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Rezension / 26.11.2024

Samuel Salzborn: Wehrlose Demokratie? Antisemitismus und die Bedrohung der politischen Ordnung

Leipzig, Hentrich & Hentrich 2024

Der Politikwissenschafter und heutige Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin, Samuel Salzborn, sieht im Antisemitismus eine „Bedrohung der öffentlichen Ordnung“ und fordert eine Stärkung der wehrhaften Demokratie. Unser Rezensent, der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Michael Kohlstruck, widerspricht deutlich: Salzborns Argumentation habe einen „antiliberalen Grundzug“, weil sie sich umstandslos im Modus der „Bekämpfung“ bewege und einseitig auf mehr Repression setze. Als „Streitschrift“ eines Staatsvertreters lasse dies weitere Einschränkungen des liberalen Rechtsstaats befürchten.

Eine Rezension von Michael Kohlstruck

Samuel Salzborn, der von der Politikwissenschaft ins Amt des „Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus“ gewechselt ist, hat nach dem 7. Oktober 2023 ein engagiertes Plädoyer für eine Intensivierung und Ausweitung der staatlichen Bekämpfung von Antisemitismus vorgelegt. Die Streitschrift entwickelt keine neuen Argumente, sondern stützt sich an vielen Stellen ausdrücklich auf frühere Publikationen des Autors.

Die Forderung nach einer stärkeren Bekämpfung wird in fünf Abschnitten entfaltet und begründet. Kapitel 1 stellt den „Kampf gegen Antisemitismus als Kernanliegen der bundesdeutschen Demokratie“ vor. Im Rückblick und im Kontrast zur Weimarer Republik werden drei zentrale Thesen formuliert: Die „antisemitische Feinderklärung“ war und sei „auch eine antidemokratische Feinderklärung“ (10, 15); die Verfassungsordnung der Bundesrepublik basiere auf einem substanziellen, wertgebundenen Verständnis von Demokratie (11 f.), und drittens bedeute die Streitbarkeit oder Wehrhaftigkeit der bundesdeutschen Demokratie eine „institutionalisierte staatliche Verpflichtung“ (17) zu einer Verstärkung von „Antisemitismusprävention und -bekämpfung“ (20).

„Der Kampf gegen Antisemitismus und die Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit“ ist Thema des zweiten Kapitels. Hier wird zunächst das maßgebliche Verständnis von Antisemitismus expliziert. Antisemitismus wird als Weltbild oder als „eine grundlegende Haltung zur Welt“ (23) konzipiert und insofern in Differenz zu den Konzepten „Vorurteil“ oder „Rassismus“ verstanden. „Antisemitismus zielt als kognitives und emotionales System auf einen weltanschaulichen Allerklärungsanspruch“ (24).

Er basiere auf Zuschreibungen von Seiten der Antisemiten und kann nicht aus Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden erklärt werden (28). Für das antisemitische Weltbild repräsentieren Juden die Abstraktheit der Vergesellschaftung in der Moderne. Konkrete jüdische Personen würden zu einem „Symbol für das Abstrakte als solches“ (30, Hervorh. i.O.) und damit zu Objekten antisemitischer Projektionen. Antisemitische Ressentiments „inkorporieren“ „grundsätzlich immer (Hervorh. i.O.) die Radikalisierungsoption vom Denken zum Handeln und damit letztlich auch zu gewaltförmigem Handeln“ (32). Die „Nationform des Politischen“ (34) konstituiere sich über die Bildung von Gemeinschaften und damit über Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit.

Salzborns Radikalisierungstheorie antisemitischer Einstellungen

Antisemitismus werde begünstigt, soweit ein ethnisches Konzept von Nation und hohe nationale Homogenitätsstandards dominieren (36). Demokratische Systeme seien zur Bekämpfung des Antisemitismus verpflichtet, da dieser ihre zentralen Konstitutionselemente angreife: „Einem demokratischen politischen System obliegt (...) die strukturelle Verpflichtung, wehrhaft gegen antisemitische Tendenzen in der Gesellschaft zu agieren, da diese sich gleichermaßen gegen Jüdinnen und Juden wie gegen die Demokratie richten. Denn auf der ambivalenten Konstituierung der Nationform des Politischen und ihrem Doppelcharakter im Spannungsfeld zwischen Souveränität und Freiheit basiert ihre Lokalisierung als abstrakte Herrschaftsform, die das individuelle Freiheitsversprechen durch legitime Souveränität garantieren muss: Der antisemitische Kampf gegen das Abstrakte, der in Projektionen durch Verschwörungsmythen antijüdisch konkretisiert wird, ist genuin ein Kampf gegen die moderne Weltordnung mit ihren demokratischen, rechtsstaatlichen und repräsentativen Grundlagen, die ihrerseits eine freiheitliche Gesellschaft auf Basis abstrakter (Hervorh. i.O.). (Rechts-)Gleichheit garantieren will und muss“ (44 f.).

Zu differenzieren sei dabei zwischen antisemitischen Vorurteilen und Weltbildern: „Antisemitisch motivierte Ressentiments können Gegenstand der präventiven Arbeit im Bereich der politischen Bildung sein, antisemitische Weltbilder müssen Gegenstand der repressiven Arbeit im Bereich von Polizei und Justiz sein“ (47). Salzborn skizziert eine Radikalisierungstheorie, die von antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung ausgeht. Demnach seien es antisemitische Einstellungen, die den Kern individueller Radikalisierungsprozessen bis hin zu kriminellem Verhalten bilden und denen die staatliche Aufmerksamkeit noch vor der Beobachtung von antisemitisch agierenden Netzwerken und Organisationen gelten muss. „Die Substanz der politischen Ordnung und die Genese der Wehrhaftigkeit“, das dritte Kapitel, blickt in die Ideengeschichte der modernen Staatstheorie zurück (53-71). Moderne Staaten, insbesondere Demokratien (56), seien bei Strafe ihres Untergangs verpflichtet, ihren Feinden mit „Wehrhaftigkeit“ zu begegnen. „Ein friedliches System wie die Demokratie kann nur friedlich sein und bleiben, wenn es sich mit allen Optionen legitimierter Gewalt gegen seine Feinde wehrt, weil jene den friedlichen und diskursiven Umgang mit Konflikten ontologisch ablehnen, also den Modus Operandi des Demokratischen nicht anerkennen“ (55). Die Verweise auf Staatstheoretiker von Machiavelli über Hobbes, Locke und Rousseau bis hin zu Carl Schmitt münden in die Gleichsetzung von „Wehrhaftigkeit“ und modernem Staat: „Die Idee der Wehrhaftigkeit ist insofern in den modernen, demokratischen Staat dreifach eingeschrieben (Hervorh. i. O.): in seiner idealtypischen Emanzipation von der Moral, seiner politischen und ökonomischen Bindung an das kontraktualistisch legitimierte Tauschprinzip und in seinem liberalen Dilemma der Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit. Die Wehrhaftigkeit ist eine normativ unhintergehbare und zugleich unverzichtbare Setzung, weil sie allein aus sich selbst heraus legitimierbar ist“ (65).

Die Diagnose des „antisemitischen Weltkriegs“

Unter der Überschrift „Die antisemitische Radikalisierung und das Trojanische Pferd der Verharmlosung“ diagnostiziert das vierte Kapitel drei weltweite Entwicklungen: Mit den Attacken vom 11. September 2001 sei die westliche Welt insgesamt angegriffen worden. Dies sollte der „Auftakt für eine antisemitische Revolution“ (74), ja einen „antisemitischen Weltkrieg“ (75) sein, der als territorial entgrenzter asymmetrischer Krieg geführt werde. Die antiwestlichen Kräfte sammelten sich unter dem „Banner des Antisemitismus“ (76). Gleichzeitig werde Antisemitismus trivialisiert und insbesondere als Israelkritik geäußert. Schließlich werde Antisemitismus bagatellisiert und zu einem Randproblem erklärt (78). In Deutschland stelle das Jahr 2014 als Demonstrationen mit explizit antisemitischen Parolen stattfanden in dieser Hinsicht eine Zäsur dar.

Die Unterstellung einer „jüdischen Weltverschwörung“ sei seitdem die ideologische Klammer zwischen pro-palästinensischen Gruppen, Neonazis und linksradikalen Antiimperialisten (78-83). Antisemitische Inhalte werden als Kritik an Israel ausgegeben, und Aversionen gegen Juden werden unverblümt öffentlich geäußert. Mit Blick auf den Anschlag auf die Wuppertaler Synagoge 2014, den Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019, weitere Attacken auf jüdische Einrichtungen im Jahr 2021 und schließlich den Angriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 gelte: „AntisemitInnen ist es völlig egal, was Israel tut oder nicht – sie nutzen jeden Vorwand, um ihren antisemitischen Hass auszuleben. Das Motiv ist Antisemitismus“ (85).

Nachgezeichnet werden weitere Proteste und Übergriffe. Antisemitische Äußerungen im Kontext der Proteste gegen die Eindämmung des Corona-Virus und einschlägige Positionierungen im Kunst- und Kulturmilieu der Bundesrepublik, insbesondere bei der „documenta fifteen“ ergänzen das Bild eines seit 2001 stetig zunehmenden Antisemitismus (88-94). Das „Trojanische Pferd der Antisemitismusverharmlosung“ (96) werde von Intellektuellen gezimmert und platziert. Sie schafften mit ihrer „vorpolitische(n) Akzeptanz die Gelegenheitsstrukturen für antisemitische Ressentiments“ und leisteten damit gewalttätigen Aktionen Vorschub. Die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ wird als „intellektuelle Wegbereitung dieser Normalisierung von Antisemitismus“ (94) vorgestellt.

Kampf gegen Antisemitismus als „Staatszielbestimmung“

Im Abschlusskapitel „Antisemitismus und Demokratie: zwischen Wehrhaftigkeit und Wehrlosigkeit“ werden die rechtlichen Voraussetzungen der Antisemitismus-Bekämpfung sowie Gesetzesänderungen und konkrete Versammlungsverbote im Land Berlin 2022 und 2023 behandelt (119-127). Der normative „antinationalsozialistische Konsens“ des Grundgesetzes (104) wird als antiantisemitischer Konsens interpretiert. Dieser Institutionenkultur wird mit der Alltagskultur kontrastiert, für die der negative Bezug der normativen Ordnung auf den Nationalsozialismus schwinde (101-107). Abhilfe solle hier die „Verankerung des Kampfes gegen Antisemitismus – in all seinen Formen – zur Staatszielbestimmung auf Ebene der bundesdeutschen und der Länderverfassungen“ (107) schaffen.

Abgewiesen werden die Einwände, eine derart bestimmte Staatsaufgabe kollidiere möglicherweise mit den Grundrechten: „Der Kampf gegen die Demokratie wird mit Blick auf die Abwehr von Antisemitismusbekämpfung argumentativ mit den Mitteln der Demokratie geführt“ (110). Thematisiert werden Aspekte der Kunst-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (112-123). Im Einzelnen wird etwa zur Kunstfreiheit ausgeführt, dass es im Konkreten tatsächlich um die Frage der Kunstförderung gehe (113f.). Überdies dürfe man auch die Kunstfreiheit nicht als ein absolutes Grundrecht misszuverstehen und schließlich sei „die kategoriale Ausblendung der jüdischen Perspektive“ nicht zu akzeptieren (112-115). Plädiert wird dafür, Grundrechte in ihrem materiellen Kern zu betrachten, „vulgäre Rhetoriken der instrumentellen Grundrechtsbezugnahme“ zu verwerfen und die normativen Implikationen von Rechtsansprüchen begriffssystematisch und ideengeschichtlich zu klären (118).

Vereindeutigungen, Engführungen und Appelle

Soziologisch betrachtet sind politische Streitschriften Beiträge zur Etablierung eines sozialen Problems in der Öffentlichkeit bzw. der strategischen Durchsetzung bestimmter politischer Optionen ihrer Bearbeitung (Albrecht/Groenemeyer 2012; Schetsche 2014). Öffentliche Wirkung versuchen Streitschriften generell mittels einiger typischer Darstellungsweisen zu erzielen. Dazu gehören – neben der Wiederholung von Begründungen, Forderungen und Appellen – eine strategisch überhöhte Darstellung des fokussierten Problems sowie Vereindeutigungen oder Vereinfachungen von komplexen Sachverhalten und Begründungen, die als unabweisbar oder alternativlos dargestellt werden. Weitere gattungsspezifische Merkmale sind Verweise auf einen Stand der wissenschaftlichen Forschung, der die erhobenen politischen Forderungen unterstützen soll. All diese Darstellungselemente finden sich in dem besprochenen Essay. Die Diagnose der Problemlage ist stark überzeichnet. Letztlich basiert sie auf dem begriffsrealistischen Fehler, den abstrakten Terminus „Antisemitismus“ mit der Bezeichnung eines bestimmten konkreten Wirklichkeitsphänomens zu verwechseln.

Die unterschiedlichsten antisemitischen Phänomene werden als Ausdruck einer identischen Substanz, eben „des Antisemitismus“ verstanden und nicht in ihrer jeweiligen Entstehung und ihrem Kontext betrachtet. Damit werden gehässige antisemitische Sprüche von Schulkindern mit alltäglichen Diskriminierungen von Juden, mit antisemitischen Gesetzen und staatlich organisierten Morden gleichgesetzt. Das wissenschaftliche Gebot differenzierter Erklärungen wird verdrängt von der kategorial-abstrakten Klassifizierung als Antisemitismus (Kohlstruck 2020). Antisemitismus wird darüber hinaus fälschlicherweise im Wesentlichen als „Weltbild“ und als weltbildgestütztes Handeln konzipiert, das auf Seiten von Antisemiten als fixe Ideologie existiere und auf Juden oder den israelischen Staat projiziert werde. Damit wird ein Element der antisemitischen Bewegung im Deutschen Reich des 19. und des 20. Jahrhunderts unhistorisch verabsolutiert und zum Charakteristikum aller seitherigen antisemitischen Phänomene erklärt.

Übergangen wird die zentrale Zäsur in der Geschichte des Verhältnisses von Juden und Nichtjuden, die darin besteht, dass mit der Gründung des Staates Israel 1948 Juden nicht mehr nur Minderheiten in mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaften sind. Zu den üblichen Zielen, Inhalten und Methoden staatlicher Herrschaft kommen im Fall Israels jüdisch-ethnokratische Elemente sowie eine völkerrechtswidrige Besatzungspolitik; Gegengewalt ist die Antwort der ihr Unterworfenen. Mit Blick auf diese historische Zäsur hätte man also durchaus Grund, die Bandbreite antisemitischer Phänomene nicht – schlecht philosophisch – aus einem einzigen Prinzip („Projektion“) erklären zu wollen und interdependenz- oder korrespondenztheoretische Ansätze in der Antisemitismusforschung zur Kenntnis zu nehmen (Weyand 2016).

Die Behauptung, Antisemitismus sei per se ein Angriff auf Demokratie, verdankt sich einer enggeführten, wesenslogisch reduzierten Charakterisierung antisemitischer Phänomene einerseits und moderner Demokratien andererseits. „Abstraktionsaversion" (Antisemitismus) versus normative Ordnung qua „Abstraktion“ (Demokratie) ist – jedenfalls aus der Sicht einer analytischen, nicht-aktivistischen Sozialwissenschaft – eine überabstrakte Unterbestimmung der beiden Themenkomplexe.

Verschiedentlich verweist der Text auf eine „politikwissenschaftliche Perspektive“ (15, 19, 84, 106, 112, 166), mit der die eigene Argumentation untermauert werden soll. Die Hinweise legen nahe, innerhalb der Forschungen zu Antisemitismus seien bestimmte Fragen und Themen unstrittig, die außerhalb der Wissenschaft „noch“ kontrovers diskutiert würden. So wird unter anderem auf den sogenannten „3-D-Test“ verwiesen, mit dem „in der Politikwissenschaft“ vorgeblich geprüft werde, inwieweit bestimmte Aussagen zu israelischer Politik als antisemitisch zu gelten haben (77, 79). Die Tatsache, dass dieser Test nicht aus der Wissenschaft stammt, sondern von einem israelischen Politiker vorgestellt wurde (Sharansky 2004) und kontrovers diskutiert wird, bleibt unerwähnt (Schwarz-Friesel 2015, 23; Unabhängiger Expertenkreis 2017, 27f.; Lintl/Ullrich 2024).

Antiliberale Grundzüge und Forderungen nach staatlicher Repression

Der Charakter einer Streitschrift wird nicht zuletzt am Fehlen der Explikation von Bedeutungen und Aufladungen des Terminus „Antisemitismus“ in der Streitschrift erkennbar. Er wird erstens – zu Recht – als ein Sammelbegriff für alle antisemitischen Phänomene verwendet und steht zweitens für die problematische einheitliche, dehistorisiert-wesenslogische Erklärung ihrer Entstehung („Projektion“). Aus rechtsstaatlich-liberaler Sicht ist eine dritte Bedeutung bemerkenswert: Beklagt wird, dass zu wenige Straftatbestände die strafrechtliche Verfolgung von „Antisemitismus“ erlauben (112, 114, 124). Implizit wird damit Antisemitismus als solcher zu einer an sich existenten „Superillegalität“ erklärt, die es, mittels eines noch zu verschärfenden Strafrechts zu ahnden gelte.

Ähnlich hatte Ulrich K. Preuß, Professor für Öffentliches Recht, in den 1970er Jahren den Status des Terminus „Freiheitlich demokratische Grundordnung“ (FdGO) als vermeintlich übergeordnete Substanz jenseits der einzelnen Grundrechtsbestimmungen als „Superlegalität“ ideologiekritisch analysiert (Preuß 1977). Sieht man von den unterschiedlichen Materien ab, so zielt sowohl der ideologisierte Begriff der „FdGO“ der 1970er Jahre wie die heutige Antisemitismusbekämpfung auf eine innerstaatliche Feinderklärung (13), die auf einer problematischen Überordnung moralisierter Maximen über rechtsstaatliches Strafrecht beruht. In beiden Fällen stößt man auf die gleiche Rechtfertigung: „Angriff auf das Herz des Staates“ (Hess et al. 1988).

Je weitgehender die geforderten Strategien sind, umso bedrohlicher muss die Diagnose des Problems ausfallen: Der drohenden weltweiten „Revolution der AntisemitInnen“ (75) sei nur durch eine repressive staatliche Politik zu begegnen. Gefordert wird der starke Staat im Namen einer vermeintlich guten Sache. Der antiliberale Grundzug der Schrift wird daran ersichtlich, dass ohne jede Problematisierung durchgängig unterstellt wird, die staatliche Perspektive auf Antisemitismus sei umstandslos als „Bekämpfung“ zu charakterisieren. Demgegenüber ist darauf zu bestehen, dass der liberale Rechtsstaat lediglich straftatbestandlich definierte Rechtsverstöße, also tatsächliches Verhalten zu ahnden und unmittelbar bevorstehende Gefahren abzuwehren hat. Vokabular und Sache der „Bekämpfung“ von Weltbildern, Weltanschauungen, Einstellungen und Meinungen gehören zwar zum Repertoire politischer Rhetorik, sind aber letztlich Indikatoren eines überbordenden rechtsstaatlich illegitimen staatlichen Kontrollanspruchs (Gössner 2021, 275-363).

Der „Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus“ plädiert in seiner Streitschrift „Wehrlose Demokratie?“ für eine verstärkte staatliche Repression von Antisemitismus. Die Argumentation der Schrift ist erkennbar von dieser politischen Zielsetzung her bestimmt und wird mit ihren Übergeneralisierungen weder dem komplexen Feld aktueller antisemitischer Phänomene noch der Frage gerecht, ob die „wehrhafte Demokratie“ des Kalten Krieges heute noch angemessen ist. Der Grundzug der Schrift mit ihrer innerstaatlichen Feinderklärung gegenüber einer überweit definierten Gruppe von „Antisemiten“ lässt weitere Einschränkungen des liberalen Rechtsstaats befürchten.


Literatur

  • Albrecht, Günter/Groenemeyer, Axel (Hrsg.) (2012): Handbuch soziale Probleme,Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Gössner, Rolf (2021): Datenkraken im Öffentlichen Dienst. "Laudatio" auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat, Köln: PapyRossa.
  • Hess, Henner/Moerings, Martin/Paas, Dieter/Scheerer, Sebastian/Steinert, Heinz (Hrsg.) (1988): Angriff auf das Herz des Staates, 2 Bd., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Kohlstruck, Michael (2020): Zur öffentlichen Thematisierung von Antisemitismus, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Berlin: Metropol, S. 119-148.
  • Lintl, Peter/Ullrich, Peter (2024): Der Nahostkonflikt: Realkonflikt und Antisemitismus, in:
  • Ullrich, Peter/Arnold, Sina/Danilina, Anna/Holz, Klaus/Jensen, Uffa/Seidel, Ingolf/Weyand, Jan (Hrsg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft, Göttingen: Wallstein, S. 86-93.
  • Pfahl-Traughber, Armin (2020): Antizionistischer und israelfeindlicher Antisemitismus. Definitionen, Differenzierungen, Kontroversen), in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Dossier Antisemitismus, Bonn.https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/307746/antizionistischer-und-israelfeindlicher-antisemitismus/#node-content-title-6
  • Preuß, Ulrich K. (1977): "Freiheitliche demokratische Grundordnung" als Superlegalität. Demokratische Substanz und politische Verkehrsformen, in: Denninger, Erhard (Hrsg.): Freiheitliche demokratische Grundordnung. Materialien zum Staatsverständnis und zur Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 445-468.
  • Schetsche, Michael (2014): Empirische Analyse sozialer Probleme. Das wissenssoziologische Programm (2. Aufl.), Wiesbaden: Springer VS.
  • Schwarz-Friesel, Monika: Gebildeter Antisemitismus, seine kulturelle Verankerung und historische Kontinuität: Semper idem cum mutatione, in: dies. (Hrsg.): Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft,
  • Baden-Baden 2015: Nomos, S. 13-34.
  • Sharansky, Natan (2004): 3D Test of Anti-Semitism: Demonization, Double Standards, Delegitimization, in: Jewish Political Studies Review 16: 3-4, S. 5-8.
  • Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (2017): Antisemitismus in Deutschland, Berlin: Bundesministerium des Innern.
  • Weyand, Jan (2016): Plädoyer für eine Wissenssoziologie des Antisemitismus, in: Busch, Charlotte/Gehrlein, Martin/Uhlig, Tom David (Hrsg.): Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus, Wiesbaden: Springer VS, S. 59-82.


DOI: 10.36206/REZ24.40
CC-BY-NC-SA
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