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Rezension / 23.08.2023

Christoph Heusgen: Führung und Verantwortung. Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt

München, Siedler Verlag 2023

Jakob Kullik hat das jüngst erschienene Buch von Christoph Heusgen für uns gelesen. Letzterer blickt darin auf die Außenpolitik Angela Merkels und zugleich auf die künftige Rolle Deutschlands innerhalb der internationalen Beziehungen. Er skizziere damit verbundene Herausforderungen und betone stets die Notwendigkeit der Bewährung des Völkerrechts. All dies eruiere der Diplomat sowie ehemalige außen- und sicherheitspolitischer Berater der Altkanzlerin in zehn Kapiteln über die für Deutschland bedeutendsten Staaten und Regionen – ein eher „zahmes Buch“, bilanziert unser Rezensent.

Mit dem Ende der Kanzlerschaft von Angela Merkel setzte automatisch die Aufarbeitung ihrer Außenpolitik ein. Seit dem 24. Februar 2022 steht diese nicht mehr unter einem guten Stern. In vielen Politikfeldern hat sich das Bild der Kanzlerin beträchtlich eingetrübt. Der Ukraine-Krieg und die neue globale Lage gelten vielen als der Realitätstest für 15 Jahre zurückliegende Kanzlerinnenschaft. Doch es wäre verfrüht und historisch-analytisch verfehlt, das gesamte außenpolitische Erbe nach nur einem Jahr abzuräumen und auf dieses singuläre Ereignis hin zu verengen. Viele Hintergründe sind noch nicht ausreichend beleuchtet. Die Akten im Bundeskanzleramt und Auswärtigen Amt warten noch auf gründliche Auswertung. Einen ersten Schritt zu einer umfassenden Aufarbeitung der Merkel-Jahre hat nun ihr einstiger außen- und sicherheitspolitischer Berater, Christoph Heusgen, getan. Er hat dieses Jahr ein Buch mit dem Titel „Führung und Verantwortung. Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt“ vorgelegt. Der Obertitel „Führung und Verantwortung“ macht stutzig. Denn während Verantwortung mindestens seit 2014 (weitgehend folgenlos) wie ein Mantra in beinahe jeder Politiker*innenrede mit auswärtigem Bezug eingefordert wurde, war von deutscher Führung nie etwas zu sehen gewesen. Oder etwa doch? Führte die Kanzlerin nur anders und keiner bemerkte es? Ein bisschen selbstverräterisch ist der Autor selbst, wenn er im letzten Satz der Einleitung schreibt: „Mein Buch zeigt auf, wie die von den Bundespräsidenten Gauck und Steinmeier jeweils auf der Münchner Sicherheitskonferenz eingeforderte Übernahme von mehr Führung und Verantwortung in die Tat umgesetzt werden kann“ (9) – Man beachte den Wortlaut: umgesetzt werden kann, nicht umgesetzt wurde. Also hier bereits der erste Hinweis, dass die deutsche Führungsrolle noch unterentwickelt und vakant ist. Selbstredend, dass vom ehemaligen Berater der Kanzlerin keine schonungslose und umfassende Bewertung der Ereignisse zu erwarten ist. Die sozusagen natürlichen Stärken des Buches sind die Nähe zur Macht (der Kanzlerin und ihrem engsten Kreis) und die Authentizität (die unverfälschten Begegnungen mit Staats- und Regierungschefs sowie deren Berater*innen). Die Kehrseite ist eine gewisse Geneigtheit bei der Darstellung und Bewertung (Bias). Aber das lässt sich bei Büchern dieser Art nicht vermeiden.

Die zehn Kapitel behandeln die für Deutschland wichtigsten Staaten und Regionen. Die Überschriften klingen meist geschliffen diplomatisch: „Frankreich, unser wichtigster Partner in Europa“ (Kapitel 2), „Die Europäische Union‚ … zu unserem Glück vereint‘“ (Kapitel 3), „Die USA, unser wichtigster Verbündeter – auch in Zukunft?“ (Kapitel 7). Leser*innen erfahren viel über die politischen Prioritäten Berlins. Paris, Brüssel, Washington – meist auch in dieser Reihenfolge – waren und sind die außen- und sicherheitspolitischen Fixpunkte im Kanzleramt. Die Darstellung der Beziehungen und Probleme erfolgt meist chronologisch und zurückhaltend-abwägend. Wie sollte es bei einem Spitzendiplomaten auch anders sein! Wer diesen Stil mag, wird seine Freude an der Lektüre und den persönlichen Anekdoten haben. Das Hauptproblem ist, dass man vor lauter vornehmer Zurückhaltung kaum Kritisches und Neues erfährt. Bis auf einige persönliche Beobachtungen des Autors zum Verhalten der Kanzlerin – so etwa, dass ihre Französischkenntnisse „auch am Ende ihrer Amtszeit immer noch minimal waren“ (25). Wäre es nicht so ernst, wäre die Szene bühnenreif, in der Merkel versuchte, Präsident Trump Russlands Politik in der Ukraine zu erklären,: „Da Angela Merkel sich vorgenommen hatte, das Thema Russland, das sie in dem missglückten Telefonat mit Trump zum Thema Ukraine bereits angesprochen hatte, erneut mit dem Präsidenten zu erörtern, zog sie eine vorbereitete Weltkarte hervor, auf der die frühere Ausdehnung der Sowjetunion und deren weltweite Aktivitäten eingezeichnet waren. Darüber war eine Folie mit Putins ‚Engagement‘ gelegt. Die Karte zeigte frappierende Überlappungen, und Trump studierte sie. Nach einigen Momenten deutete er sichtbar stolz mit dem Finger auf eine Stelle: Er habe Slowenien gefunden, das Heimatland seiner Frau. Das war’s zu diesem Thema“ (161-162).

Die Stärken des Buches liegen in jenen raren Schlüsselpassagen, in denen größere Entscheidungen und Beziehungen mit wenigen Sätzen sprichwörtlich abgeräumt werden. So heißt es zur deutschen Russland- und Energiepolitik: „Klar ist aber im Rückblick, dass die von Politik und Wirtschaft getragene Entscheidung, die Energieversorgung Deutschlands immer mehr in russische Hände zu geben, falsch war“ (196). Mit dieser Einsicht ist Heusgen schon weiter als Merkel derzeit. Besorgniserregend ist seine Bilanz zum chinesischen Engagement in Afrika: „Insbesondere ist uns kein Mittel eingefallen, wie wir den chinesischen Vormarsch abbremsen und Alternativen bieten könnten. Es scheint, als resignierten wir vor der geballten Kraft der chinesischen Belt and Road Initiative, die mit massivem Einsatz von Mitteln große Infrastrukturprojekte mit hoher Geschwindigkeit umsetzt. […] Der chinesische Wettbewerbsvorteil darf aber nicht zu einer Vogel-Strauß-Politik bei uns führen“ (226). Keine gute Bilanz, die zudem an den ordnungspolitischen wie strategischen Grundfesten der Außenwirtschaftspolitik der regelaffinen Bundesrepublik rüttelt.

Dünn wird es bei den wenigen Reformvorschlägen und Handlungsempfehlungen im Buch. Ein „zusammengeführtes, effizienteres Ministerium“ (227) (Auswärtiges Amt und Bundesentwicklungsministerium) „wird es alleine nicht mit der chinesischen Schlagkraft aufnehmen können“ (ebenda). Schade, dass der eigene Vorschlag gleich wieder kassiert wird. Insgesamt bleibt es bei Altbewährtem und oft Gehörtem: „Aber – und das ist meine Schlussfolgerung – wir dürfen diesen Kampf um die Respektierung der durch die Vereinten Nationen vorgegebenen Grundregeln nicht aufgeben. […] Und dazu gehört, dass weltweit, auf allen Kontinenten der Kampf um die Geltung des internationalen Rechts aufgenommen und der chinesische Vormarsch gestoppt wird“ (217, 218). Diese Bilanz nach so vielen Jahren als Spitzendiplomat und Kanzler*innenberater mag auf einer grundlegend-konzeptionellen Ebene überzeugen; in der politisch-operativen Umsetzung jedoch nicht. Wie soll denn nun das chinesische Engagement in Afrika gestoppt werden, wenn die deutsche Antwort lediglich in der Einhaltung internationaler Regeln besteht? Diese Lücke zwischen hehrem Anspruch und praktischer Umsetzung bleibt leider bestehen. Das ist schade, denn alternative strategische Konzepte fehlen bis heute in der deutschen Debatte um die Ausgestaltung der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik des Landes wie auch Europas.

Christoph Heusgen hat ein zahmes Buch über seine Zeit an der Seite Angela Merkels und die künftige Rolle Deutschlands verfasst. Außenpolitisch kenntnisreiche Leser*innen werden nur wenig Neues erfahren. Der abwägende Stil ist berufsbedingt von Vor- wie Nachteil. Er ist von Vorteil, wenn man nüchtern Heusgens Sicht auf die Dinge erfahren will. Nachteilhaft ist er, weil das Analyseniveau konstant auf Ausgleich bedacht ist, was aber im Grunde nicht sein kann. Schließlich sind manche politische Entscheidungen und Weichenstellungen aus heutiger Sicht kritischer zu bewerten als andere. Gerade deshalb bedarf es weitere tiefergehende Analysen zur Merkel’schen Außenpolitik und deren Folgen. Zwar bietet Heusgens Buch außenpolitische Orientierung und profundes Wissen. Die künftige Rolle Deutschlands wird jedoch bestenfalls schemenhaft skizziert. Historiker*innen werden an dem Buch Gefallen finden, Politikberater*innen, die nach innovativen Handlungsempfehlungen suchen, eher nicht.

 

CC-BY-NC-SA
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russlands angriffskrieg auf die ukraine

In diesem Open Access-Sammelband blicken renommierte Expert*innen aus der Sicherheitspolitik auf die Ursachen, Entwicklungen und bisher absehbaren Folgen des russischen Angriffskriegs. Dabei liegt ein Augenmerk auf der Aufarbeitung von Deutschlands Russlandpolitik seit 1990.

Institut für Sicherheitspolitik an der Uni Kiel

 

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