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Rezension / 05.04.2024

Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert

Berlin, Rowohlt 2023

Anhand jüngster globaler Ereignisse wie dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan und dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine zeigt Münkler auf, dass die bisherige internationale Ordnung an ihre Grenzen stößt. Er skizziert eine mögliche neue multipolare Weltordnung, dominiert von fünf Großmächten - Russland, China, den USA, der EU und Indien. Sein Werk ist sowohl wissenschaftlich solide als auch für nicht-akademische Leser*innen verständlich geschrieben und bietet eine wichtige Orientierung in einer Zeit des Umbruchs, so unser Rezensent. 

Herfried Münkler, renommierter Politologe und Experte für geopolitische Fragen, wirft in seinem aktuellen Werk "Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert" einen faszinierenden Blick auf die sich rasant verändernde Weltordnung. Die jüngsten Ereignisse, wie der Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan, die erneute Machtübernahme der Taliban sowie der russische Überfall auf die Ukraine, haben deutlich gemacht, dass die bisher geltende (oder angenommene?) Ordnung an ihr Ende gekommen ist. In dieser Zeit der globalen Unruhe stellt sich die Frage, wie sich die Welt neu sortieren kann und welche Konfliktlinien sich bereits jetzt erkennen lassen.

Dabei geht Münkler gewohnt strukturiert vor. Zunächst stellt er verschiedene Modelle vor, wie eine Welt- und Friedensordnung gedacht werden kann und macht diese an den jeweiligen Vordenkern fest: Das Vegetius-Modell, benannt nach dem römischen Kriegstheoretiker Publius Flavius Vegetius Renatus, beruht auf dem von Münkler so genannten „para bellum“-Imperativ („Si vis pacem, para bellum“ - Wer den Frieden will, bereite den Krieg vor) und stellt fest, dass ein Gleichgewicht der Abschreckung zu einem dauerhaften Frieden führen kann. Im Dante-Modell, benannt nach Dante Alighieri, müsse ein Staat als Hüter einer bestimmten Ordnung mit entsprechenden Ressourcen und Macht versehen werden, und im Comte-Spencer-Modell, benannt nach Auguste Comte und Herbert Spencer, diene die wirtschaftliche Verflechtung der Staaten der Stabilität einer Friedensordnung. Bereits hier ist leicht zu erkennen, dass alle drei Modelle nicht nur bloße Theoriekonstrukte darstellen, sondern in den letzten Jahrzehnten ausprobiert wurden. Das Vegetius-Modell im Kalten Krieg, das Dante-Modell nach dem Ende des Kalten Krieges und das Comte-Spencer-Modell als Modell vor allem der EU, um über Soft Power internationale Politik zu gestalten. Dass alle Modelle Schwächen aufweisen, haben wir in der Praxis gesehen, und dies wird von Münkler auch sehr schön herausgearbeitet. Münklers Analyse hebt hervor, dass die bisherige Vorstellung einer von Werten und Normen geprägten Weltordnung, die vom Westen durchgesetzt wird, in der aktuellen Lage an ihre Grenzen stößt. Die USA, einst als Weltpolizist bekannt, würden sich trotz internationaler Engagements zurückziehen. Gleichzeitig blockiere sich die UN selbst, und die Europäer schienen nicht in der Lage zu sein, eine effektive Weltordnung zu etablieren. In dieser prekären und risikoreichen Lage skizziert Münkler, wo die Konfliktlinien der Zukunft verlaufen könnten.

Im weiteren Verlauf arbeitet er sich an verschiedenen Theorien der Weltreichsbildung ab und geht im Detail auf Carl Schmitts Großraumtheorie ein. Schmitt betrachtet die Welt aus einer geopolitischen Perspektive und postuliert, dass diese in geopolitische Großräume unterteilt sei, die durch bestimmte geopolitische Merkmale definiert werden. Seine Großräume fungieren als zentrale geopolitische Einheiten und stehen in einem Zustand der Konkurrenz zueinander. Die Theorie betont die Bedeutung von hegemonialen Mächten innerhalb dieser Großräume und deren Streben nach Durchsetzung strategischer Interessen. Konflikte und Spannungen zwischen den Großräumen sind ein zentrales Element der geopolitischen Dynamik gemäß dieser Theorie. Münkler nutzt dies als Ausgangspunkt, um sehr kenntnisreich und nachvollziehbar vier verschiedene Narrative vor- und nebeneinander zu stellen: Das Narrativ der Ukraine, der USA, das Narrativ Chinas sowie das russische Narrativ.

Das ukrainische Narrativ, wie von Münkler beschrieben, konzentriert sich auf die Geschichte und Identität des Landes, insbesondere im Kontext seiner Beziehung zu Russland. Es betone die jahrhundertelange Entwicklung der Ukraine als autonomer politisch-kultureller Raum, der stärker mit dem Westen und Europa verbunden sei als mit Russland. Es ziele darauf ab, die kulturelle Eigenständigkeit der Ukraine hervorzuheben und historische Kontinuitäten zu schaffen, die bis zur Kiewer Rus und der Ukrainischen Volksrepublik von 1918-1920 zurückreichen. Es beinhalte auch einen Widerstand gegen die russische Vorherrschaft und Unterdrückung sowie die Betonung von Personen wie Stepan Bandera, die als Helden im Kampf für die ukrainische Eigenständigkeit betrachtet werden, auch wenn ihre Zusammenarbeit mit deutschen Invasoren kontrovers ist. Diese Narrative und Symbole sind Teil des politischen Kampfes der Ukraine um Eigenständigkeit und werden von russischer Seite mit Gegennarrativen bekämpft.

Das russische Narrativ sei von einer komplexen und ambivalenten Selbstversicherung geprägt, die sich durch die Konstruktion einer russischen Identität sowohl in der Abgrenzung von als auch Verbindung mit Europa ausdrücke. Frühe Identitätsnarrative beinhalteten das Streben nach Aufholen der eigenen Rückschrittlichkeit und eines Nacheiferns des Westens sowie das Insistieren auf einer eigenständigen Identität, die sich nicht an westlichen Mustern orientiere. Die Debatte zwischen Westlern und Slawophilen im 19. Jahrhundert prägte die Vorstellungen von Russlands Rolle in Europa und der Welt. Heutzutage finden sich diese Diskussionen in verschiedenen politischen und ideologischen Strömungen wieder, die das Selbstbild Russlands als eine Art „Drittes Rom“ oder als eigenständige slawische oder mongolische Identität formulieren. Dieses Narrativ werde auch durch die Idee einer russischen Welt und einer eurasischen Mission gestützt, die sich von westlichen Werten abgrenzt, und eine alternative, spirituelle und antimaterialistische Vision vertritt. Die jüngsten Ereignisse, insbesondere der Konflikt mit der Ukraine und die militärischen Interventionen, haben jedoch dazu geführt, dass diese imperialen Ansprüche auf eine weltpolitische Rolle in Frage gestellt werden. Die russische Regierung unter Wladimir Putin steht nun mit einem expansionistischen Imperialnarrativ und ihrer brutalen Unterwerfungspraxis im Konflikt mit dem Westen und anderen Nachbarstaaten.

Das US-amerikanische Narrativ sei von einem anfänglichen Glauben an die Mission geprägt, demokratische Partizipation, individuelle Freiheit und materiellen Wohlstand weltweit zu verbreiten. Ursprünglich sollte diese Mission nicht durch militärische Gewalt, sondern durch Soft Power erreicht werden, unterstützt durch kulturelle und ideologische Einflüsse wie Hollywood-Filmen und den American Way of Life. Die USA sollten militärische Macht nur im Falle direkter Angriffe auf sich oder ihre Verbündeten einsetzen. Jedoch habe sich das operative Handeln der USA unter der Präsidentschaft von George W. Bush von dieser ursprünglichen Mission entfernt. Die Neocons, vertreten durch Personen wie Robert Kagan, argumentierten, dass politische Stabilität und langanhaltender Frieden die größte Bedrohung für die globale Führungsrolle der USA darstellen. Sie befürworteten eine Strategie der permanenten Kriege, um die USA vor einem möglichen Niedergang zu bewahren. Diese Kriege, insbesondere in Afghanistan und im Irak, haben jedoch nicht nur die ursprünglichen Ziele der US-amerikanischen Mission desavouiert, sondern auch zu einem wachsenden Misstrauen gegenüber dem Leitnarrativ des amerikanischen Exzeptionalismus geführt. Das Vertrauen in die Fähigkeit der USA, ihre globale Dominanz aufrechtzuerhalten, habe abgenommen, und es bestehe die Sorge, dass die USA ihren Platz an der Spitze der Weltordnung nicht mehr halten können. Angesichts neuer Herausforderungen, insbesondere durch aufstrebende Mächte wie China und die Rückkehr zu einer Welt der Großmachtrivalität, müssten die USA möglicherweise ihr Narrativ und ihre Strategie überdenken. Es werde deutlich, dass eine rein militärische Orientierung nicht ausreicht, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen, und dass die Zusammenarbeit mit Verbündeten wie der Europäischen Union notwendig sein könnte, um die Position der USA in der Welt zu stärken.

Das chinesische Narrativ stellt Münkler anhand der Schriften von Zhao Tingyang, einem einflussreichen zeitgenössischen chinesischen Politiktheoretiker, dar. Im Gegensatz zu den westlichen Theorien, die auf liberalen Prinzipien basieren, präsentiert Zhao das Tianxia-Konzept als alternative Vision für eine künftige globale Ordnung. Dieses Konzept betone die Idee einer umfassenden, kooperativen Weltordnung, in der Vielfalt und Zusammenarbeit im Vordergrund stehen. Zhao lehnt westliche Theorien, wie Kants Idee des ewigen Friedens und Rawls‘ Gerechtigkeitskonzept, auf internationaler Ebene ab. Stattdessen argumentiert er, dass eine Weltregierung notwendig sei, um die Allmende der Menschheit zu schützen und Ausbeutung durch hegemoniale Staaten zu verhindern. Er kritisiert das bestehende internationale System als imperialistisch und argumentiert für eine Umgestaltung hin zu einer globalen Ordnung, in der nicht Macht das Hauptziel der Politik sei, sondern vielmehr das Streben nach einer harmonischen Existenzordnung. Obwohl Zhao keine klare Antwort darauf gibt, wer das Tianxia-System letztendlich kontrollieren wird, deute seine Argumentation darauf hin, dass chinesische Eliten eine Schlüsselrolle bei der Einführung und Überwachung dieses Systems spielen könnten. Diese chinesische Vision einer globalen Ordnung unterscheidet sich stark von westlichen Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten und würde eher von einer autoritären, technokratischen Elite geführt werden. In gewisser Hinsicht ähnelt sie eher dem bürokratischen Verwaltungsstaat des 18. Jahrhunderts als den liberaldemokratischen Rechtsstaaten des Westens.

Als „Analytiker des großen Umbruchs“ (333) stellt Münkler im Anschluss die Autoren Thukydides, Niccolò Machiavelli und Carl von Clausewitz vor. Alle drei schrieben in einer Umbruchssituation, in der sie auch von Veränderung betroffen waren, zumeist als deren Opfer: Thukydides war als athenischer Stratege direkt in den Peloponnesischen Krieg verwickelt. Seine Verurteilung und Verbannung aus Athen nach dem Scheitern der Expedition zur Rettung von Amphipolis zwangen ihn zur Reflexion und zum Schreiben seiner Historie dieses Krieges. Thukydides wurde dabei Opfer politischer Intrigen in Athen und der Infragestellung seiner politischen Entscheidungen. Machiavelli war ein Politiker und Schriftsteller, der in die politischen Umbrüche der italienischen Renaissancezeit involviert war. Sein Versuch, eine Miliz zur Verteidigung von Florenz aufzustellen, scheiterte, was zum Zusammenbruch der Florentiner Republik und seiner Entfernung aus politischen Ämtern führte. Clausewitz schließlich war ein preußischer General und Militärtheoretiker, der die Niederlage der preußischen Armee in den Napoleonischen Kriegen und die politischen Wirren der Restaurationszeit erlebte. Seine Ablehnung der Zusammenarbeit mit Napoleon und sein Eintreten für einen Widerstand gegen die französische Hegemonie brachten ihn in Konflikt mit der politischen Elite. Insgesamt zeigen diese Beispiele, wie die drei Autoren durch Umbrüche und persönliche Schicksalsschläge geprägt wurden, was ihre intellektuelle Arbeit und ihr Streben nach einem besseren Verständnis der sich politisch massiv wandelnden Realitäten beeinflusste.

Im letzten Kapitel zeichnet Münkler eine mögliche neue Weltordnung auf, die von fünf Großmächten dominiert wird. Diese neue multipolare Weltordnung sieht die USA, China, Russland, Indien und die EU als potenzielle Direktoren und Hüter einer globalen Ordnung. Hierbei wirft er wichtige Fragen auf: Liegt in dieser neuen Ordnung ein austariertes Mächtegleichgewicht vor oder droht Chaos? Welche Gefahren und Chancen bringt sie mit sich? Wie sollten sich Europa und Deutschland in den zu erwartenden globalen Auseinandersetzungen positionieren? Klar dürfte allein bei der Aufzählung dieser neuen Hüter einer globalen Ordnung bereits jetzt geworden sein, dass eine Wertepolitik, die sich einzig aus dem westlichen Narrativ ableitet, nicht die Grundlage dieses Systems sein wird. Natürlich könnten einzelne, von Münkler als neue Hüter einer Weltordnung gekennzeichnete Mächte scheitern, aber insgesamt müsse eine stabile Ordnung zustande kommen: „Es sind, so das Resümee, nicht nur einzelne Mächte, die in oder an der neuen Weltordnung scheitern können, sondern scheitern kann diese globale Ordnung auch als Ganzes. Die Folgen wären freilich furchtbar“ (456).

Münklers Werk ist nicht nur wissenschaftlich solide, sondern auch für nicht-akademische Leserinnen und Leser verständlich geschrieben. Das Buch bietet wichtige Orientierung in einer Zeit, in der die alte Weltordnung bröckelt und die neue noch nicht in Sicht ist. Wie von Münkler bekannt, spannt er auch in seinem neuesten Buch weite Bögen, die nicht nur dabei helfen, die Ursachen des aktuellen russisch-ukrainischen Konflikts zu verstehen, sondern auch innovative Ideen für eine zukünftige Friedensordnung in einer multipolaren Welt präsentieren. Dabei bringt er es auch fertig, komplexe geopolitische Zusammenhänge anschaulich zu erklären. "Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert" ist somit nicht nur ein wegweisendes Werk, sondern auch ein spannender Ausblick auf die Machtkonstellationen, die die kommenden Jahrzehnte prägen werden. In den letzten Jahren sind viele Bücher geschrieben worden, die das Zusammenbrechen der bestehenden globalen Ordnung thematisieren. Münklers Buch ist dabei mit Abstand das wissenschaftlich und historisch Fundierteste.

 

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