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Rezension / 28.08.2023

Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

München, (3., aktualisierte Auflage) C.H. Beck 2022

Carlo Masala argumentiert, dass die Welt im 21. Jahrhundert in Unordnung geraten sei. Er führt hierzu auch an, dass der Versuch des Westens, Demokratie zu verbreiten, gescheitert sei und westliche Interventionen stattdessen zu Chaos und Instabilität geführt hätten. Dabei stellt er die Effektivität übergeordneter Institutionen in Frage und betont, dass Stabilität nur dann hergestellt werden könne, wenn man eine realistische Außenpolitik innerhalb von „Koalitionen der Willigen“ (155) verfolgt. Wahied Wahdat-Hagh hat das Buch rezensiert.

Carlo Masalas Buch ist aus der Perspektive (neo-)realistischer IB-Paradigmen verfasst. Die Welt sei im 21. Jahrhundert in Unordnung geraten, dies ist das „Hauptargument“ (159), das er hierin vorträgt. Fehlende Ordnung bedeute zwar nicht notwendigerweise Chaos, die Politik müsse sich aber auf die gegebenen Bedingungen und somit auf Unberechenbarkeiten und Planungsunsicherheit einstellen. Masala geht trotzdem davon aus, dass viele Regionen dieser Welt auf unabsehbare Zeit ins Chaos abgleiten werden. Er schreibt, es sei „gefährliches Wunschdenken“ (13), dass ein liberales Modell, dem man womöglich mit Gewalt zum Durchbruch verhelfen müsse, zur Grundlage einer neuen Weltordnung werden könne. Der Versuch, die Welt zu verwestlichen und zu demokratisieren, sei vielmehr gescheitert. Stattdessen müsse man mittels kluger Politik beispielsweise auch mit Diktatoren, die man verabscheue, verhandeln. Es gelte, sich seitens staatlicher Politik an diese neue Weltunordnung anzupassen.

Das vorliegende Buch stelle daher ein „Plädoyer für eine kluge, realistische Politik für das 21. Jahrhundert“ (14) dar. Masala entfaltet die realistische Argumentation, wonach alle Staaten nach Macht streben und dass es „keine den Staaten übergeordnete Instanz“ (16) gebe, die darüber wacht, welche Regeln eingehalten werden sollen. Staaten seien immer um ihre eigene Sicherheit besorgt und auf ihre nationalen Interessen bedacht. Dem Völkerrecht komme dagegen eine nachrangige Bedeutung zu. Die Großmächte haben, so der Autor, das Völkerrecht stets als Instrument genutzt, um kleinere Staaten zu disziplinieren. Noch in den 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts herrschte die optimistische Sichtweise, die das westliche Modell der Demokratie und freien Marktwirtschaft „universalisieren“ (20) wollte. Es schien, als ob die Unipolarität und damit die Vorherrschaft der USA garantiert seien. Genau diese Hoffnung beruhe auf einer „Illusion“ (21). Masala kritisiert die Doppelmoral der Vereinigten Staaten, das liberal-kapitalistische Wirtschaftssystem und insbesondere die Liberalisierungsstrategie des Internationalen Währungsfonds (IWF), die die „Souveränität“ (22) vieler Staaten und das „Prinzip der souveränen Gleichheit von Staaten“ (31) ausgehöhlt habe. Im Zuge dessen wurde China in der strategischen Konkurrenz mit dem IWF von einigen afrikanischen Regierungen als eine Alternative zu den USA angesehen. China vergab Entwicklungshilfekredite, die an keinerlei Vorgaben gebunden waren und bekam „im Gegenzug [zu] Schürfrechte[n] für seltene Erden, Mineralien oder andere Rohstoffe“ (23). Eine Faustregel mache die Doppelmoral der USA und der europäischen Staaten deutlich. Diese besagt, dass sie auf ihren Demokratisierungsanspruch verzichten, wenn die eigenen strategischen Interessen gefährdet seien. Für Masala ist klar, dass der Westen und die Demokratie einen „erheblichen Vertrauensverlust“ (31) erlitten haben.

Militärische Lösungen von Konflikten seien Anfang des 21. Jahrhunderts sehr populär geworden. Er spricht von einem „liberalen Imperialismus“ (33), der sich kraft der liberalen und neokonservativen Politik durchgesetzt habe. Gleichzeitig befürwortet er als Vertreter der (neo-)realistischen Denkschule aber in manchen Fällen doch den Einsatz von „Bodentruppen“ (38) im Falle eines militärischen Ernstfalls. Innerhalb dieser Denkschule der Internationalen Beziehungen wird davon ausgegangen, dass westliche Staaten zwar von humanitären Notlagen und ungerechter Herrschaft sprechen, dabei die eigenen geostrategischen Interessen aber verschweigen. Der Westen produziere Unordnung und trage mit seiner militärischen Interventionspolitik eine Verantwortung dafür, dass die „Welt heute ein wesentlich unsicherer Ort“ (44) geworden sei. Die Vorstellung, wonach internationale Organisationen die Politik ihrer Mitgliedstaaten transparenter und kontrollierbar machen, habe sich nicht realisiert. Starke internationale Institutionen als Eckpfeiler einer neuen Weltordnung seien eine „Chimäre“ (52). Die NATO sei eine Allianz, die „noch ihre Mission“ (55) suche und nicht mehr in der Lage sei, eine globale Ordnungspolitik zu betreiben. Auch die Vereinten Nationen seien ein „Produkt des Kalten Krieges“ (59) gewesen, dessen Bedrohungsszenario in dieser Form nicht mehr existiere. Der islamistische Terrorismus sei hingegen zu einer großen Herausforderung für den Westen geworden. Masala positioniert sich so gedanklich konsequent gegen globale Lösungsstrategien. Er kritisiert, dass „eine „Art Weltstaat“ (60) entstehen solle, in dem jeder Staat einer Rechtsordnung unterworfen werde. Die Hoffnung, dass eine neue Weltordnung somit auf internationalen Institutionen beruhen könne, habe sich als „Illusion“ (59) erwiesen. Tatsächlich würden alle Staaten nach Macht streben und es gelte das Recht des Stärkeren. Und es sei dieser Widerspruch, der die Ideen der Menschenrechte diskreditiert und in der Vergangenheit verhindert habe, dass das „Völkerrecht zum Maßstab des internationalen Handelns“ (62) wurde. Nichtwestliche Staaten haben daher die Universalisierung westlicher Werte und Normen als eine „liberal-imperialistische Politik“ (63) wahrgenommen. Die „Doppelstandards“ (64) der westlichen Politik haben den Eindruck bestärkt, dass es sich vielmehr um eine klassische Machtpolitik handelte, die somit die neue Unordnung hinterlassen habe.

Die Unipolarität spiegele die Übermacht der USA wider und daher würden manche Staaten die Multipolarität bevorzugen, eine Diskussion, die schon in den 1960er-Jahren geführt worden sei. Beide „Systemstrukturen“ (67) unterliegen für Masala indes dem gleichen logischen Fehlschluss: Die Hoffnung, dass sich ein internationales System stabilisieren werde, wenn es seine Pole gefunden habe, sei trügerisch. Aus der Warte der realistischen Theorie betrachtet, versuche die stärkere Macht sich letztlich durchzusetzen. Die militärischen Machtmittel der USA machten deutlich, dass die Welt noch lange unipolar bleibe. Aber militärische Macht könne nicht wirklich für politische Ziele eingesetzt werden, wenn eine „Zweitschlagfähigkeit“ (70) gesichert sei. Zudem würden Kriege des 21. Jahrhunderts meist nicht länger zwischen Staaten geführt und seien eher „hybride Kriege“ (71), die durch konventionelle Waffen, irreguläre Taktiken und terroristische Gewalt gekennzeichnet sind. Ökonomisches Wachstum und Stärke blieben auch in Zukunft das Fundament der militärischen Stärke und wirtschaftlich existiere schon heute eine tripolare Konfiguration aus der Europäischen Union, den USA und China. Die Natur von Macht habe sich grundlegend gewandelt. Dem Hegemon USA fehle „die Gefolgschaft und ohne diese steht er oftmals nackt da“ (79). Speziell China und Russland würden den globalen Siegeszug einer liberalen Weltordnung delegitimieren. Realist*innen hätten eine „Gegenmachtbildung“ (83) vorausgesehen. Die USA als Hüterin der liberalen Weltordnung würde ein „janusköpfiges Element“ (85) in sich tragen, das einen dezidierten Widerstand hervorrufe, der das unipolare internationale System als „illegitim“ (90) brandmarke. Diese Sichtweise werde nicht nur von Russland und China, sondern auch von Staaten wie Indien, Südafrika und Brasilien vertreten. Letztlich würden Staaten wie die USA, China und Russland dafür sorgen, dass das „gegenwärtige Chaos und die Unordnung im internationalen System uns auf absehbare Zeit erhalten bleiben“ (94). Vor dem Hintergrund des Scheiterns der Politik der Demokratisierung und der Fragmentierung des internationalen Systems sei es möglicherweise Zeit „für einen grundlegenden Paradigmenwechsel“ (108) und für alternative Formen der Selbstverwaltung. Leider führt Masala nicht aus, welche alternativen Formen er sich vorstellen kann.

Die „Rückkehr des Nationalismus“ (109) umfasse den gesamten Globus und könne Konflikte beschleunigen. Die Renationalisierung berge Gefahren für die regionale und globale Stabilität. Während Masala es in Hinblick auf innerstaatliche Instabilitäten durchaus für möglich hält, dass es hier „eine gute Nachricht“ (119) sein kann, dass Staaten ethnisch homogener und innere Konflikte damit unwahrscheinlicher werden können, weist er auf die sich daraus ergebenen Gefahren für zwischenstaatliche Kooperationsfähigkeiten hin. „Militärische Konfrontationen“ (116) in Asien können Folge des Nationalismus sein. Auch der innerhalb der Europäischen Union wiederkehrende Nationalismus hemme die Kooperation und Integration zwischen den Mitgliedsstaaten. Masala notiert, dass sich die Europäische Union zwar nicht auflösen werde, aber es ungewiss sei, ob diese noch in Zukunft als „einheitlicher Akteur handlungsfähig“ (120) sein werde.

Auch Deutschland würde mit Staaten zusammenarbeiten, die den Terrorismus unterstützen und dies werde als eine westliche Doppelmoral betrachtet. Eine von nationalem Interesse und nationaler Sicherheit geleitete Realpolitik wäre „ehrlich und konsistent“ (125), würde aber von vielen Bürger*innen als zynisch erachtet. Die westliche Außenpolitik würde mit einem Janusgesicht „universelle Werte wie eine Monstranz“ (126) vor sich her tragen, im Konfliktfall aber nach realpolitischen Interessen agieren, was zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führt.

Das Buch benennt auch die digitale Herausforderung im Informationszeitalter, die zur “Machtdiffusion“ (136) führe. Dies betreffe die staatliche Abwehr von Wirtschaftsspionage und die politische Spionage im Cyberraum, wodurch Gesellschaften verwundbar werden. In Chaträumen sei online inzwischen sogar das „Erlernen des militärischen Handwerks“ (143) möglich. Solche von Menschen kreierten virtuellen Räume seien mit demokratischen Mitteln nicht mehr beherrschbar. Gleichzeitig würden sich autoritäre Staaten erfolgreich bemühen, die Verbreitung von Ideen im Internet zu „reglementieren“ (145).

Masala konstatiert auch, dass es an einer globalen Ordnung fehle, „weil die Großmächte keine gemeinsame Idee von dieser Ordnung haben“ (150). Die Welt befinde sich demnach nicht in einer Übergangsphase zu einer erneut stabileren Weltordnung, denn die Natur von Macht selbst habe sich verändert. Der neue Nationalismus werde neue Spannungen zwischen den Gesellschaften erzeugen und im Falle Europas könne eine Desintegration beobachtet werden. Somit müsse sich die Politik von einer Verrechtlichung der internationalen Beziehungen „verabschieden“ (152). Es gelte vielmehr, die Bedingungen eines anarchischen internationalen Systems anzuerkennen, wonach sich Staaten auf keine höhere Autorität verlassen können, zumal der einseitige Bezug auf universelle Werte das internationale System destabilisiere. Dabei erkennt der von der realistischen Theorie geprägte Blick Masalas zwar die philosophische Ebene der universellen Werte in der Politik an, kommt aber in der Praxis zum Resultat, dass der Versuch ihrer Durchsetzung für Stabilität und Sicherheit „kontraproduktiv“ (153) sein kann. Denn Gerechtigkeit als Kategorie der internationalen Politik laufe immer Gefahr, lediglich partikularen Interessen zu dienen und sich somit schließlich als „Maske der Mächtigen“ (154) zu entpuppen.

Daher sollte realistische Politik konkurrierende Staaten durch Kooperation zu einer gemeinsamen Politik bewegen. Man könne Stabilität herstellen, wo eine (neo-)realistische Außenpolitik innerhalb von „Koalitionen der Willigen“ (155) verfolgt und umgesetzt werde. Insbesondere sollten nach Masala deutsche Interessen in den Vordergrund gerückt werden, was nicht bedeutet, dass man sich überall mit eigenen Mitteln engagieren müsse. Es sei wichtig, konstante Faktoren des nationalen Interesses unter Berücksichtigung der geopolitischen Lage der Bundesrepublik zu definieren, wie etwa essentielle Rohstoffe, die für die deutsche Industrie relevant seien. Die bundesdeutsche Politik solle selektiv handeln, denn es gäbe Konflikte, die die Bundesrepublik nicht beeinflussen könne. Man müsse sich hierzulande vom „Traum einer immer weiter fortschreitenden Verrechtlichung der internationalen Politik verabschieden“ (156) und sich „für das 21. Jahrhundert von der Fessel des selbstverordneten völkerrechtlichen Dogmas lösen“ (157). Hintergrund ist dabei auch, dass Masala davon ausgeht, dass beide Pfeiler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik – nämlich EU und NATO – „nachhaltig an Bedeutung verloren haben“ (158). Westliche Werte sollten durch Kooperation und Austausch verbreitet, aber der Welt nicht aufgezwungen werden. Hierzu gelte es, sich von den großen Strategien und den „liberalen Illusionen“ (172) zu verabschieden.

Masalas Sichtweise einer letztendlich von Nationalstaaten vertretenen Interessen- und Machtpolitik sollte in der öffentlichen Debatte mehr diskutiert werden. Immerhin fragt kein Geringerer als Yuval Noah Harari in seinem Werk ‚21 Lektionen für das 21. Jahrhundert‘: „Werden wir eine Welt schaffen, in der alle Menschen zusammenleben können, oder werden wir alle in die Finsternis marschieren? Retten Donald Trump […] Wladimir Putin […] und ihre Kollegen die Welt, indem sie unsere nationalistischen Gefühle anfachen, oder ist die gegenwärtige nationalistische Welle eine Form von Eskapismus angesichts der schier unlösbaren globalen Probleme, vor denen wir stehen?“ (160, 161).

 

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Externe Veröffentlichungen

Chris Patten / 07.08.2023

IPG-Journal

Mark Leonard / 06.07.2023

Friedrich-Ebert-Stiftung

Kersten Knipp / 04.07.2021

Deutsche Welle

Peter Rudolf

Journal für politische Bildung