Skip to main content
Rezension / 24.09.2025

Tim Henning: Wissenschaftsfreiheit und Moral

Berlin, Suhrkamp 2024

Bedroht übertriebener Moralismus die Wissenschaftsfreiheit – oder gibt es legitime moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen? Tim Henning widmet sich diesem brisanten Thema und unterscheidet zwischen unzulässigen „moralistischen Fehlschlüssen“ und berechtigter Kritik, wenn Forschung epistemisch mangelhaft ist und potenziell großen Schaden anrichten kann – etwa bei den Themen Genetik und Rassismus. Janika Spannagel lobt, dass das Buch eine teils hochemotionale Debatte wissenschaftsphilosophisch versachlichen könnte, kritisiert jedoch, dass das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft sowie die praktischen Konsequenzen zu kurz kommen.

Eine Rezension von Janika Spannagel

Dass die Wissenschaftsfreiheit bedroht ist, darüber sind sich viele einig. Aber wovon und durch wen eigentlich? Darüber herrscht weniger Einigkeit. Tim Henning, Professor für Praktische Philosophie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, nimmt sich in seinem Buch „Wissenschaftsfreiheit und Moral“ ein besonders umstrittenes Feld vor. Er schaut genau dorthin, wo es weh tut, nämlich dort, wo wissenschaftliche Thesen verbreiteten Moralvorstellungen (manche würden sagen: der „Political Correctness“) zuwiderlaufen. Konkret: Kann und muss die Wissenschaftsfreiheit dafür herhalten, rassistisch oder transphob anmutende Forschung zu schützen? Oder anders gefragt: Greift es illegitim in die Freiheit der Wissenschaft ein, solche Forschung moralisch zu kritisieren oder gar zu unterbinden? Das Buch will „diese Debatte verstehen und aufklären“ (83) und letztlich auch konkrete Antworten liefern. Kann das gelingen?

Vorab: Aus politikwissenschaftlicher Sicht kann ich dem Buch sehr viel abgewinnen und die enthaltenen Argumente können hohe gesellschaftliche Bedeutung für sich beanspruchen. Gleichzeitig gelingt die Gratwanderung zwischen philosophischen Ausführungen und der Ansprache an ein breiteres Publikum nicht immer. Das fängt bei fachspezifischen Begrifflichkeiten an und geht bis hin zur Anwendung formaler Logik, die für eine ernsthafte philosophische Abhandlung vielleicht unabkömmlich, aber für fachfremde Leser*innen eher hinderlich sind. Dennoch fühlt man sich nicht gänzlich verloren, wenn zwischendurch doch wieder auf das anschauliche Beispiel einer (möglicherweise) erdnusshaltigen Sauce rekurriert wird. Trotz verschiedener Illustrationen dieser Art bewegt der Autor sich mit großer Ernsthaftigkeit und Reflektiertheit auch in schwierigen moralischen Fahrwassern. Er gibt angemessene und hilfreiche Einordnungen der behandelten wissenschaftlichen Thesen, die spannend ausgewählt und gut recherchiert sind.

Legitime und illegitime moralische Kritik

Im Kern vertritt der Autor die Ansicht, dass moralische Kritik an wissenschaftlichen Thesen und Erkenntnissen in vielen Fällen verfehlt und unzulässig, in bestimmten Fällen aber berechtigt und legitim ist. Um diese Fälle auseinanderzuhalten, unterscheidet Henning primär zwischen logischen und epistemischen Konflikten von Wissenschaft und Moral.[1] Ein logischer Konflikt liegt demnach dann vor, wenn man eine wissenschaftliche These deshalb ablehnt, weil sie gegen die eigenen Moralvorstellungen verstößt – dies bezeichnet der Autor dann als „moralistischen Fehlschluss“ (41) und lehnt entsprechende Kritik an Wissenschaft als illegitim und mit Wissenschaftsfreiheit unvereinbar ab. Ein solcher Fehlschluss, so Henning, gibt sich häufig daran zu erkennen, dass „der moralische Widerstand“ gegen eine These „zu der spontanen Reaktion führt, diese These zu negieren“ (67).

Ein epistemischer Konflikt hingegen hat mit den hypothetischen „Irrtumskosten“ (144) zu tun, die entstehen können, wenn sich eine wissenschaftliche These als falsch erweisen sollte, man aber nach ihr gehandelt hat. Dieser Ansatz, den beispielsweise auch die Wissenschaftsphilosophin Heather Douglas vertritt,[2] geht davon aus, dass innerhalb der Wissenschaft selbst epistemische Normen dafür existieren, wie stark eine These gerechtfertigt sein muss, damit sie (zumindest temporär) als belegt gilt. Henning argumentiert, dass diese epistemischen Normen mitunter auch eine moralische Komponente haben: Denn die notwendige Stärke der Belege sollte davon abhängen, wie hoch die Kosten bei einem Irrtum und wie hoch der Nutzen bei Korrektheit ausfallen (148). Kurzum: je schwerwiegender die (sozialen) Implikationen einer These, desto höher die Anforderung an ihren Rechtfertigungsstandard.

Ein epistemisch-moralischer Konflikt liegt also vor, wenn eine These nach diesem Standard nicht hinreichend belegt ist. Wird sie trotzdem vertreten, spricht Henning von „moralischer Fahrlässigkeit“ (182). Ein wesentlicher Punkt in der moralischen Kritik – die laut dem Autor hier zulässig ist, gerade weil sie sich an wissenschaftsimmanenten Kriterien orientiert – besteht darin, dass sie in der Zurückweisung einer These nicht das Gegenteil beweisen muss, sondern schlicht eine Enthaltung in der Sache empfehlen kann (218).

Angewendet auf reale Fälle

Die vorgenommene Differenzierung ist einleuchtend und geeignet, eine teils hochemotional geführte Debatte ein Stück weit zu versachlichen. Die von Henning angebotene Systematik hilft, das Dickicht an Vorwürfen und Repliken zu lichten und sowohl Kritiker*innen auszumachen, die einem moralistischen Fehlschluss unterliegen, als auch Wissenschaftler*innen zu problematisieren, die im Beharren auf ihren Thesen moralisch fahrlässig handeln. Dies schlüsselt er in überzeugender Weise anhand dreier hochkontroverser Beispiele auf: die Thesen des Politologen Charles Murray und seiner Koautoren, die einen genetisch bedingten systematischen Unterschied im IQ zwischen weißen und schwarzen Menschen festgestellt haben wollen (ähnlich im deutschen Kontext: Thilo Sarrazin); die Thesen der Philosophin Kathleen Stock und anderen, wonach der Begriff der Frau allein auf biologisch weibliche Erwachsene zutreffe; und die Thesen des Moralphilosophen Peter Singer, wonach für Neugeborene mit schweren Behinderungen kein absolutes Tötungsverbot gelten müsse.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, Hennings überaus interessante Diskussion und Bewertung dieser Thesen wiederzugeben – dafür sei auf die Seiten 201–282 verwiesen. Kurzum: In jedem der drei Fälle sieht der Autor eine epistemisch-moralische Kritik als legitimiert an; im ersten Fall hält er außerdem ein No Platforming[3] für gerechtfertigt, weil Belege für die These so weit von den fachlichen Standards abfallen würden, dass sie sowohl epistemisch als auch moralisch nicht tragbar sei (281). Hier verweist der Autor richtigerweise auch auf den ganz wesentlichen Unterschied zwischen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit (274-280), wobei sich letztere explizit an Qualitätskriterien und nicht am absolut uneingeschränkten Diskurs orientiert. Dies ist – nebenbei bemerkt – allerdings auch eine Unterscheidung, die in den USA weitaus kontroverser ist als hierzulande, was die dortige Debatte entsprechend verkompliziert.

So viel zu dem, was das Buch erörtert. Nun ein Ausblick auf zwei wesentliche Punkte, die meiner Ansicht nach – auch bei dem legitimerweise eng umgrenzten Untersuchungsgegenstand – zu kurz kommen. Der erste betrifft eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Beziehung Wissenschaft und Gesellschaft eigentlich zueinander stehen. Der zweite betrifft die Diskussion der praktischen Implikationen aus Hennings Überlegungen, die im Verhältnis sehr knapp ausfällt und der Realität kaum gerecht wird.

Das Hoheitsgebiet der Wissenschaft

Im Grunde geht es im Buch um die Frage, wie stark Wissenschaft und Gesellschaft voneinander getrennt bleiben müssen, beziehungsweise welche Forderungen aus der Öffentlichkeit an die Wissenschaft gestellt werden dürfen. Und dennoch wird genau diese Frage in ihrem größeren Zusammenhang nicht weiter beleuchtet. Am Ende bleibt offen, für wen Wissenschaft eigentlich gemacht wird und warum wir überhaupt davon ausgehen sollten, dass Wissenschaftler*innen an das Gemeinwohl gebunden sind (und Irrtumskosten entsprechend berücksichtigen sollten). Man könnte an dieser Stelle natürlich argumentieren, dass sich diese Annahme aus der öffentlichen Finanzierung der Forschung ergibt. Doch was ist mit privat finanzierter Wissenschaft? Man könnte auf einen humanistischen Wissenschaftsethos verweisen, der (wenn auch viel zu spät) entwürdigenden Experimenten an Menschen Einhalt geboten hat. Mein Punkt ist: Diese Diskussion wird im Buch nicht geführt, wodurch eine sichtliche Leerstelle entsteht.

Am nächsten kommt das Buch diesen Fragen in seiner Erörterung der Begründung von Wissenschaftsfreiheit. Doch Henning zieht sich nach Betrachtung verschiedener Alternativen auf das zurück, was er eine „rationalistische“ Begründung (92) der Wissenschaftsfreiheit nennt: Ohne Freiheit gibt es gar keine richtige Wissenschaft. Das mag aus wissenschaftsphilosophischer Sicht aufgehen, doch fragt man sich, was für Forschung dann wohl in autoritären Staaten betrieben wird, die Wissenschaft tagtäglich lenken und zensieren. Das Problem an dieser rationalistischen Definition ist in meinen Augen, dass sie Eingriffe in die Freiheit zu schmal betrachtet: Häufig geht es dabei aber – empirisch betrachtet – gar nicht primär um einen „Pfusch“ durch externe Eingriffe in den Denkprozess, sondern um externe Entscheidungen darüber, welche Wissenschaftsbereiche überhaupt finanziert werden und welche nicht, oder welche Ergebnisse in welcher Form publiziert werden dürfen und welche nicht. Das trifft übrigens auch auf die Moralkritik zu: Gerade die Frage des No Platforming, der Henning sich am Ende widmet, ist ja kein Eingriff in den Denkprozess per se, sondern eine Frage dessen, welche Thesen eine Bühne bekommen (sollen) und welche nicht.

Daher scheint mir das, was Henning als „politische Begründung“ für Wissenschaftsfreiheit bezeichnet, mitunter entscheidender, nämlich „dass eine freie Wissenschaft notwendige Bedingung für die Legitimität demokratischer Entscheidungen ist“ (88). Dass dies mit einer voraussetzungsvollen Vorstellung von Demokratie – und überhaupt mit Demokratie – in Verbindung steht, wie der Autor bemängelt (88 f.), ist richtig. Aber das trifft auch auf Hennings Verständnis der öffentlichen Sphäre zu, als eine, in der wissenschaftliche Thesen nicht nur frei diskutiert werden können, sondern wo diese gar ausschließlich an den der Wissenschaft eigenen Maßstäben gemessen werden (21 f.). Statt die Wissenschaft als einen von der Gesellschaft abgekapselten Bereich zu verstehen, erlaubt ein solches politisches Verständnis zumindest, die komplexen Wechselwirkungen – und das enorme gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis – zwischen Wissenschaft und Gesellschaft gezielter in den Blick zu nehmen.

Die Wissenschaftsphilosophin Heather Douglas rückt diese Frage in ihrer Kritik des Ideals der „Wertfreiheit“ von Wissenschaft sehr viel stärker in das Zentrum ihrer Überlegungen.[4] Dabei muss fairerweise berücksichtigt werden, dass sie auch diejenigen moralischen Dilemmata einbezieht, die Henning explizit aus seiner Betrachtung ausschließt: ethische Regeln für wissenschaftliche Verfahren sowie schädliche Auswirkungen technologischer Entwicklungen (Stichwort Atombombe). Sie kommt dort mit dem Ansatz der „Irrtumskosten“ schließlich an einen Punkt, an dem sie eine stärkere zivilgesellschaftliche Beteiligung an Entscheidungen im wissenschaftlichen Prozess fordert.[5] Dies sind überaus spannende Überlegungen, die zum Teil weitreichende Implikationen für unser Verständnis von Wissenschaftsfreiheit haben könnten. Jedenfalls tritt bei Douglas der größere Zusammenhang, was Wissenschaft eigentlich für wen leisten soll, nach welchen Regeln sie spielen soll und wer darüber entscheidet, deutlich klarer hervor.

Ich insistiere gerade auch deshalb auf diesen Punkt, weil sich in den USA beobachten lässt, dass die rechtspopulistischen Strömungen, die in den vergangenen Jahren immer rabiater gegen wissenschaftliche Forschung und Lehre vorgehen, sich diese Fragestellungen zu eigen machen: So argumentiert der rechtskonservative Journalist Christopher Rufo, dass die Wissenschaft ihre Seite der „Abmachung“ mit der Gesellschaft nicht erfüllt habe und die Bevölkerung nun ein Recht habe, durchzugreifen und von außen Veränderungen vorzunehmen.[6] Dieser Vertragsbruch wird mitunter daran festgemacht, dass Genderforschung oder critical race theory den Moralvorstellungen der breiten Bevölkerung angeblich zuwider liefen. Laut Henning wäre dies zwar ein „moralistischer Fehlschluss“, der bei Rufo aber ganz offen demokratische Legitimität für sich beansprucht. Indem das Buch diese übergeordneten politischen Fragen ausklammert, bleibt es uns daher auch entscheidende Antworten schuldig.

Realitätscheck der praktischen Schlussfolgerungen

Meine zweite Kritik bezieht sich auf die praktischen Schlussfolgerungen, die der Autor aus seinen Überlegungen zieht. Auch wenn diese in Bezug auf die gewählten Beispiele sehr konkret werden, finde ich sie doch unbefriedigend. Wie der Autor selbst einräumt, werden die meisten Fälle sich eher in einer Grauzone befinden, als dass Thesen mit moralisch problematischen Implikationen sich aus wissenschaftlichen Gesichtspunkten immer klar zurückweisen lassen. Die möglichen Konsequenzen und damit die Irrtumskosten von wissenschaftlichen Statements lassen sich schlicht nicht immer absehen, was eine klare epistemisch-moralische Bewertung erschwert. Und selbst wenn diese möglich sein sollte, setzt eine moralisch legitime Kritik immer voraus, dass bereits eine detaillierte fachliche Auseinandersetzung mit den Thesen stattgefunden hat, auf die man sich berufen kann. Die praktische Schlussfolgerung lautet also: Das muss die Wissenschaft erstmal unter sich ausmachen. Ob sie dazu in der Lage ist, gerade unter Zeitdruck und stark polarisierten öffentlichen Debatten, ist eine andere Frage.

Ein weiterer kritischer Punkt wird an dem Einwurf deutlich, dass ein legitimes No Platforming (wie im Fall der diskreditierten Thesen von Charles Murray) es aber eben „nicht zulässt, Personen insgesamt zu ‚canceln‘“ (281), sondern diese zu anderen wissenschaftlichen Themen durchaus weiter eingeladen werden sollten. „Nur dort, wo es um die [diskreditierte] These […] geht und begründet zu erwarten ist, dass er seine wissenschaftlich ungenügenden Thesen wiederholt, ist eine Exklusion vom Diskurs legitim“ (ebd.). Das mag theoretisch begründet sein – möglicherweise arbeitet er ja zu den anderen Themen „qualitativ einwandfrei“ (ebd.) –, aber es erscheint mir in zwei Hinsichten problematisch. Erstens lässt es die gesellschaftliche Realität außer Acht und erklärt nicht, wie sichergestellt werden soll, dass jemand seine diskreditierten Thesen nicht wiederholt: etwa durch Äußerungsverbote? Das scheint mir geeigneter, genau das Gegenteil zu provozieren.

Zweitens lässt Hennings Buch damit gänzlich die Frage außen vor, ob und welche Konsequenzen „moralisch fahrlässiges“ Verhalten eigentlich innerhalb der Wissenschaft haben sollte. Gerade wenn das entsprechende Verhalten auch „Grenzen der Wissenschaftlichkeit“ (ebd.) grob übertritt, scheint es schwer zu vermitteln, dass darüber letztlich – zugespitzt ausgedrückt – nur peinliches Schweigen herrscht und ansonsten verfahren wird, als wäre nichts geschehen. Dass man auch als Wissenschaftler*in Fehler begehen kann und dafür nicht übermäßig sanktioniert werden sollte, steht außer Frage. Aber wenn entgegen jeden fachlichen Einspruchs Thesen provokativ und öffentlichkeitswirksam vertreten werden, verletzt das die professionelle Verantwortung in einer Weise, auf die auch das Wissenschaftssystem eine klare Antwort finden muss.


Anmerkungen:

[1]     Eine weitere Unterscheidung wird zwischen kausalen und symbolischen Konflikten getroffen, die aber nicht weiter vertieft werden, weil ihr Auftreten stark kontextabhängig ist (33-35).

[2]     Douglas, Heather (2009): Science, Policy, and the Value-Free Ideal, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press.

[3]     Damit ist in der Regel gemeint, dass einer Person kein Forum geboten wird, indem diese beispielsweise zu öffentlichen Veranstaltungen nicht eingeladen (oder manchmal auf Druck auch ausgeladen) wird.

[4]     Ebd.

[5]     Ebd., 156-174.

[6]     Stanford Classical Liberalism Initiative (2023): Stanford Classical Liberalism - Keith Whittington and Christopher Rufo - 5 3 23, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=xLHrony2mns (letzter Zugriff: 13.09.2025).



DOI: 10.36206/REZ25.43
CC-BY-NC-SA