Sicherheitspolitische Debatten im US-Präsidentschaftswahlkampf 2024 und ihre Auswirkungen auf die American Grand Strategy und die NATO
Republikaner und Demokraten unterscheiden sich mittlerweile grundlegend in der Frage, wie die USA künftig außenpolitisch agieren sollen: Das America First-Mindset Trumps konkurriert mit der durch Harris verkörperten Fortsetzung einer hegemonial-liberalen Tradition. Im Interview spricht Tanja Thomsen mit Georg Löfflmann von der Queen Mary University of London über die möglichen geopolitischen Auswirkungen der US-Präsidentschaftswahl 2024. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der nationalistisch-populistischen Rhetorik Trumps und ihrer Rolle beim Entstehen zunehmend dominanter Diskurse, die internationale Bündnisse, Allianzen und Partnerschaften in Frage stellen.
Außenpolitik ist immer ein Ergebnis innenpolitischer Willensbildungsprozesse unter Berücksichtigung der internationalen Rahmenbedingungen und auch für die US-Präsidentschaftswahl 2024 gilt: In Wahlkämpfen sind die außenpolitischen Narrative der Parteien besonders gut zu beobachten, weil die Kandidat*innen für ihre Vorhaben werben müssen. Im TV-Duell zwischen Kamala Harris und Donald Trump fiel zunächst einmal auf, dass außenpolitische Themen den kleineren Teil der Debatte ausmachten: Innere Sicherheit, Abtreibungsrecht, Inflation oder Wirtschaftsleistung standen im Vordergrund. Spiegelt das die aktuelle Gewichtung außenpolitischer Themen im US-Wahlkampf wider?
Innenpolitische Themen haben in den Vereinigten Staaten schon immer in den Wahlkämpfen dominiert. Der Wahlkampfmanager von Bill Clinton wurde 1992 mit der Aussage „It‘s the economy, stupid“ berühmt. Und George H. W. Bush hatte ja durchaus viele außenpolitische Meriten, darunter das Ende des Kalten Krieges oder die Wiedervereinigung, aber die Amerikaner*innen hat es eigentlich nicht großartig interessiert, weil es für sie um Inflation und Steuerthemen ging. Was wir in den USA allerdings schon sehen: Der Raum, den die großen Networks ABC, NBC oder CBS außenpolitischen Themen in ihrer Berichterstattung einräumen, nimmt ab. Im aktuellen Wahlkampf gab es nur ein Duell. Normalerweise ist die erste Debatte zwischen den Kandidat*innen eine innenpolitische und wenn es dann noch weitere Debatten gibt, dann ist eine davon thematisch für die Außen- und Sicherheitspolitik reserviert. Und wenn es um die Wählermobilisierung geht, dann sehen sich die amerikanischen Bürger*innen natürlich im eigenen Alltag eher mit Fragen der Einwanderungs- oder Steuerpolitik oder den Konsequenzen des geltenden Abtreibungsrechts konfrontiert. Syrien, die Ukraine oder der Mittlere Osten sind nicht nur geografisch weit weg.
Könnte sich in dem niedrigen Interesse der Wähler*innen an außenpolitischen Themen vielleicht auch eine Auswirkung der jahrelangen America first-Rhetorik Trumps zeigen? Oder hat sich diese außenpolitische Müdigkeit in der Bevölkerung unabhängig davon und angesichts der Kriege der vergangenen Jahrzehnte entwickelt?
Nein, da sieht man schon eine innenpolitische Dynamik. Trump hat sich mit seinem America First-Mindset gezielt an seine Wählerschaft gerichtet: Diese ist überwiegend weiß, gehört eher der working class oder allenfalls der unteren Mittelklasse an, ist oft ohne Collegeausbildung und eher in ländlichen Räumen, besonders im Süden und im Mittleren Westen – dem sogenannten heartland – ansässig. Diese Wähler*innen wurden von ihm ganz gezielt auch mit außenpolitischen Themen wie dem Antiinterventionismus angesprochen. Wir sehen, dass in den Staaten im Mittleren Westen, die Trump 2016 gewonnen hat, überproportional viele Familien Angehörige im Militär haben. Das ist Trumps Wählerschaft, deren Söhne und Töchter dann im Irak und in Afghanistan dienten und sich dem Risiko von Tod und Verwundung aussetzten.
Und wir beobachten zusätzlich bei beiden Parteien eine sich verstärkende Dynamik, nach dem Krieg gegen den Terror und dem fehlgeschlagenen Experiment von Demokratieexport in Afghanistan die sogenannten forever wars zu beenden. Trumps Kurs, mit den Taliban zu verhandeln und die Truppen zu reduzieren, wurde beispielsweise von mehr als 80 Prozent der Republikaner*innen unterstützt. Und es war dann letztlich Joe Biden, der die letzten US-Truppen aus Afghanistan abgezogen hat. Es gibt also bei Republikanern und bei Demokraten eine starke Strömung zum Antiinterventionismus, also zu mehr militärischer Zurückhaltung in den internationalen Beziehungen. Bei den Republikanern ist es aber so, dass das pars pro toto für einen nationalistischen, populistischen Kurs ist, der dann internationale Allianzen, Partnerschaften oder Bündnisse wie die NATO in Frage stellt und sich gänzlich zurückziehen möchte. Bei den Demokraten gilt noch immer, dass man Allianzen und Partnerschaften unterstützt und eigentlich multilateral agieren möchte.
Während Harris im TV-Duell auf den Ukrainekrieg angesprochen weiterhin die Führungsrolle der USA bei der Wahrung des Völkerrechts betonte und die von Russland ausgehende Kriegsgefahr für das restliche Europa, versprach Trump für seine Wiederwahl eine schnelle Verhandlungslösung. In Ihrer Forschung analysieren Sie, wie Trump Erzählungen von (Un-)Sicherheit diskursstrategisch einsetzt, um die Öffentlichkeit zu polarisieren: Wie wirken sich die America First-Erzählungen auf die Einstellungen der US-Bevölkerung gegenüber außenpolitischen Entscheidungen aus?
Also da müssen wir mit der extremen Polarisierung in den USA beginnen. Trump spricht mit seinen Narrativen eigentlich nur seine Wähler*innen an. Wenn es um die Außenpolitik geht, dann bedient er deren Ängste und Unsicherheiten, was die Globalisierung betrifft. Die gesamte Deindustrialisierung in den USA wird den Freihandelsverträgen angelastet. Der Globalismus als feindliche Ideologie drückt sich aus Sicht von Trump politisch in einer laxen Einwanderungspolitik aus, in der Unterstützung für die UNO und globale Konzerne und vor allem darin, dass man andere wohlhabende Staaten, wie Deutschland, über die NATO verteidige. So würden alle von diesem globalisierten System profitieren, nur nicht die USA selbst. Und auch nicht jene working class voters, die Trump mit seiner America first-Rhetorik gegen diesen Globalismus in Stellung bringt. Dabei kommen zwei Sachen zusammen: Ein nationalistischer Antiglobalismus, in dem die USA unter Trump gegen China Handelskriege führten, aber sich eben auch gegen die EU und gegen Kanada positionierten. Auch Deutschland wird wiederholt als „schlecht“ dargestellt, weil es nicht genug für die NATO ausgebe. Und dann ist auch noch ein populistisches Element vorhanden, weil die Eliten, also die Eliten anderer Länder und die Demokraten und die Republikaner vor Trump, für den Abstieg Amerikas verantwortlich wären.
Dieses nationalistisch-populistische America first-Mindset wird jetzt im Diskurs auf die Ukraine projiziert und genauso dargestellt: „Wir geben mal wieder zu viel aus, um jemand anderes zu verteidigen. Und die Europäer tun nicht genug, um die Ukraine zu unterstützen – genauso wie sie innerhalb der NATO nicht genug tun, um die Lasten zu teilen“. Die daraus resultierende politische Polarisierung wird an der Kritik am Umfang der US-Waffenlieferungen an die Ukraine deutlich: Die überwiegende Mehrheit der Demokraten ist für eine fortgesetzte Unterstützung der Ukraine. Und die überwiegende Mehrheit der Republikaner sieht mittlerweile zumindest die Höhe der amerikanischen Hilfen kritisch, auch wenn Teile des republikanischen Establishments, Mitch McConnell zum Beispiel, den Kurs bezüglich der Ukrainehilfen stets unterstützt haben. Aber das Trump-Lager macht mittlerweile mindestens die Hälfte der Partei aus und darunter sind Stimmen wie zum Beispiel Steve Bannon, der meinte, dass die Trump-Bewegung keinerlei Interesse an der Frage habe, wer letztendlich über die Ostukraine verfüge. Trump würde wohl einen Deal zwischen der Ukraine und Russland aushandeln, der wahrscheinlich darin bestünde, dass die Ukraine Territorium abtreten muss und Russland dafür dann einem Waffenstillstand zustimmt.
Trump schlägt die sogenannten „free rider“-Jahre der europäischen Staaten hinsichtlich der Verteidigungsausgaben, die Aufrüstung Irans oder die russische Invasion in der Ukraine der Schwäche der Biden-Administration zu. Er selbst hingegen werde, hier zitierte er im TV-Duell Victor Orbán, von China, Nordkorea und auch von Russland gefürchtet. Was kann die politische Kommunikationsforschung über die Wirksamkeit dieses Narrativs eines sich vor allem durch Stärke auszeichnenden Staatschefs sagen, wenn es um die Mobilisierung von Wähler*innen geht?
Also das Kernargument, das ich in meinem Buch Politics of Antagonism. Populist Security Narratives and the Remaking of Political Identity mache, lautet, dass Wählermobilisierung im nationalistischen Populismus, also in der Art des Populismus, die Trump vertritt, primär über Erzählungen von Unsicherheit, beispielsweise Notstandserzählungen, funktioniert. Und diese Erzählungen sind erfolgreich, weil sie die Leute emotional ansprechen. Dieses Verstärken von Ängsten, Wut und Ablehnung gegenüber den politischen Establishments kann auch die wirtschaftliche Konkurrenz im Kontext der Globalisierung adressieren oder die Demokraten, die Fake News-Medien und nicht zuletzt auch Rivalen von außen wie die EU, China oder Russland. Bei Trump spielt es keine Rolle, ob es sich da um liberale Demokratien oder langjährige Alliierte handelt oder um ein autoritäres Regime, mit dem die USA schwierige Beziehungen pflegen. Es sind eigentlich alles Feinde. In Trumps Rhetorik ist somit auch ein sehr schmittiansches Element enthalten. Für Schmitt ist die Definition von Politik der Kampf zwischen Freund und Feind. Letzten Endes geht es immer um die Vernichtung des Feindes. Und genau das ist eigentlich das Politikverständnis, das wir einerseits auch in Trumps Rhetorik finden und andererseits zielt es auf die vorhandenen Ängste ganz bestimmter Wählergruppen.
Wir wissen, dass Trumps Wähler*innen mehr Angst vor Einwanderung haben, dass sie sich mehr vor Terrorismus fürchten, dass sie mehr zu nativistischen Tendenzen neigen und dass sie ein größeres Misstrauen gegenüber den Medien und Regierungsinstitutionen hegen. Diese Tendenzen, Einstellungen und Werte werden durch Trumps Rhetorik verstärkt, die Wähler*innen auf diese Weise manipuliert und mobilisiert. Das funktioniert nicht nur in Bezug auf negative Emotionen. Es geht auch um das Verstärken von positiven Emotionen, beispielsweise über Nostalgie für eine gegebenenfalls imaginierte Vergangenheit nationaler Größe: Make America great again. Und wenn Trump behauptet, der Ukrainekrieg wäre unter seiner Präsidentschaft gar nicht ausgebrochen, dann ist das eine übliche Form seiner Selbstvermarktung, wonach er das größte Genie der internationalen Beziehungen ist und nur ihm, wenn er an der Brücke steht, sozusagen alles gelingt.
Diese Erzählungen scheinen gut zu funktionieren, aber sie verfangen auch nicht bei der Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung. Wie gesagt: Trump spricht immer seine Kernwählerschaft an, diese kommt eigentlich nur auf 42, 44 oder 46 Prozent, je nachdem, wie man diese working class und educated constituencies definiert. Ein Blick auf die demografische Entwicklung der USA zeigt, dass es sich hierbei eher um einen abnehmenden Teil der Bevölkerung handelt. Aber beim MAGA-Elektorat in den entscheidenden Swing-States wie Wisconsin, in Arizona und in Michigan, da wirken diese Narrative und diese Projizierung von Stärke ebenso, wie bei einem Teil der Latino-Wählerschaft, der sehr antikommunistisch eingestellt ist.
Trump gelingt es also mit seiner Rhetorik, den eigenen Wähler*innen eine bestimmte Weltsicht zu vermitteln, indem er die alltäglichen Sorgen der Menschen mit vorhandenen Ängsten verknüpft und als existenziell verunsichernde Sachverhalte beschreibt, die nur er lösen könne. Etwa, weil die politischen Eliten es beispielsweise Deutschland ermöglichen würden, aus der Globalisierung auf Kosten der Amerikaner*innen Vorteile zu ziehen?
Genau, also das nationalistisch-populistisches America First-Narrativ ist verkürzt gesagt so: Die Deutschen verkaufen uns hier ihre Volkswagen, kaufen selbst von uns keine Cadillacs und zum Dank dürfen wir sie noch beschützen. So erlauben wir denen, sozusagen nichts für ihre eigene Verteidigung auszugeben, aber einen sehr gut alimentierten Sozialstaat zu unterhalten. Und man muss ehrlicherweise sagen, dass Trump damit nicht ganz im Unrecht ist. Amerikanische Präsidenten kritisierten das Ungleichgewicht in der NATO seit Eisenhower in den 1950er-Jahren. Und Robert Gates, Verteidigungsminister unter Barack Obama und George W. Bush, sagte einmal: „Wenn die Europäer so weitermachen, dann sind sie bald vollkommen demilitarisiert“.
Als Konsequenz dieser Sichtweise beansprucht Trump, dass sich die USA nicht durch Bündnisverpflichtungen vorangegangener US-Regierungen einschränken lassen sollten. Und diese populistische Argumentation findet dann wie beim oben beschriebenen Beispiel narratives Futter in tatsächlichen Gegebenheiten?
Ja, absolut. Es ist eben nicht so, dass, wenn Trump etwas anspricht, es per se völlig gegenstandslos ist. Wir wissen, dass zum Beispiel seit den 1990er-Jahren sechs Millionen gut bezahlter Industriearbeitsplätze in den USA verschwunden sind. Daran sind aber nicht nur die Freihandelsverträge schuld, da spielte auch die Digitalisierung mit rein, daneben die Automatisierung sowie die Transformation der amerikanischen Ökonomie in eine vorwiegend serviceorientierte Wirtschaft. Aber Trumps Narrativ ist durchgehend von Abstieg und Niedergang, dem American carnage, geprägt. Und das Schmittianische daran, ohne dass Donald Trump wahrscheinlich einen Carl Schmitt jemals gelesen hätte, das stellt meines Erachtens die große Gefahr bei Trumps Wiederkehr dar, weil es die Personifizierung des Willens des Volkes in der Figur des Anführers beinhaltet. Damit bewegen wir uns nicht mehr nur im Territorium des nationalistischen Populismus. Trump hat am 6. Januar 2021 bereits einen Mob seiner Anhänger*innen mobilisiert, um eine Kerninstitution der liberalen Demokratie zu unterminieren, nämlich die friedliche Übergabe der Macht. Seine Rhetorik entwirft das Bild einer finalen Schlacht um die Seele Amerikas. Und wenn er darüber spekuliert, dass er das Militär einsetzt, um seine politischen Gegner*innen zu verfolgen oder wenn er, wie jetzt von John Kelly wieder erwähnt, davon schwärmt, dass er eigentlich gerne solche Generäle hätte wie einst Hitler, dann sehen wir hier auch eine Entwicklung in seiner Rhetorik im Sinne einer Radikalisierung, die zunehmend auch offen faschistische Elemente in sich trägt.
Politische Analyst*innen wie James Goldgeier and Elizabeth N. Saunders bei Brookings, mahnen, dass mit der US-Präsidentschafts- und Kongresswahl das Fortbestehen der NATO selbst zur Wahl stünde: Ein polarisierter Kongress sei nicht zur effektiven Kontrolle des Präsidenten bei außenpolitischen Entscheidungen fähig, sollte Trump II Realität werden. Dies wirft doch die Frage auf, wie stark Neo-Isolationismus und die Jacksonian tradition tatsächlich innerhalb der Republikanischen Partei ausgeprägt sind?
Also dieses jacksonianische Element war immer schon ein Teil der Republikanischen Partei. Die dahinterstehende Idee ist, dass die USA vor allem auf ihre eigene militärische Stärke setzen, dass sie unilateral agieren, und dass sie letzten Endes, wenn die nationalen Sicherheitsinteressen berührt werden, auch entsprechend handeln müssen – egal, ob der Rest der Welt zustimmt. Das sind Traditionen, die sehr langlebig sind. Auch unter George W. Bush war es so, dass sich die USA entschieden haben, den Irak anzugreifen, auch wenn klar war, dass man dafür aufgrund des Widerstandes von Frankreich und Russland kein dezidiertes Mandat des UN-Sicherheitsrates bekommen würde. Auch ein Barack Obama hat Osama bin Laden in Pakistan aufspüren und eliminieren lassen und hat dabei die territoriale Integrität und nationale Souveränität Pakistans verletzt. Die USA sind ein globaler Hegemon und eine militärische Supermacht, die einfach, weil sie über diese Mittel verfügt, so agieren kann. Der Unterschied ist aber, dass selbst ein George W. Bush, der in seiner ersten Amtszeit sehr unilateral und damit sehr jacksonian auftrat, dabei stets noch im Blick hatte, dass die USA für etwas Größeres stehen, nämlich für den Kampf für Freiheit, Demokratie und Liberalismus. Das waren die eigentlichen Grundpfeiler des Kriegs gegen den Terror, in dem man diese rogue regimes abschaffen und Terroristen vernichten wollte. Um dann das Pflänzchen der Demokratie im Nahen Osten zu setzen.
Dieses Element, wonach die USA der Anführer der freien Welt sind, findet man bei Trump überhaupt nicht. Bei ihm stehen die USA nur für ihre eigene militärische Macht und wirtschaftliche Stärke. Aber diese Macht, diese Stärke und dieser Einfluss sollen nur den amerikanischen Bürger*innen zugutekommen, dort Jobs schaffen und Waffenverkäufe dienen der eigenen Wirtschaft. Und das heißt dann auch, dass die USA kein großes Interesse daran haben, Allianzen und Partnerschaften zu unterstützen. Und wenn wir uns die Machtfülle anschauen, die ein US-Präsident besitzt, allein weil er aufgrund der Verfassung der Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, und dann auch die Polarisierung im Kongress, dann fragt man sich: Wo soll eine Zweidrittelmehrheit herkommen, die ein Veto des Präsidenten annullieren könnte? Trump kann die NATO schon unterminieren, ohne sie offiziell zu verlassen. Er kann zum Beispiel einfach einen Truppenabzug aus Deutschland anordnen. Oder ein Statement abgeben, dass die europäischen Staaten ab dem nächsten Jahr drei Prozent für die NATO aufwenden müssen. Und nur die, die das tun, werden auch verteidigt. Sollte Trump wiedergewählt werden, stünde aufgrund seiner nationalistischen und populistischen Feindseligkeit gegenüber der NATO und gegenüber dem Konzept einer liberalen internationalen Ordnung ein großes Fragezeichen über dem Bündnis, weil die USA in Europa letzten Endes für die Abschreckung gegenüber Russland verantwortlich sind.
Wie viele Unterstützer*innen seiner außenpolitischen Agenda hat Trump in seiner eigenen Partei? Gibt es Teile der Republikaner, die noch an den Multilateralismus unter amerikanischer Führung glauben?
Wir wissen, dass es in der Partei ungefähr vier Strömungen gibt. Es gibt die evangelikale Rechte und es gibt das nationalistische, populistische Lager. Die machen jeweils ungefähr ein Viertel aus, also die Hälfte der Partei. Und hier unterstützt eine ganz klare Mehrheit Trump. Daneben haben wir die moderaten Republikaner*innen, wie die ehemalige Kongressabgeordnete Liz Cheney, die ungefähr 18 Prozent ausmachen. Diese stehen eigentlich für den Kurs eines George W. Bush und für die fortgesetzte Unterstützung der NATO. Und dann gibt es noch die eher ideologischen Konservativen, die sich insbesondere an Ronald Reagan orientieren, und nicht immer mit allem, was Trump sagt und tut, einverstanden sind. Aber sie sehen, dass Trump während seiner Amtszeit den Verteidigungshaushalt erhöht hat, dass er drei Supreme Court Justices nominiert und damit dort eine konservative Supermehrheit geschaffen hat, so dass es gelang, Row vs. Wade zu kippen. Daher unterstützen sie Trump.
Mit Blick auf die Einstellungen der republikanischen Wähler*innen sehen wir, dass zum Beispiel die Wahrnehmung von Russland als Bedrohung viel weniger ausgeprägt ist als bei den Demokraten. Man fokussiert sich eher auf den Iran, auch als Gefahr für Israel. Und wir sehen auch, dass unter republikanischen Wähler*innen feindselige Einstellungen gegenüber internationalen Organisationen zunehmen und man eigentlich eher dafür ist, dass die USA den Rest der Welt sozusagen in Ruhe lassen und sich eher auf sich selbst zurückziehen sollten. Es bleibt festzuhalten, dass America first die Unterstützung von Millionen von republikanischen Wähler*innen hat. Das ist nicht unbedingt die Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung, aber es ist die Mehrheit im republikanischen Lager.
Harris betonte im TV-Duell die Notwendigkeit einer schnellen Verhandlungslösung für den Gaza-Krieg und reagierte auf Trumps Vorwurf, sie würde Israel hassen, indem sie ihre Loyalität gegenüber dem Selbstverteidigungsrecht Israels und zugleich auch ihr Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung sowie zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts bekräftigte: Sicherheit für die Israelis, insbesondere im Konflikt mit dem Iran und seinen Proxys, aber auch für die Palästinenser*innen. Worauf fußt das republikanische Narrativ, dass Israel unter einer Präsidentin Harris nicht mehr sicher wäre?
Dies ist wieder der Innenpolitik geschuldet. Trump bezeichnet das linke Lager als den unamerikanischen Feind im Inneren. Und in diesem Lager verortete er bisher Black Lives Matter, doch im Zuge des 7. Oktobers 2023 und des israelischen Kriegs in Gaza und im Nahen Osten sehen wir eine sehr starke Studentenbewegung an vielen Colleges in den USA, die sich pro Palästinenser*innen und gegen Israel positioniert haben. Und wir sehen auch einen linken Flügel der Demokratischen Partei: Alexandria Ocasio-Cortez, Ilhan Omar und andere, die sich ebenfalls sehr israelkritisch geäußert und mit den Palästinenser*innen solidarisiert haben, indem sie unter anderem gegen eine Resolution zur Ächtung des Slogans „From the river to the sea“ als antisemitisch stimmten. Das wird seitens Trump und der Republikanischen Partei instrumentalisiert, um die Demokratische Partei in Gänze als israelfeindlich zu brandmarken. Ähnlich verfuhr Trump bereits zuvor mit der Black Lives Matter-Bewegung, die er mit ihrem Streben nach einer Aufarbeitung des strukturellen Rassismus in den USA als Bewegung aus Anarchist*innen, Kommunist*innen, Sozialist*innen und Marxist*innen diffamierte. Und genau das wird jetzt auch auf Elemente der Studentenbewegung in den USA projiziert. Aber diese spricht nicht für die gesamte demokratische Partei. Wenn wir uns Joe Biden anschauen oder die Positionen von Kamala Harris, dann steht der Mainstream der Demokratischen Partei weiterhin fest zu Israel.
Außenpolitik spielte im abrupten Wahlkampfauftakt von Harris zunächst keine Rolle. Gegenüber Trump unterstrich sie dann im TV-Duell die Wichtigkeit der NATO als größtem Verteidigungsbündnis der Welt, betonte die Dankbarkeit der Verbündeten und warf ihm fehlenden Respekt für das eigene Militär vor. Kann man inzwischen einschätzen, was eine Präsidentschaft Harris‘ für die außenpolitische Ausrichtung der USA als Weltordnungsmacht bedeuten würde?
Ich glaube, die Außen- und Sicherheitspolitik von Kamala Harris wäre mehr oder weniger die Fortsetzung des Status quo unter Joe Biden und Barack Obama. Also orientiert an der Leitlinie einer liberalen Hegemonie, in der die USA weiterhin die politische, wirtschaftliche und militärische Führungsmacht des Westens bleiben. Aber sie sind auch nicht mehr so omnipotent wie noch am Anfang des 21. Jahrhunderts. Dass man den ganzen Nahen Osten mit der Invasion des Iraks durch militärische Macht transformiert, dass man in Afghanistan 10.000 US-Soldaten stationiert und Milliarden ausgibt, um dann Nation-building zu betreiben. Solche Unterfangen würden sicher nicht mehr wiederholt werden.
Aber man würde weiterhin die Ukraine unterstützen. Man würde weiterhin die NATO unterstützen. Ich glaube, Harris wäre kritischer gegenüber Israel eingestellt als Joe Biden, auch wenn die USA weiterhin der wichtigste militärische Unterstützer Israels bleiben. Man würde auch der wichtigste Sicherheitsgarant für Südkorea und für Japan im asiatisch pazifischen Raum bleiben. Vor allem würde sie die USA weiterhin auch als moralische Führungsmacht betrachten, die für Werte von Freedom und von Liberty stehen, wenn es darum geht, Entwicklungshilfe im globalen Süden zu betreiben und sich da auch gegen China zu positionieren. Harris wäre eine Präsidentin, die wie Obama sehr auf dem asiatisch pazifischen Raum schaut, weil das für die USA ein strategisches Hauptaugenmerk ist. China ist ein strategischer Rivale. Zugleich will es die Wiedervereinigung mit Taiwan bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts und global zur führenden Wirtschafts- und Militärmacht aufsteigen. Das ist eine direkte Bedrohung der amerikanischen Hegemonialstellung. Und diesbezüglich sehe ich übrigens sehr wenig Differenzen zwischen Republikanern und Demokraten. Es war die Trump-Administration, die sich von der Idee einer verantwortungsvollen Partnerschaft mit China verabschiedete und China als strategischen Rivalen benannte. Dieser Kurs wurde unter Joe Biden mehr oder weniger fortgesetzt, siehe auch die Strafzölle, mit denen eingangs Trump China belegt hatte. Bei aller Polarisierung gibt es strukturelle Kontinuitäten, ganz gleich, ob Kamela Harris oder Donald Trump im Weißen Haus sitzt. Aber wenn wir uns fragen, wie eine Harris-Doktrin oder eine entsprechende Grand Strategy aussehen würde, dann wäre die sehr nah an dem dran, was wir unter Obama und Biden gesehen haben.
Können Sie eine Einschätzung dazu abgeben, warum der Systemkonflikt mit China beispielsweise in der Debatte zwischen Trump und Harris lediglich am Rande zur Sprache kam?
Das Interessante ist, dass wir ja immer von dieser sehr extremen thematischen Polarisierung in den USA sprechen. Und die gibt es bei China so nicht, denn sowohl die Republikaner als auch die Demokraten sehen China zunehmend kritisch und als einen Gegner oder als Rivalen. Wir sehen diese strategischen Kontinuitäten zwischen Trump und Biden auf dem Level der politischen Eliten und wir sehen das auch in der Einstellung der Bevölkerung. Es spielt hierbei eigentlich keine große Rolle, ob es Republikaner*innen oder demokratische Wähler*innen sind, beide stehen China zunehmend feindseliger gegenüber, auch wenn Trump rhetorisch die rassistischen und xenophoben Einstellungen in seiner Wählerschaft aktiv bediente, wenn er im Zuge der Covid19-Pandemie vom Kung Flue oder Chinavirus sprach. Insofern eignet sich die Bedrohung durch China mangels Polarisierung nicht als narrative device zur Mobilisierung von Wähler*innen.
Die USA unterhalten neben der NATO noch weitere sicherheitspolitische Bündnisse, allen voran das über Jahrzehnte gewachsene Bündnissystem in Asien-Pazifik mit Staaten wie Australien, Südkorea, Japan und Taiwan. Diese spielten im Wahlkampf bisher keine große Rolle und wurden auch nicht in Frage gestellt. Ist das damit zu erklären, dass sich diese Bündnisse ebenfalls nicht zur Mobilisierung der eigenen Kernwähler*innen eignen, weil sie unstrittig sind?
Sie sind mehr oder weniger unstrittig. Es gibt allerdings den Unterschied, dass Trump während seiner Amtszeit diese sicherheitspolitischen Verpflichtungen und strategischen Abkommen ganz gezielt eingesetzt hat, um wirtschaftliche Konzessionen zu erreichen. So hat er darauf gedrängt, dass Südkorea finanziell mehr zur Stationierung der US-amerikanischen Truppen beiträgt. Dabei drohte er wiederholt, das KORUS-Freihandelsabkommen aufzukündigen. Trump betrachtet auch die Sicherheitsabkommen in der Region nicht als Fundament einer Sicherheitsarchitektur in Asien, sondern als ein Faustpfand (bargaining chip). Die USA haben die militärische Macht und sind vertraglich verpflichtet, andere Länder zu beschützen, also benutzt er das, um seine Verhandlungsposition gegenüber diesen Ländern zu stärken. Hier werden wirtschaftliche und sicherheitspolitische Motive der USA in einer Weise miteinander verquickt, die schon ziemlich einmalig ist. Das würde es so unter Harris nicht geben. Daher gilt, dass eine Wiederwahl Trumps durchaus auch ein Destabilisierungspotenzial im asiatisch-pazifischen Raum beinhalten würde. Auch, weil Trump schon einmal auf einen militärischen Konflikt mit Nordkorea zusteuerte, bis dann plötzlich umgeschwenkt wurde zu diesem Bonhommes-Treffen mit Kim Jong-un auf mehreren Summits. Trump hat auch einen Handelskrieg mit China begonnen und Xi Jinping gleichzeitig öffentlich gelobt. Diese Volatilität und sein nationalistisch- populistisches America First-Mindset, wonach alles nur transaktional betrachtet wird und nicht aufgrund gemeinsamer Werte und Interessen, sind Unsicherheitsfaktoren.
Könnte dieser Umgang Trumps mit den asiatischen Partnern im Falle seiner Wiederwahl nun auch den Europäern bevorstehen? Während der ersten Amtszeit war er von einem Umfeld umgeben, das noch in einem eher klassischen Verständnis US-amerikanischer Außenpolitik verhaftet war.
Genau. Und inzwischen haben auch wir in Europa eine ganz andere Sicherheitslage. Die Welt ist geopolitisch gefährlicher und instabiler geworden. Und in so einem Umfeld wäre eine erneute Präsidentschaft Trumps noch einmal gefährlicher. Auch weil es nicht mehr diese adults in the room gibt, also vor allem ehemalige Generäle, wie Jim Mattis als Verteidigungsminister, John Kelly als Stabschef im Weißen Haus oder H. R. McMaster als nationalen Sicherheitsberater, die ja mehr oder weniger Garanten des Status quo waren, also beispielsweise einer Unterstützung der NATO. Die USA haben unter Trump materiell und finanziell mehr in die Abschreckung in Europa investiert als unter Obama. Das war überhaupt nicht der nationalistisch-populistische America First-Kurs, den Trump wollte. Aber seine Leute, alle Drei- und Viersternegeneräle, waren mehrheitlich Anhänger dieser liberalen Hegemonie, die die USA seit dem Zweiten Weltkrieg als Grand Strategy verfolgt haben. Und die würde es jetzt in einer neuen Trump-Präsidentschaft so nicht mehr geben, nur noch Loyalist*innen, die alles, was der Präsident anordnet, wahrscheinlich einfach so abnicken werden. Und das macht eine zweite Trump-Präsidentschaft, abgesehen vom geopolitischen Umfeld, für die Partner erheblich gefährlicher und potenziell destabilisierender als die erste.
Anmerkung aus der Redaktion: Das Gespräch wurde am 28. Oktober 2024 geführt.
Die Fragen stellte Tanja Thomsen.
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