänomenen wie dem IS oder den Taliban ist von einer Unkenntnis des Gegenstandes und der daraus erwachsenden (politisch korrekten) Negation eines Zusammenhangs zwischen islamischen Denktraditionen und den entsprechenden Phänomenen geprägt. Hier könnte die vorliegende Arbeit wichtige Impulse geben.

 

CC-BY-NC-SA
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