Craig Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar, Charles Taylor: Zerfallserscheinungen der Demokratie
Warum lässt sich in vielen etablierten Demokratien ein Zerfall demokratischer Strukturen beobachten? Die Studie von Craig Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar und Charles Taylor geht dieser Frage nach und nennt als zentrale Ursachen soziale Ungleichheit, den Rückgang bürgerschaftlicher Teilhabe und zunehmende Polarisierung. Rezensent Mirbach lobt die Studie als anregenden Beitrag zur Debatte und hebt besonders das von Taylor entwickelte Szenario der drei sich überlagernden Abwärtsspiralen hervor.
Eine Rezension von Thomas Mirbach
Gegen eine zu selbstverständliche Verwendung des Gemeinwohlbegriffs lassen sich mühelos Einwände formulieren, die teils auf dessen ideologischen Gebrauch, teils auf dessen Unbestimmtheit abstellen. Gleichwohl betont Claus Offe jüngst mit guten Gründen, dass „die in der Zivilgesellschaft verankerte und handlungsmotivierende Idee eines Gemeinwohls ein zunehmend bedeutsames funktionales Desiderat für die Politik kapitalistischer Demokratien“[1] sei.
Die im US-amerikanischen Original 2022 erschienene Studie von Craig Calhoun, Dilip Parameshwar Gaonkar und Charles Taylor „Zerfallserscheinungen der Demokratie“ kreist analytisch wie normativ um eine Ausarbeitung dieser Argumentation. In Kürze: Die zentralen Herausforderungen von Demokratien würden heute nicht ausschließlich, aber doch wesentlich aus der dramatischen Zunahme sozialer Ungleichheit sowie der Erosion gemeinschaftlicher Bindungen hervorgehen. Eine Erneuerung von Demokratie sei ohne Stärkung von Normen der Bürgertugend und der sozialen Voraussetzungen einer wirkmächtigen Bürgerschaft nicht zu denken. Für das Postulat republikanischer Selbstregierung seien einerseits die „expliziten oder impliziten Verpflichtungen […], die die Bürger wechselseitig eingehen“ (101) maßgeblich, andererseits müsse ein Verständnis von Gemeinwohl gelten, das sich jenseits partikularer Interessen am „Ideal für die Gesamtverfassung eines Volkes“ orientiere (105). Generell solle – so die Autoren – Demokratie als „’telisches’ Konzept“ verstanden werden, das nicht nur Bedingungen und Verpflichtungen bezeichnet, sondern sich durch Ziele definiert, die nie vollständig erfüllt werden (20). An Demokratie teilzuhaben, bedeute deshalb auch, „sich für mehr und bessere Demokratie einzusetzen“ (21).
Analytischer Fokus
Den Autoren ist sehr wohl bewusst, dass die Krise der Demokratie Thema einer kaum noch zu überschauenden Anzahl von Publikationen ist. In Abgrenzung zu diesen Debatten zeichne sich ihr Ansatz dadurch aus, dass er in besonderem Maße die „langfristigen Zerfallserscheinungen der Demokratie von innen heraus“ in den Blick nehme (10). Die Entscheidung für diesen Fokus ist mit einer relevanten konzeptionellen Weichenstellung verbunden. Erstens beziehen sich die Autoren auf Länder, die lange Zeit als starke Demokratien galten; ihre empirischen Erläuterungen beziehen sich in der Hauptsache auf die USA, fallweise ergänzt durch Illustrationen europäischer Beispiele (Großbritannien, Frankreich, Deutschland) sowie in einem Kapitel mit Bezug auf Indien. Analytisch konzentriert sich ihr Blick zweitens auf eine nationalstaatliche Perspektive. Es geht ihnen um interne Probleme von Demokratien: Zwar würden die „Fähigkeiten des Staates […] heute durch globale Zwänge herausgefordert, aber Staaten sind nach wie vor von zentraler Bedeutung für demokratische Projekte“ (11, Fn 1).
Hervorgegangen ist das Buch aus drei 2017 am Albert Hirschman Center on Democracy gehaltenen Vorträgen der Autoren. Ursprünglich sei ein „kürzerer, schnellerer und abstrakterer Band“ geplant gewesen (454), aber ihre internen Diskussionen und die gemeinsame Ausarbeitung der einzelnen Kapitel hätten dann zu einer deutlich umfangreicheren Publikation geführt, die in dieser Breite auch Züge einer Selbstverständigung aufweist, bei denen die Autoren – unter Beibehaltung ihrer unterschiedlichen Stimmen – vieles, aber nicht alles teilen (455). Dieser offene Entstehungsprozess – so lehrreich er auch für die Verfasser gewesen sein mag – hat seinen Preis. Die sieben, jeweils namentlich zugeordneten Kapitel (sowie Einleitung und Schluss) weisen zahlreiche Wiederholungen und Überschneidungen auf; eine entschiedenere Textredaktion hätte die zentrale These, spezifische interne Regressionen seien wesentlich für den Demokratiezerfall verantwortlich, kohärenter hervortreten lassen können.
Drei Abwärtsspiralen etablierter Demokratien
Das von Taylor verfasste erste Kapitel entwickelt den konzeptionellen Rahmen, auf den die folgenden Teile immer wieder Bezug nehmen. Er identifiziert drei Faktoren, die er wesentlich für den Niedergang der Demokratien seit etwa den 1970er Jahren verantwortlich macht. Der erste Degenerationspfad lasse sich an der schwindenden Wirkmacht der Bürgerschaft ablesen (42 ff.). Taylor verweist in diesem Zusammenhang auf eine Vielzahl von Phänomen, die wie in einer Abwärtsspirale die Abnahme gleichberechtigter Staatsbürgerschaft anzeigen. Um nur einige davon zu nennen: Niedergang von Wahlbeteiligung, steigende soziale Selektivität der Partizipation zu Lasten Einkommensschwächerer und Marginalisierter, Zerfall sozialdemokratischer Parteien und Fragmentierung von Themen, an denen sich Gruppensolidaritäten ausbilden können.
Was angesichts von Stimmengewinnen reaktionärer Politikangebote wie eine „’Verdummung’ der Wählerschaft“ erscheine – beispielsweise die Akzeptanz von Behauptungen, „eine Steuersenkung für Superreiche [führe] automatisch zu mehr Beschäftigung“ – sei Folge einer zunehmenden Undurchsichtigkeit des repräsentativen Systems (49). Diese politische Entfremdung erzeuge den Anschein, „als ob sich der Niedergang von selbst vollzieht“ (47) und beruhe auf einer systemisch zu nennenden Intransparenz (50 ff.). Zunehmende Ökonomisierung des Sozialen, eine Globalisierung, die sich ungesteuert von nationaler Politik durchsetzt und schließlich die von wenigen Konzernen dominierten Kommunikationsmedien sieht Taylor als relevante Treiber dieser Entwicklung.
Als zweiten Degenerationspfad bezeichnet Taylor die Zunahme von Ausgrenzungspraktiken, die sich in nahezu allen etablierten Demokratien beobachten ließen. Dahinter stehe die Verteidigung einer gesellschaftlichen Rangordnung, die, „entweder moralisch, ethnisch oder auf historische Vorrechte pochend“ (63), eine ausschließende Definition des demos verfolge. Diese Tendenzen sind mit einem breiten Spektrum von Phänomenen der Diskriminierung verbunden, bei denen sich vielfach rassistische Ausgrenzungen, ökonomisch motivierte Abstiegsängste und kulturelle Ressentiments in jeweils länderspezifischer Ausprägung überlagern.
Für die dritte Form der Degeneration stehen Tendenzen steigender gesellschaftlicher Polarisierung (71 ff.). Taylor macht dafür das Bestreben politischer Akteure verantwortlich, operative – auf Stimmenanteilen beruhende – Mehrheiten durch diverse manipulative Praktiken in hegemoniale Mehrheiten zu transformieren. Eklatante Beispiele aus dem amerikanischen Kontext betreffen Strategien der Partei der Republikaner, durch Wählerunterdrückung, Zuschnitt von Wahlkreisen (Gerrymandering) oder Politisierung des Obersten Gerichtshofes die eigene Mehrheit auf Dauer zu stellen und zugleich Minderheiten mindestens implizit zu delegitimieren. Entsprechungen auf europäischer Seite sieht Taylor in Victor Orbans Fidesz in Ungarn oder im französischen Ressemblement National (bei deutschen Beispielen ließe sich an den destruktiven, parteitaktischen Umgang mit formalen Verfahrensregeln seitens der AfD denken).
Kontexte und Abhängigkeiten von Demokratie
Calhoun betont, dass Demokratie, als telisches Konzept verstanden, immer von gesellschaftlichen Grundlagen abhänge und nur im Rahmen von spezifischen historischen Kontexten zu verstehen sei (78 f.). Diese generelle Prämisse eröffnet zweifellos einen sehr weiten Interpretationsspielraum. Das gilt auch für seine an Karl Polanyis[2] Deutung kapitalistischer Transformationsprozesse angelehnte Beschreibung von Demokratisierungsprozessen als historische „Doppelbewegungen“. Auf ökonomisch und technologisch bedingte Disruptionen, die gesellschaftliche Lebensformen dramatisch erschüttern, folgten vielfach und in der Regel mit großem zeitlichem Abstand reaktive Phasen institutioneller Reorganisation und Stabilisierung von Gesellschaften. Folgt man diesem Schema, dann erscheinen erstens die „trente glorieuses“[3] – also grob die Jahre 1945-1970 – als erfolgreiche Phase einer wohlfahrtsstaatlichen Reorganisation von Gesellschaft, in der „die Demokratie im Kompromiss mit dem Kapitalismus gedeihen konnte“ (144). Zweitens lassen sich die seit etwa Ende der 1970er Jahre durch Kapitalismus, Technologie und Größenwachstum ausgelösten Transformationen als Entwicklungen verstehen, „bei denen die Wiederherstellung der sozialen Einbettung [..] weit hinter den Disruptionen zurückgeblieben“ ist (128).
Die „trente glorieuses“ dienen den Autoren als Beispiel eines erfolgreichen demokratischen Lernens. In dieser Phase waren Solidarität und soziale Organisation „nicht nur Errungenschaften der Demokratie, sondern auch entscheidende Mittel, um sie zu erreichen“ (164). Politisch habe diese Ära gezeigt, dass sich die sozialen Grundlagen der Demokratie wiederherstellen ließen – selbst nach Weltwirtschaftskrise und Krieg (210). Aber die seinerzeit gefundenen institutionellen Lösungen könnten heute nicht einfach repliziert werden; auch deshalb nicht, weil die erreichten Fortschritte selbst gesellschaftsinterne Widersprüche reproduzierten (170 ff.). Dazu zählt Calhoun die Abhängigkeit des Wohlfahrtsstaats von bürokratischen Strukturen, die kaum Raum ließen für Dezentralisierung und gemeinschaftliches Engagement („der Weber’sche Haken“). Zugleich erfolgten staatliche Leistungen in einem Wissen und Macht verschmelzenden Disziplinarregime („der Foucault’sche Haken“). Schließlich trugen kulturelle Praktiken zur Verfestigung ererbter Ungleichheiten bei („der Bourdieu’sche Haken“). Der Neoliberalismus habe alle drei Restriktionen fortgeschrieben und verstärkt (178 ff.).
Ein weiterer Treiber disruptiver Transformationen beruht Calhoun zufolge auf „Maßstabsvergrößerungen“ – Bevölkerungswachstum, Ausdifferenzierungen von Kommunikationsformen, steigende Mobilität – die entbettend wirken, weil sie durch soziale Isolation, Individualismus und Konsumismus die Wirksamkeit bürgerlicher Tugend belasten. Deshalb komme in republikanischer Perspektive einer funktionsfähigen Öffentlichkeit, die als Forum vernünftiger Diskussion politische Teilhabe und gemeinsame Verständigung über alle betreffenden Themen ermöglichen soll, eine zentrale Bedeutung zu. Diese Vision werde durch die Struktur der neuen Medientechnologien bedroht, die ein System asymmetrischer Überwachung geschaffen hätten, das die Grenzen zwischen Privatheit und öffentlicher Sphäre auflöse.
Eine ähnlich demokratieschädliche Verlaufsform sieht Calhoun in Prozessen ökonomischer Globalisierung: „Genau die Systeme, die Nationalstaaten mit der Weltwirtschaft verbanden, zogen die Nationalstaaten im Inneren auseinander“ (123). Zunehmende Urbanisierung, Standortwettbewerb und Deindustrialisierungen hätten ortsgebundene, lokale Gemeinschaften untergraben, Gewerkschaften geschwächt und Regionen geschaffen, die sich vom gesellschaftlichen Mainstream abgekoppelt fühlen.
Authentizität und Meritokratie
Der bisher in den ersten drei Kapiteln dargestellte Zerfall von Demokratie könne ohne eine Analyse langfristiger kultureller Entwicklungen nicht ausreichend erklärt werden, die wesentlich – so Calhoun und Taylor – Phänomene der Authentizität und Meritokratie betreffen (213 ff.). Die ideologischen, weil gemeinschaftsuntergrabenden Effekte der gesellschaftlichen Handhabung dieser beiden Konzepte würden erst dann greifbar, wenn man sie vor dem Hintergrund der voneinander abhängigen Güter Freiheit, Gleichheit und Solidarität beurteilt. Wenn aus republikanischer Sicht die volle Zugehörigkeit zur politischen Gemeinschaft von der „Integration in kohärente soziale Beziehungen“ abhänge, dann kann keine „Kombination aus Freiheit und Gleichheit […] die Solidarität“ ersetzen (213). Umgekehrt seien ausgeprägte (Gruppen-)Solidaritäten kein Ersatz für Freiheit und Gleichheit. Unter Berufung auf Authentizität und Meritokratie habe der Neoliberalismus einseitige und desolidarisierende Lesarten von Freiheit und Gleichheit durchgesetzt. Das Ethos der Authentizität habe zwar langfristig Sensibilitäten für (und Maßnahmen gegen) (Gruppen-)Diskriminierung gefördert, aber dies geschah in einem Rahmen des Individualismus – sei es einer instrumentellen, sei es einer expressiven Spielart. Das meritokratische Prinzip war historisch ein Verfahren zum Abbau ererbter Privilegien, gegenwärtig aber diene es den Eliten als „Ideologie der Ermächtigung“ (235), die soziale Ungleichheiten als Folge differentieller Talente naturalisiere und die Konzentration von Einkommen und Vermögen der oberen Schichten als Spiegel ihrer Verdienste ausgebe (255). Auf jeweils spezifische Weise haben demnach Authentizität und Meritokratie zu einem defizitären Verständnis von Demokratie geführt, demzufolge „Bekundungen gleicher Freiheit ohne materielle Gleichheit ausreichen“ könnten (220, 228).
„Direkte Aktion“ vs. Elitenherrschaft?
Gegenüber der von Taylor und Calhoun eingenommenen Sicht vertritt Gaonkar in den Kapiteln fünf und sechs eine skeptische Position. Sie betrifft weniger die deskriptiven Befunde demokratischen Zerfalls als vielmehr die impliziten Annahmen einer möglichen Rekonsolidierung des demokratischen Projekts. Zugespitzt formuliert geht er von einer eliten- statt einer (wie auch immer modifizierten) klassentheoretischen Fassung der grundlegenden gesellschaftlichen Spaltung aus (295 f.). Die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind erheblich. Die von Taylor herausgestellten drei Abwärtsspiralen lassen sich laut Gaonkar bestenfalls beherrschen, aber nicht aufheben (293). Mehr noch: Der Kampf gegen sozioökonomische Ungleichheit sei „weder zielgerichtet noch progressiv“ (298). Die historisch große Volatilität sozioökonomischer Ungleichheit mache es unmöglich, „den Kampf zwischen Eliten und den Nicht-Eliten zu beseitigen“ (295).
Was hier wie eine libertäre Gegenposition klingen könnte, ist allerdings ein radikaldemokratisches Plädoyer für eine Wiederbelebung des zerfallenden demokratischen Projektes durch die Mobilisierung zur „’direkten Aktion’“ (293). Die Entwicklung der demokratischen Vision sei durchgehend von der Kontroverse geprägt, welche Bedeutung dem „Wir, das Volk“ zukomme. Während sich eine vermeintlich „ursprüngliche“ Lesart auf eine vorgängige ethno-nationale Einheit berufe, suche eine „konstitutionelle“ Lesart den Gedanken einer post-ethnischen und institutionell gestützten „Einheit in und durch Verschiedenheit“ zur Geltung zu bringen (300 f.). Faktisch jedoch lasse sich der „ethno-nationale Strang mit all seiner rhetorischen Anziehungskraft […] nicht aus der Welt“ schaffen (303). Die liberale Demokratie sei mit dieser Spannung – und der damit zusammenhängenden Gefahr eines manipulativen Majoritarismus – immer auf paradoxe Weise umgegangen, nämlich „sich gleichzeitig auf die Volkssouveränität zu berufen und sie mit Hilfe verfassungsrechtlicher Normen und institutioneller Zwänge in Schach zu halten“ (309). Vieles spreche dafür – so Gaonkar – dass diese liberale Strategie und die Funktionsfähigkeit des repräsentativen Systems an Grenzen gestoßen sind, die sich nur durch eine „Politik der periodischen direkten Aktion“ aufbrechen ließen (310). Dass wir es heute – angesichts der durch Kapitalismus, Digitalisierung, Globalisierung ausgelösten Disruptionen – „mit einem regelrechten globalen Protest-Tsunami“ zu tun haben (320), sei wesentlich auf das Auseinanderklaffen der zeitlichen Horizonte von Eliten und Nicht-Eliten zurückzuführen. „Die Temporalitäten, die die Dringlichkeit direkter Aktionen von Nicht-Eliten bestimmen, unterscheiden sich radikal von den Temporalitäten der institutionellen Steuerung durch die herrschenden Eliten.“ (321). Aufgrund dieser Differenz der Temporalitäten „teilen die Nicht-Eliten überall auf der Welt eine schwelende Unzufriedenheit über ihre schiere Machtlosigkeit – ihre Stimmen werden nicht gehört, ihre Forderungen ignoriert, ihre Aktionen verspottet, und jeder Rest bürgerlicher Wirkmacht ist verschwunden“ (330). Eine Erneuerung des demos sei nur möglich, wenn organisierte soziale Bewegungen, relevante zivilgesellschaftliche Akteure und politische Parteien bereit wären, sich auf das „enorme Reservoir an emanzipatorischer Energie einzulassen“ (330), das Gaonkar der direkten Aktion zuspricht (320 ff.). Leider geht Gaonkar in seiner durchaus inspirierenden Phänomenologie der politischen Unzufriedenheit nicht auf Unterschiede zwischen Protest und Populismus ein.
Was könnte gegen den Demokratiezerfall getan werden?
Im letzten, von Calhoun und Taylor verfassten Kapitel sowie im Schlussteil, den man als gemeinsames Resümee verstehen muss, unternehmen die Autoren den Versuch, einige Handlungsschwerpunkte zu benennen, die für eine Revitalisierung des demokratischen Projekts relevant sein könnten. Die in thematischer Hinsicht angesprochenen Problembereiche – überwiegend mit Bezug auf die Vereinigten Staaten erläutert – bieten keine neuen Gesichtspunkte. Unter anderem betreffen sie den Abbau von (rassistischen oder geschlechtsbezogenen) Diskriminierungen im Bildungs- und Gesundheitssystem sowie im Arbeitsmarkt (348 ff.), die Herstellung egalitärer Chancen politischer Beteiligung (358 ff.), die Regulierung der neuen Medienstrukturen zur Kontrolle sowohl ihres Einflusses auf Politik als auch der gesellschaftlichen Folgen von Digitalisierung (370 ff.). Strategisch erscheint den Autoren – in Analogie zum New Deal Roosevelts in den 1930er Jahren – ein Green New Deal notwendig, der von einer breiten demokratischen Bewegung getragen wird (403 ff.) und „Klimaaktivismus und Gewerkschaftsaktivismus“ zusammenführt (451). Diese Überlegungen bleiben jedoch sehr skizzenhaft, auch weil „es noch keine einheitliche, verbindliche Formulierung der relevanten Bewegungsziele oder potentiellen politischen Maßnahmen gibt“ (406).
Eher breiten Raum nimmt eine letztlich nicht wirklich kohärente Diskussion des Populismus ein. Einerseits wird dessen abgeleiteter Charakter hervorgehoben. Weil der Populismus wesentlich auf „wahrgenommene Verstöße, Empörungen und Versäumnisse der konventionellen“ Politik reagiere (424), sei er keine eigenständige Triebkraft, deren Überwindung den Demokratiezerfall rückgängig machen würde (333). Andererseits wird dem Populismus eine fast schon ursprünglich zu nennende Innovationsfähigkeit zugesprochen. Zwar sei problematisch, wenn derartige Mobilisierungen keine Vermittlung ihrer jeweiligen Forderungen „durch eine reflektiertere und pluralere öffentliche Debatte“ akzeptieren, aber der Populismus bleibe „vor allem in der Agitation [..] die rohe Ausdrucksform der Doktrin der Volkssouveränität“ (426). Fraglich erscheint, ob man diese „rohe Ausdrucksform“ von den faktischen Aktionsformen populistischer Bewegungen trennen kann, die – wie Taylor im ersten Kapitel selbst herausgearbeitet hat – eng mit den demokratischen Abwärtsspiralen der Ausgrenzung und des Majoritarismus verflochten sind.
Fazit
Die umfangreiche Studie von Taylor, Calhoun und Gaonkar ist durch ihre Diskussion eines breiten Spektrums von Krisenphänomenen zweifellos ein anregender Beitrag in der laufenden Debatte über den Zerfall von Demokratie. Zur Stärke ihres zeitdiagnostischen Zugriffs zählt gewiss die Konzentration auf Erosionsprozesse, die sich in demokratischen Gesellschaften selbst abspielen. Hier erscheint vor allem das von Taylor vorgestellte Krisenszenario der drei sich überlagernden Abwärtsspiralen – schwindender bürgerschaftlicher Wirkmacht, zunehmender Ausgrenzungspraktiken, vielfältiger Tendenzen eines gesellschaftspolarisierenden Majoritarismus – als Deutung überzeugend und empirisch plausibel. Auch die insgesamt etwas uneinheitliche Auseinandersetzung mit dem Populismus sollte Anstoß zu vertiefenden und präziseren Überlegungen geben.
Die Autoren entwickeln die Vision einer Erneuerung des sozialdemokratischen Kompromisses unter gänzlich anderen Rahmenbedingungen als jenen der Nachkriegsära. Zentrale Voraussetzung einer demokratischen Re-Konsolidierung wäre die gesellschaftliche (Wieder-)Einbettung jener zentrifugalen Tendenzen, die im Zuge ungesteuerter Kapitalisierung, Digitalisierung und Globalisierung zur Verschärfung sozialer Ungleichheit und politischen Marginalisierung der Vielen geführt haben. So sympathisch ihr Votum für eine erneuerte sozialdemokratische Perspektive auch erscheinen mag, fraglich ist, ob der überwiegend auf die Krisenentwicklung in Nationalstaaten bezogene Fokus eine ausreichende analytische Basis zur Erklärung jener länderübergreifenden systemischen Intransparenz darstellen kann, die die Autoren als Auslöser des demokratischen Zerfalls immerhin benennen. Denn die ‚sytemische Intransparenz’ betrifft ja Handlungszwänge und Abhängigkeiten, in denen sich Undurchsichtigkeiten transnationaler Verflechtungen und funktionale Imperative der globalen Ökonomie spiegeln. Ebenso kann die zum Teil von Calhoun, explizit von Gaonkar vorgenommene elitentheoretische Konzeptualisierung nicht überzeugen, weil sie ohne gesellschaftstheoretische Fundierung bleibt.
Anmerkungen:
[1] Offe, Claus (2023): Das Gemeinwohl »auf der Kippe«? Anmerkungen zu Christian Blum, in: Leviathan, 51. Jg., 1/2023, S. 35.
[2] Vgl. Polanyi, Karl (1977): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen [1944]. Wien Europaverlag.
[3] Die Autoren beziehen sich mit dieser Benennung auf Jean Fourastié (1975): Les Trente Glorieuses, ou la rèvolution invisible de 1946 à 1975. Paris, Hachettes 2004.