Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer
Der Artikel analysiert die Ursachen für den weitgehend erfolgreichen Widerstand der Ukrainer gegen die russische Aggression. Ein wesentlicher Grund für den Erfolg ist die umfassende Mitwirkung der Bevölkerung am bewaffneten Widerstand gegen die russische Invasion. Wichtig ist auch die Tatsache, dass die Ukraine eine sehr moderne datenbasierte Kampfführung betreibt, bei der Daten aus unterschiedlichen Quellen bezogen und verarbeitet werden, um diese zur Bekämpfung des russischen Militärs einzusetzen. Die ukrainischen Streitkräfte arbeiten zudem oft als dezentralisierte Netzwerke mit viel Führungsverantwortung auf unteren und mittleren Ebenen. Dies hat sich als enormer Vorteil erwiesen. In der Kriegführung hat es sich als sinnvoll herausgestellt, Angriffe auf Logistik, Führungseinrichtungen und Kommunikation des Gegners zu konzentrieren. Eine zentrale Rolle kommt im Ukraine-Krieg Drohnen zu, die massenweise im Einsatz sind. Beachtlich ist auch, dass die Ukrainer große Erfolge mit kleinsten Einheiten im Jagdkampf erzielen konnten. Zudem findet eine Renaissance der Artillerie statt, aber in erweiterter, fortgeschrittener Form. Ein weiterer Baustein des Erfolgs der Ukraine ist die komplexe und redundant strukturierte Logistik vor allem auf Schienen, die stabil auch unter Kriegsbedingungen funktioniert. Die Ukraine hat zudem ein hohes Maß an operativer Sicherheit herstellen können, welches wiederum die Voraussetzung für erfolgreiche Täuschungsoperationen war. Nicht zuletzt bietet die Ukraine ein exzellentes Beispiel dafür, wie man mit den richtigen Methoden.
Einleitung
Die Selbstverteidigung der Ukraine enthüllt eine unbestreitbare Wahrheit: Die russische Aggression ist besiegbar. Dies ist auf die Beteiligung der gesamten ukrainischen Gesellschaft am Heimatschutz zurückzuführen, aber auch auf die ausgezeichneten militärischen Fähigkeiten und Führungsqualitäten der Streitkräfte der Ukraine, auf außergewöhnliche Tapferkeit und Kreativität sowie erstaunlichen Pragmatismus und Improvisationsvermögen. Wir alle in den Mitgliedstaaten der NATO, der EU und darüber hinaus können und sollten von der Ukraine für die zukünftigen Bündnis- und Landesverteidigung sowie den Zivilschutz lernen.
Dieser Artikel identifiziert aus der Beobachtung des Kriegsverlaufs und der Verteidigung der Ukrainer einige erste Lektionen für die Streitkräfte in den NATO-Staaten sowie für Politik und Gesellschaft. Er stellt keine umfassende oder abschließende Analyse des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine dar und enthält auch keine Analysen der russischen Fehler und Schwächen. All das wird bereits in anderen lesenswerten Papieren geleistet und ist in vielen weiteren Untersuchungen eingehend analysiert worden.[1]
Vielmehr zieht dieser Artikel Lehren aus der ukrainischen Selbstverteidigung ab Februar 2022 und schlägt mögliche Anwendungen für die Doktrin, die Strukturen und die Ausbildung der Streitkräfte der NATO-Mitgliedstaaten vor. Er gibt auch politische Handlungsempfehlungen, die sich aus den Erfahrungen der Ukraine ableiten. Die Ergebnisse basieren auf Open-Source-Intelligence (OSINT) und einer Reihe von 20 ausführlichen Interviews, die mit kampferfahrenen ukrainischen Kommandeuren und Soldaten geführt wurden. Ihre Identität wird anonym gehalten, da sie weiterhin aktiv in den Streitkräften der Ukraine an der Landesverteidigung teilnehmen. Dieser Bericht enthält keine Angaben zu operativen Informationen oder Informationen, die der Vertraulichkeit oder Geheimhaltung in der Ukraine oder in NATO-Ländern unterliegen.
Die Beobachtung des Kriegsverlauf und die Gespräche mit den ukrainischen Streitkräften zeigten zehn Bereiche auf, in denen die Ukrainer besonders innovativ, kreativ und ungewöhnlich Strategien und Taktiken anwenden, die mindestens in Teilen für uns in der NATO neu sind. Unter anderem durch diese zehn Bereiche gibt uns die Ukraine mögliche Antworten auf die Leitfrage dieses Artikels: Wie kann Russland besiegt werden? Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Die Ukraine bindet bei der totalen Verteidigung die gesamte Gesellschaft ein; (2) der Kampf der Ukraine ist in innovativer Weise datenbasiert; (3) die ukrainischen Streitkräfte arbeiten oft als dezentralisierte Netzwerke mit viel Führungsverantwortung auf unteren und mittleren Ebenen; (4) der konsequente Fokus der Angriffe auf Logistik, Führung- und Kommunikation formt das Kampfgeschehen; (5) Drohnen werden ubiquitär und massenweise für enorm viele Einsatzzwecke eingesetzt; (6) Erfolge werden mit kleinsten Einheiten im Jagdkampf erzielt; (7) wir erleben eine Renaissance der Artillerie, aber in erweiterter, fortgeschrittener Form; (8) komplexe Logistik, vor allem auf Schienen, bildet das stabile Rückgrat der Kriegführung; (9) die Ukraine wahrt ein hohes Maß an operativer Sicherheit, wobei neben strenger Geheimhaltung auch erfolgreiche Täuschung einen entscheidenden Unterschied zu Russland ausmachen; und (10) mit den richtigen Narrativen gewinnt die Ukraine den strategischen Informationskrieg. In jeder dieser zehn Dimensionen geht dieser Artikel zwei einfachen Fragen nach: Was machen die Ukrainerinnen und Ukrainer besonders gut? Was können wir in der NATO, in der EU und darüber hinaus von ihnen lernen?
1 Vgl. Bateman 2022, Bronk/Reynolds/Watling 2022, Fox 2022, Frederick/Charap/Mueller 2022, Kofman/Connolly/Edmonds/Kendall-Taylor/Bendett 2022, Zabrodskyi/Watling/Danylyuk/Reynolds 2022; sowie Alberque/Barrie/Gwadera/Wright 2023, Crombe/Nagl 2023, De Vore 2023, Jones 2023, Jones/McCabe/Palme 2023, Kreps/Lushenko 2023; Kukkola 2023, McInnes 2023, Metrick 2023, Rehman 2023, Reisner/Hahn 2023, Reisner 2023, Ti/Kinsey 2023, Watling/Danylyuk/Reynolds 2023, Watling/Reynolds 2023.
Wie man Russland schlagen kann – Lektionen aus dem Verteidigungskrieg der Ukrainer
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen
Band 8 Heft. 1-2024, Seiten 16-38, https://doi.org/10.1515/sirius-2024-1003
Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte am 5. März 2024.
Die Zeitschrift SIRIUS wird herausgegeben durch die Stiftung Wissenschaft und Demokratie (SW&D), ebenso ermöglicht die Stiftung ab dem Jahrgang 2022 die digitale Veröffentlichung aller Artikel in Open Access unter der Lizenz CCBY NC ND. Die SW&D ist eine wissenschaftsfördernde Stiftung, die sich in ihrer operativen Tätigkeit als Herausgeberin von SIRIUS und mit ihrem OnlinePortal für Politikwissenschaft insbesondere um die Kommunikation politikwissenschaftlicher Forschungsergebnisse bemüht. Darüber hinaus unterhält sie eine eigene Forschungseinrichtung, das Institut für Parlamentarismusforschung in Berlin, und fördert das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.
Außen- und Sicherheitspolitik
Externe Veröffentlichungen
SIRIUS: Kurzanalyse / Sebastian Bruns/Heinz-Dieter Jopp / 05.03.2024
Die nasse Flanke des Russland-Ukraine-Kriegs – Lektionen für die moderne Seekriegsführung und die Marine
Das Geschehen im Ukraine-Krieg umfasst auch wichtige maritime Aspekte, die medial weniger Aufmerksamkeit erfahren. Der Beitrag untersucht die Bedeutung dieser maritimen Elemente für den Verlauf des Krieges und zieht Lehren für die moderne Seekriegsführung und die Marine, insbesondere in Bezug auf die maritimen Strategien Russlands und die daraus resultierenden Herausforderungen für die NATO und die EU.
SIRIUS: Kurzanalyse / Juliana Süß / 05.03.2024
Weltraumkapazitäten im Ukraine Krieg
Die Kurzanalyse untersucht die Rolle des Weltraums im Ukraine-Krieg, darunter insbesondere die Kapazitäten und Herausforderungen auf Seiten Russlands sowie die Nutzung von Satellitendiensten durch die Ukraine. Trotz begrenzter Weltraumressourcen spielen Satellitendienste eine entscheidende Rolle in der Kommunikation und Überwachung für militärische und zivile Operationen, so ein Fazit der Analyse.
SIRIUS: Kurzanalyse / Joachim Krause / 05.03.2024
Konnte man den Krieg Russlands gegen die Ukraine vorhersehen?
Die Kurzanalyse stellt fest, dass einige Teile der Sozialwissenschaften vor dem russischen Angriff auf die Ukraine gewarnt hatten. Es wird daher betont, dass die anwendungsorientierten Sozialwissenschaften eine wichtige Rolle bei der Vorhersage solcher Ereignisse spielen können und daher auch hierzulande die Ressource der Wissenschaft besser genutzt werden sollte, um politische Entscheidungsprozesse gegebenenfalls zu verbessern.