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Interview / 19.02.2025

Sicherheitsexpertin Ulrike Franke im Interview: „Wir gehen hier weitestgehend ohne eine Strategie in eine wirklich neue Situation.“

Worauf muss sich Deutschland im Verhältnis zu den USA künftig einstellen? Die Rede von J. D. Vance auf der MSC sorgte für große Verunsicherung. Bild: MSC/Conzelmann.

Im Bundestagswahlkampf spielen auch sicherheitspolitische Fragestellungen eine Rolle: Wie kann Frieden in der Ukraine und in Europa geschaffen und gesichert werden? Welche Rolle soll Deutschland in der europäischen Sicherheitsarchitektur übernehmen und was erwarten die Verbündeten? Wie hängen Sicherheit und Wirtschaft im Falle der Bundesrepublik konkret zusammen? Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relation hat mit Tanja Thomsen über die sicherheitspolitischen Aufgaben der künftigen Bundesregierung und die Programme der Parteien zur Bundestagswahl 2025 gesprochen.

Die Frage nach Frieden in der Ukraine durchzieht auch die Wahlprogramme. So betonen SPD und Grüne die besondere Rolle der OSZE für die Lösung des Konflikts. Die Union sieht Deutschland eher in einer neuen „Kontaktgruppe Ukraine“ mit Polen, dem Vereinigten Königreich und Frankreich, um in enger Abstimmung mit den USA eine Strategie zu entwickeln, wie man das Land unterstützen und ihm Friedensverhandlungen aus einer „Position der Stärke“ ermöglichen könnte. Wie sind solche Vorschläge aus der Sicht der Forschung in ihrer Umsetzbarkeit zu bewerten und was könnte die neue Bundesregierung dazu beitragen?

Man muss ehrlich sein, dass die Möglichkeiten Europas und Deutschlands, um im Krieg gegen die Ukraine jetzt große Veränderungen herbeizuführen, aktuell deutlich eingeschränkt sind. Alle Augen richten sich derzeit auf die USA und den sogenannten neuen Friedensplan von Donald Trump, der bei der Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt werden soll. Die meisten Parteien in Deutschland bemühen sich natürlich, eine Friedenslösung zu finden. Es ist weniger die Frage, in welchem Format das stattfindet. Die OSZE ist jetzt nicht die Organisation, bei der ich denken würde, dass sie die Friedenslösung bringen kann. Aber die Hoffnung wäre, dass sie nach einem Friedensschluss – wahrscheinlich gäbe es zunächst einen Waffenstillstand – vielleicht wiederbelebt werden könnte. Da ist ein großer Teil Hoffnung dabei, denn die OSZE hat in den letzten Jahren nicht die Rolle gespielt, die manche von ihr erwartet hatten. Aber man will jetzt auch nicht die letzten institutionellen Möglichkeiten, mit Russland zu sprechen, abschaffen.

Es ist auffällig, dass in vielen Wahlprogrammen das „Weimarer Dreieck“, also die Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Polen vorkommt. Hiermit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Polen wieder eine Regierung hat, die überhaupt wieder bereit ist, sich in Europa stärker einzubringen, mit Deutschland zusammenzuarbeiten und die generell im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich wahnsinnig viel tut. Siehe die beträchtliche Ausrüstung des polnischen Militärs. Es gehört aber auch zur Wahrheit, dass die Tatsache, dass man sich in Berlin jetzt aufs Weimarer Dreieck fokussiert, auch damit zu tun hat, dass die Kooperation mit Frankreich schwierig ist. Wir sehen instabile Regierungen in Frankreich, aber das Problem geht nicht nur von Paris aus. Deutschland und Frankreich hatten in den letzten Jahren immer wieder Probleme zusammenzufinden. Und das Weimarer Dreieck bietet eine Möglichkeit, einen Dritten mit ins Boot zu holen, in der Hoffnung, dass dieser auch eine gewisse Schlichterrolle einnehmen kann.

All das wird erwartbar auch für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen in der Ukraine eine Rolle spielen. In die Frage nach der Absicherung solcher Abkommen in der Ukraine werden aber viele Akteure eingebunden sein. Das Rammstein-Format zum Beispiel, also die bestehende Kontaktgruppe zur Verteidigung der Ukraine, spielt weiterhin eine Rolle. Insofern schaut man einfach, wo es eine Möglichkeit gibt, zu verhandeln. Aber dabei ist leider schon recht klar, dass aktuell der Ball hier eher im Spielfeld der USA gesehen wird: Man wartet darauf, was Trump vorschlägt. Wie Wladimir Putin darauf reagiert.

Sie haben das schwierige Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland angesprochen. Was erhofft man sich aktuell in Paris von einer neuen Bundesregierung?

Die derzeitigen Regierungen in Frankreich sind einfach instabil und relativ schwach. Gerade wurde das Budget am Parlament vorbei verabschiedet, weil es dort keine Mehrheiten gibt und niemand davon ausgeht, dass die aktuelle Regierung lange hält. Man hat in Frankreich immerhin noch eine Kontinuität durch den Präsidenten, der in einem anderen Wahlsystem gewählt wird und deswegen noch ein paar Jahre an der Macht ist. Grundsätzlich gilt aber: Frankreich ist seit vielen Jahren sehr darauf erpicht, die europäischen Akteure im Verteidigungs- und Sicherheitsbereich stärker zu machen – auch ohne die USA. Stichworte sind hier „europäische strategische Autonomie“ oder „europäische Souveränität“, die mit und in Paris geprägt wurden. Diese Richtung hin zu einer Handlungsfähigkeit Europas ohne die USA hat sich jetzt als sehr weitsichtig erwiesen. Trump hat wenig Interesse daran, in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen mit den Europäern zusammenzuarbeiten. Daher erwartet fast jede französische Regierung eine Kooperation mit Deutschland, die sich stärker darauf fokussiert, im Rahmen der EU, europäischer Formate oder auch als europäischer Pfeiler der NATO mehr dafür zu tun, die eigenen Verteidigungsfähigkeiten und -industrien zu stärken.

Die große Frage ist immer die Finanzierung. Frankreich ist viel offener dafür, dies über EU-Haushalte oder über neue EU-Schulden zu finanzieren. Dem stehen deutsche Regierungen stets kritischer gegenüber. Zum einen ideologisch und zum anderen, weil es für Deutschland weitaus höhere Ausgaben bedeutet. Man ist sich also in grundsätzlichen Sachen nicht einig und hat das Problem, dass es instabile Regierungen und keine entsprechenden Mehrheiten gibt, sodass es momentan schwierig ist. Zum allem Überfluss kommt dann noch hinzu, dass es zwischen Macron und Scholz wohl auch auf einer persönlichen Ebene relativ schwierig war.

Zwar sehen wir im Verteidigungsbereich sehr große Kooperationsprojekte zwischen beiden Ländern, etwa mit dem Flugzeugprojekt FCAS und dem Panzerprojekt MGCS, aber auf deutscher Seite fürchtet man, dass diese milliardenschweren Projekte ein jähes Ende fänden, sollte Marine Le Pen Präsidentin werden. In Frankreich ist die Präsidentschaft wichtiger als die Regierung, sodass es die Wahl von 2027 im Blick zu behalten gilt. Sollte Le Pen oder jemand anderes vom Rassemblement National ins Amt kommen, würden all diese Kooperationen auf den Prüfstand gestellt.

Sie haben die Finanzierungsfrage angesprochen und der EU-Verteidigungsgipfel von Anfang Februar hat gezeigt, dass Vorschläge über gemeinsame Schulden weiterhin Thema sind. Wie verhalten sich die deutschen Parteien in ihren Programmen dazu?

Wenn man die Programme von Union, SPD und Grünen nimmt, so erkennen diese Parteien alle an, dass auf europäischer Ebene für Verteidigung und Sicherheitspolitik mehr getan werden muss. Die Grünen sind dabei meines Erachtens die offensivsten, die klar sagen: „Europe United“ muss unsere Antwort auf Trumps „America First“ sein. Und bei den Möglichkeiten der Finanzierung am weitesten gehen. Es steht nicht wortwörtlich drin, aber man kann das Grünenprogramm, gerade was europäische Verteidigung angeht, so lesen, dass sie sagen, „wir sind bereit, über die Schuldenbremse zu verhandeln“ und sie abzuschaffen, um mehr im Bereich Verteidigung zu unternehmen. Und dass sie auch bereit sind, auf europäischer Ebene – Stichwort Eurobonds – gemeinsame Schulden aufzunehmen. Die SPD ist da vorsichtiger und die CDU lehnt das ab.

Die Frage bei diesen drei Parteien ist weniger, ob sie für eine gemeinsame europäische Verteidigung und die Industrie sind, sondern wie dies finanziert werden soll. Bei der Union sehe ich es als das größte Problem an, dass sie Dinge wie zum Beispiel Eurobonds ausschließen. Diese sind zwar nicht der einzige Weg, aber eben eine Möglichkeit der Finanzierung und so stellt sich die Frage, wie es sonst funktionieren soll. Die Union setzt auf die Hoffnung, dass es der Wirtschaft allgemein besser geht und man dann mehr Geld zur Verfügung hat, auch für Verteidigung. Aber das ist eine ziemliche Wette auf die wirtschaftliche Entwicklung.

Bei der Union wird außerdem deutlich, dass man als erste Wahl eigentlich weiterhin lieber auf die transatlantische Beziehung mit den USA setzen möchte. Das ist insofern verständlich, als dass dies sehr in der DNA der Partei verankert ist. Zudem haben Wahlprogramme einen gewissen zeitlichen Vorlauf und es ist weiterhin bei Trump, der sehr oszilliert, schwierig vorauszusagen, wie sich diese Beziehungen entwickeln. Aber so liest es sich ein wenig wie die Hoffnung auf eine vergangene Zeit. Insofern muss sich die CDU auch da die Frage nach einem Plan B gefallen lassen. In diesen Feldern treten aus meiner Sicht die größten Probleme auf.

Auch die veränderte Bedrohungslage im Ostseeraum findet im Wahlkampf ihren Niederschlag. Die SPD betont ausdrücklich die Beziehungen „zum demokratischen Ostseeraum mit seinen vielfältigen traditionellen Partnern“ und verweist auf Fortschritte. So habe man mit dem neuen Ostseemarinekommando in Rostock und mit der Entscheidung zur Entwicklung neuer europäischer Abstandswaffen (ELSA) mit den Verbündeten und für die europäische Luftverteidigungsinitiative Sky Shield (ESSI) Bereitschaft gezeigt, mehr Verantwortung zu tragen. Auch werden mit der Brigade in Litauen erstmals deutsche Soldat*innen dauerhaft im Ausland stationiert. Ist es damit ein Stück weit gelungen, die deutsche Rolle in der Sicherheitsarchitektur Europas neu zu definieren?

Da hat sich auf jeden Fall etwas getan. Die Zeitenwende, das waren nicht nur leere Worte. Es ist dieser Tage sehr schick so zu tun, als hätte sie nicht stattgefunden, aber ich stimme dem nicht zu. Dass man mehr tun muss, ist eine andere Frage. Aber Deutschland hat sich in den letzten drei Jahren ganz anders aufgestellt, was die Bundeswehr, aber vor allem auch die eigene Rolle in der NATO und den europäischen Verteidigungsstrukturen anbelangt. Gerade die Brigade in Litauen ist da weit oben angesiedelt. Auch die NATO hat sich im Zuge des Krieges gegen die Ukraine neu aufgestellt, neue Truppen an der Ostflanke kreiert und tut im Ostseeraum mehr. Und Deutschland spielt dabei eine sehr große Rolle, es wird gefordert und gefragt. Insofern ist es verständlich, dass die SPD das als Erfolg verbucht. Die Frage bleibt jedoch, wie man da jetzt weiter vorgeht.

Das leitet uns zu den 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigungsausgaben über, die als Wert im Wahlkampf zirkulieren. „Deutlich mehr als 2 Prozent“ ist bei den Grünen zu lesen, während sich CDU, SPD und FDP bei „mindestens 2 Prozent“ einpendeln. Wie ist das zu beurteilen: Worauf müsste sich eine Regierung hier künftig einstellen und dies dann der Bevölkerung auch vermitteln?

Ja, das stimmt bei den meisten Parteien – vorausgesetzt, wir klammern das BSW, die Linke und die AfD aus: Letztere möchte in einem anderen als dem bisherigen Rahmen wohl auch mehr für Verteidigung aufgeben; Linke und BSW lehnen das Zwei-Prozent-Ziel ab. Bei Union, SPD, Grünen und FDP steht überall drin, dass das 2-Prozent-Ziel der NATO mindestens erreicht werden müsse. Bei der SPD ist ein gewisser Wandel zu beobachten, und zwar insofern, als dass Olaf Scholz in der Zeitenwende-Rede am 27. Februar 2022 von „klar mehr“ als 2 Prozent gesprochen hat. Jetzt sind es eben wieder „mindestens“ 2 Prozent.

Diese 2 Prozent beziffern als NATO-Vorgabe von 2014 das Minimum, das die Mitgliedsstaaten ausgeben müssen, um ihre Verteidigungsfähigkeit in Zeiten ohne direkte Bedrohung aufrechtzuerhalten. Dabei spielte auch ein Gerechtigkeitsgedanke eine Rolle, sodass alle ungefähr das Ähnliche gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt aufbringen sollten. Die Zahl ist in der aktuellen Situation weitgehend obsolet und das sieht man auch daran, dass in vielen Ländern und innerhalb der NATO nun 3 bis 3,5 Prozent im Raum stehen. Und wir sehen jetzt Trump, der 5 Prozent fordert. Das Problem an dieser 2 Prozent-Vorgabe ist, dass es eine sogenannte Inputvariable gibt, bei der es immer darum geht, was man reinsteckt. Wichtig ist aber auch, was rauskommt: Wenn ein Land 1,8 Prozent ausgibt und damit eine fantastische Streitkraft unterhält, ist das besser, als wenn ein anderes 2,5 Prozent reinsteckt und das dann in Posten (Pensionen etc.) geht, die nicht direkt für die Verteidigungsfähigkeit relevant sind. Insofern muss man diese Zahlen zugleich auch immer mit Vorsicht genießen, aber die 2 Prozent sind schon lange das Minimum.

Es ist wenig erstaunlich, dass wir in den Wahlprogrammen keine klareren Zahlen sehen, weil wir nicht wissen, was passiert und wie die wirtschaftliche Entwicklung aussehen wird. Da möchte man sich nicht ohne Not – beispielsweise, wenn die NATO wirklich eine neue Zahl ausgegeben hätte – vorschnell auf etwas festlegen, an dem man dann gemessen wird. Ich befürchte allerdings, dass diese Aussagen nicht ausreichen, denn die 2 Prozent sind eine Zahl, die Deutschland über Jahre überhaupt nicht erreicht und daher einiges aufzuholen hat. Jetzt muss dafür mehr ausgerüstet werden. Die FDP sagt am klarsten, dass sie Ausgaben davon abhängig machen, was gebraucht wird und was die NATO fordert, was ich für den richtigen Ansatz halte. Im Übrigen, wenn ich sage, „die NATO fordert“, gilt es zu bedenken: Deutschland ist natürlich Teil der NATO und da einigt man sich auf gewisse Zahlen. Um das Ganze einmal in den größeren Kontext zu setzen, den man den Bürger*innen auch vermitteln muss.

Und natürlich geht es hier in absoluten Zahlen um sehr viel Geld, also jährlich 50 Milliarden plus. 2024 waren wir bei 72 Milliarden, wenn man ungefähr 20 Milliarden aus dem Sondervermögen, die ja noch mal extra draufkamen, dazuzählt. Das sind hohe Ausgaben. Es ist allerdings auch im Vergleich zum deutschen Haushalt und dafür, was die Bundesregierung für Renten, Soziales etc. aufbringt, auch keine riesenhafte Summe. Es ist wichtig zu verstehen, dass wir während des Kalten Krieges deutlich höhere Zahlen hatten: 3 bis 4 Prozent und es gab trotzdem einen funktionierenden deutschen (Sozial-)Staat. Also dürfen wir nicht immer so tun, als seien 2 Prozent eine Herkulesaufgabe. Nichtsdestotrotz ist es eine Herausforderung und auch deswegen sehen wir die Debatte um eine mögliche Aussetzung der Schuldenbremse. Oder ob man ein neues Sondervermögen macht, Einsparungen in anderen Bereichen vornimmt oder Steuern erhöht. Und ich glaube, darüber müsste ernsthafter und ehrlicher geredet werden. Wir sind in einer neuen geopolitischen Lage, das findet niemand gut. Wir würden alle gern weniger für Verteidigung ausgeben. Aber es ist momentan wichtig, dafür Geld auszugeben und sich klarzumachen, dass das möglich ist und bedeutet, dass wir in eine Kriegswirtschaft einsteigen würden.

Und ein letzter Punkt dazu: Dabei handelt es sich nicht um reines Konsumgeld, das dann weg wäre. Vieles ginge zum Beispiel in die eigene Verteidigungsindustrie. Insofern ist das auch eine Investition durch den Staat, die auch wieder positive Wirkungen auf die Wirtschaft haben könnte. Ich würde mir da einfach oft sehr viel mehr Erklärungen und Ehrlichkeit wünschen. Und eine Abkehr von diesen Bedenken, dass wir jetzt irgendwie ja plötzlich riesige Summen mobilisieren. Es sind große Summen. Aber wie gesagt, der deutsche Staat mobilisiert in vielen Bereichen sehr große Summen. Das ist seine Aufgabe.

Sie haben herausgearbeitet, dass die drei wesentlichen Erfolgsvoraussetzungen der deutschen Wirtschaft weggebrochen oder maßgeblich verändert seien: russische Energielieferungen, unverbrüchliche US-Sicherheitsgarantien und eine liberale Internationale Ordnung. Man müsse sich vor Augen führen, dass unser Geschäftsmodell in diesem veränderten Umfeld nicht mehr funktioniert[1]. An diesen Vulnerabilitäten wird die Verbindung von Sicherheitspolitik und Wirtschaft sehr deutlich. Konfrontieren die Parteien sich selbst und die Wähler*innen ausreichend mit dieser Lage?

Ich denke eher nicht. Dabei ist es schon so, dass man in den meisten Wahlprogrammen lesen kann, dass die Parteien verstanden haben, dass sich etwas verändert hat und wir uns in einer neuen geopolitischen Situation befinden. Und ich glaube, das ist auch für die Bürger*innen das Wichtigste zu verstehen. Die Veränderungen, die wir aktuell sehen, sehen für uns nicht gut aus. Deutschland hatte ein Modell, das sehr stark darauf fußte, in diesem liberalen System wirtschaftliche Gewinne zu machen, auch gerade durch einen sehr freien Handel, insbesondere mit China. Wir hatten billige Energie, vor allem aus Russland und hatten unsere Sicherheit weitestgehend an die USA und die NATO ausgelagert. Und all diese Realitäten brechen uns derzeit weg. Dem muss man Rechnung tragen. Aber es ist erstmal etwas, was uns passiert und im Übrigen die wahre Zeitenwende.

Die Frage ist nur, ob viele Politiker*innen und die Parteien verstanden haben, wie fundamental das ist. Ein weiteres Problem ist, dass sich die Parteien gleichzeitig mit all den anderen Herausforderungen beschäftigen müssen, sei es Klimawandel, Rente oder Mietenpolitik. Es ist nicht der populärste Wahlspruch zu sagen: Es wird alles gerade viel schlimmer und wir werden sehr hart arbeiten müssen, um bestenfalls irgendwie den Status quo zu erhalten. Und das dieses „sehr hart arbeiten müssen“ auch bedeutet, viel Geld auszugeben, macht die Kommunikation meines Erachtens so schwierig. Das Problem ist nur, wie kann man dem begegnen? Und wenn ich mir da die Wahlprogramme ansehe, sehe ich in keinem eine neue Vision, eine neue Strategie, wie diesen ganzen Herausforderungen beizukommen ist. Und was ich jetzt sage, das ist in dieser ganz und gar nicht einfachen Situation natürlich recht wohlfeil von meinem Sessel aus: Man muss viele Dinge grundsätzlich neu denken.

Und gleichzeitig sehen wir uns der Herausforderung gegenüber, dass uns die Partner irgendwie auch verloren gehen. Deutschland ist ein Land, das seine Geopolitik komplett auf Partnern aufgebaut hat. Wir machen kaum etwas allein. Und nun ist das Problem, dass die USA ihr eigenes Ding machen und es auch innerhalb Europas immer mehr Zerfallserscheinungen gibt, wenn populistische Parteien an die Macht kommen, die weniger Interesse an Zusammenarbeit haben. Das bereitet mir Sorgen, denn wir gehen hier weitestgehend ohne eine Strategie in eine wirklich neue Situation.

Die FDP betont den Reformdruck in der deutschen Sicherheitspolitik und fordert die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats, um Risiken frühzeitig zu identifizieren und eine gemeinsame Strategieentwicklung zu ermöglichen. Die Union will den Bundessicherheitsrat zum Nationalen Sicherheitsrat ausbauen, der im Bundeskanzleramt „die wesentlichen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs-, Handels-, Europa- und Entwicklungspolitik koordinieren, strategische Vorausschau leisten und in Krisen zur gemeinsamen Willensbildung“ dienen soll. Kann das einer künftigen Regierung helfen, sich in der gegenwärtigen Lage strategisch zu orientieren?

Ein Nationaler Sicherheitsrat und das Zentrum für Strategische Vorausschau stehen als zwei konkretere Projekte im Raum. Es sind institutionalisierte Gremien, in denen Strategien und Überlegungen gemacht und gebündelt werden können. Das ist meines Erachtens richtig und wichtig, bringt allein für sich genommen aber noch nicht die Lösung. Deutschland hat das Problem, dass wir uns über viele Jahrzehnte aberzogen haben, überhaupt zu überlegen, was unsere Interessen sind, was wir wollen und wie wir das erreichen können. Wir haben in der Bundesrepublik über lange Zeit gesagt: Wir haben überhaupt keine deutschen Interessen, das sind alles europäische Interessen. Das ist absurd, denn natürlich haben Länder nationale Interessen. Und die können ähnlich sein, oft auf einer Linie mit den Partnern. Aber wir haben diese Interessen – und damit Strategie – ganz grundsätzlich vernachlässigt. Neue Institutionen können helfen, dem zu begegnen.

Es wäre sicherlich gut gewesen, hätten wir in den letzten vier Jahren oder auch in den letzten zehn Jahren einen Nationalen Sicherheitsrat gehabt. Aber man darf nicht so tun, als könnte man die ganzen Herausforderungen irgendwie mit neuen Gremien wegregulieren. Wenn wir unsere europäischen Nachbarn anschauen, also Großbritannien und Frankreich, so haben diese auch ihre Probleme mit der aktuellen Situation, obwohl sie strategisches Denken, verallgemeinernd gesagt, doch viel besser können als wir. Aber das heißt ja nicht, dass man damit die Lösung für die Probleme der Welt findet. Insofern sind diese Vorschläge aus den Parteien grundsätzlich erstmal gut, aber natürlich nur ein Teil der Lösung.

Was meines Erachtens wünschenswerter wäre: Der nächste Kanzler, wer es auch sein mag, sollte diese ganzen Herausforderungen der Geopolitik viel stärker zur Chefsache machen, weil sie das jetzt einfach sind. Ich hätte mir das auch schon in den letzten Jahren, und bis zu einem gewissen Grad in den letzten Jahrzehnten, gewünscht. Wir haben 2008 Georgien gesehen und 2014 die Annexion der Krim in der Ukraine. Es ist nicht so, als hätte sich die Welt von einem Tag auf den anderen am 24. Februar 2022 geändert. Dieses Narrativ des Aufwachens sagt mehr über uns aus als über die Veränderung der Welt.

Hilft dabei eine neue Nationale Sicherheitsstrategie, wie sie die Union angehen möchte?

Das kann schon hilfreich sein. Papier ist geduldig, aber solche Prozesse helfen, gewisse Dinge erstmal zu überdenken. Das Schreiben einer Nationalen Sicherheitsstrategie hilft, sich mit Problemen auseinanderzusetzen und Lösungsvorschläge zu formulieren. Ich halte das für richtig und wichtig. Das hat Deutschland 2023 erstmals gemacht. Und wird demnächst vielleicht unter einer von der Union geführten Regierung wiederholt, die die Überlegungen der Vorgängerregierung auf den Prüfstand stellt und eine andere Priorisierung reinbringt. Auch hier gilt wieder: Natürlich ist das nicht die Antwort, es ist erstmal wie eine Übung. Es ist ein Teil des Instrumentenkasten, mit dem man es schafft, diese ganzen Themen stärker in den laufenden Politikbetrieb zu holen, zu verankern, verschiedene Akteure einzubinden und dann auch nach außen zu kommunizieren. Aber dann muss natürlich auch im Hintergrund eine Priorisierung erfolgen und Dinge müssen umgesetzt werden.

Könnten wir abschließend festhalten, dass wir am 23. Februar noch keine wirkliche Auswahl zwischen verschiedenen außen- und sicherheitspolitischen Strategien haben, da die Wahlprogramme der Parteien noch eher die all dem vorgelagerten Fragen widerspiegeln?

Ich würde dem widersprechen. Es ist im Gegensatz zu den letzten Jahren so, dass wir eine größere Bandbreite an Ideen sehen, wie man einer veränderten Welt irgendwie begegnen sollte. Die größte Bandbreite ist gegeben, wenn man das BSW, die Linke und auch die AfD mitbetrachtet. Hier sehen wir schon eine fundamental andere Sichtweise darauf, wie die Welt heute schon funktioniert, wie sie funktionieren sollte und welche Rolle Deutschland darin spielen soll. So sagt die AfD beispielsweise: „Wir begrüßen die neue multipolare Weltordnung“. Das ist ein gänzlich anderer Ansatz als: „Wir wollen eine westlich geführte, liberale und regelbasierte Ordnung, die uns zugutekommt.“ Insofern ist die Bandbreite bei den Parteien da ehrlich gesagt sehr groß.

Schaut man auf die etablierten Parteien, die eine reale Machtoption haben, sind die Unterschiede nicht mehr ganz so groß. Aber auch hier gibt es unterschiedliche Antworten, wie wir mit den europäischen Partnern zusammenarbeiten wollen, wie mit dem transatlantischen Partner und wie wir uns da positionieren möchten. Da gibt es Unterschiede, die mehr sind als nur Details, und dies ist selbst bei solchen Fragen wie der Finanzierung der Bundeswehr der Fall. Deswegen empfehle ich, die Parteiprogramme wirklich zu lesen und nicht einfach nur zu sagen: Alle wollen irgendwie mindestens 2 Prozent, die sind sich alle recht einig. Das klingt bei der SPD anders als bei der Union und bei den Grünen oder der FDP. Insofern sehe ich da durchaus eine Bandbreite, die sich zu reflektieren lohnt. Aber es ist nicht so, als hätten wir jetzt voll geformte, strategische Ausrichtungen im Angebot, zwischen denen man sich entscheiden könnte. Das zwar nachvollziehbar, weil es einfach schwierig ist. Aber es ist eben nun mal auch die Aufgabe von Politik, die größeren Linien aufzuzeigen.

Anmerkung aus der Redaktion: Das Gespräch wurde am 7. Februar 2025 geführt. 


Anmerkungen:

[1] Franke, Ulrike (2025): Ahead of Germany’s Elections, Big Ideas are missing in Actions, in World Politics Review (WPR), unter: https://www.worldpoliticsreview.com/germany-elections-politics-big-ideas/  [letzter Aufruf 03.02.2025]


Die Fragen stellte Tanja Thomsen.
DOI: https://doi.org/10.36206/IV25.2
CC-BY-NC-SA
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