Mathias Brodkorb: Gesinnungspolizei im Rechtsstaat? Der Verfassungsschutz als Erfüllungsgehilfe der Politik. Sechs Fallstudien
Anhand von sechs Fallstudien dokumentiert der ehemalige SPD-Minister in Mecklenburg-Vorpommern und heutige Journalist Mathias Brodkorb detailliert die Fehlverhalten, Rechtsbrüche und Schwächen der Verfassungsschutzbehörden und plädiert für deren Abschaffung. Rezensent Michael Kohlstruck lobt das Buch als „gelungene Dokumentation zu den Freiheitseinschränkungen durch entgrenzte Nachrichtendienste“.
Eine Rezension von Michael Kohlstruck
Der Untertitel des besprochenen Buches von Mathias Brodkorb enthält die Antwort auf die im Titel gestellte Frage. Die sechs Fallstudien zur Praxis des behördlichen Verfassungsschutzes belegen, inwiefern das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie die Landesämter (LfV) seit Jahrzehnten regierungsoppositionelle Strömungen überwachen, dabei geltendes Recht verletzen und darüber hinaus handwerklich unsaubere Gutachten erarbeiten. Erklärtermaßen konzentriert sich die Darstellung auf die negativen Aspekte der Verfassungsschutz-Praxis (163, 194) und fragt danach, „ob die Schäden, die der Verfassungsschutz in zunehmendem Maße verursacht, nicht zu groß sind, als dass eine gefestigte liberale Demokratie sie auf Dauer zu ertragen bereit sein sollte“ (195). Letztlich wird für eine Auflösung der Verfassungsschutzbehörden plädiert (11, 21, 194); der derzeitige „präventive Demokratieschutz“ durch Nachrichtendienste (Scherb 1987) soll durch einen „repressiven Republikschutz“ durch die Polizei abgelöst werden.
In den Fallstudien wird en détail und anhand von Gerichtsurteilen, Gutachten und Gegengutachten sowie Publikationen argumentiert. Dies gilt jedenfalls soweit die entsprechenden Dokumente zugänglich, das heißt nicht von der Exekutive in toto zu Verschlusssachen erklärt worden sind, oder – wie ein Dokument des BfV zu Rolf Gössner (89) – bis zur faktischen Nichtinformation geschwärzt wurden. Gössner, dem sich eine der Fallstudien des Buchs widmet, wurde als Rechtsanwalt und Bürgerrechtsaktivist 38 Jahre vom Verfassungsschutz beobachtetet, bevor das Bundesverwaltungsgericht im Dezember 2020 seine Beobachtung als durchgehend rechtswidrig bewertete.
Fallstudien dokumentieren Rechtsbrüche
Gestützt auf Entscheidungen des BVerfG zeigen die Fallstudien, wie Verfassungsschutzbehörden über Jahrzehnte hinweg Rechtsbrüche begangen haben, indem sie Personen zu Unrecht beobachteten (Fall Bodo Ramelow (54-71), Fall Rolf Gössner (72-89)). Anhand eines Rechtsstreits zwischen dem Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt und dem Institut für Staatspolitik (Erik Lehnert) wird akribisch belegt, inwieweit das LfV den Texten der Neuen Rechten intellektuell nicht gewachsen ist und sich – geleitet vom Vorsatz (oder der Vorgabe), Extremismus zu diagnostizieren – zu manipulativen Interpretationen versteigt (97-106). Überdies wird in diesem Kapitel anhand des Volksbegriffs die Unkenntnis elementarer Bestimmungen des Grundgesetzes auf Seiten des Innenministeriums dokumentiert (111-119).
„Ethnos“ und „Demos“, ihr Inhalt und ihre rechtliche Bedeutung hinsichtlich der Staatsbürgerschaft bilden auch den Horizont des Falls von Martin Wagener (118-139). Der Professor für Internationale Politik und Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung wurde vom Bundesnachrichtendienst aufgrund eines Gutachtens des BfV 2021 von seinen Lehrverpflichtungen entbunden; die Hochschule darf er nicht mehr aufsuchen. Das Gutachten, das offiziell der Geheimhaltung unterliegt, bezieht sich auf Publikationen Wageners. Der durchgestochene Vorwurf lautet, Wagener identifiziere den rechtlichen Begriff des Staatsvolkes mit einem ethnischen Volksbegriff; dieser wird vom BfV zu einem biologistisch-rassistischen Volksbegriff simplifiziert und gilt solchermaßen entdifferenziert und moralisiert dem BfV als Ausdruck von Verfassungsfeindlichkeit. Brodkorb betont dagegen, dass Wagener in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des BVerfG zwischen ethnischem Volk und Staatsvolk unterscheide (123).
Schwammige Begriffsverwendungen
Eine weitere Falldarstellung behandelt die vor Verwaltungsgerichten verhandelte Klage der AfD gegen ihre Einschätzung als Verdachtsfall durch das BfV (140-169). Auch hier bezieht sich die Argumentation detailliert auf ausgewählte Passagen von BfV-Gutachten und eines (bislang unveröffentlichten) Gegengutachtens des Professors für Öffentliches Recht, Dietrich Murswiek. Im Besonderen geht es um die Frage nach dem Inhalt des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs und dessen Status bei der Bestimmung des rechtlichen Volksbegriffs qua Staatsangehörigkeit. Murswiek und Brodkorb zufolge ist nicht nachvollziehbar, inwiefern „die bloße gedankliche Unterscheidung zwischen einem rechtlich definierten Staatsvolk auf der einen und der kulturellen und politischen Identität einer Gruppe von Menschen auf der anderen Seite ein Verstoß gegen die Verfassung sei“ (162). Dies gelte umso mehr, als das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) in einer seiner Publikationen (113, 160) seine Aufgabe betont, „die Festigung der ethnokulturellen Identität“ der deutschen Minderheiten in Europa und Asien zu fördern (BMI 2023: 8, 60).
Die letzte Falldarstellung führt in die Zeit der Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Auch hier wird das Beweisziel verfolgt, den Verfassungsschutzbehörden die Verwendung unklarer oder inkonsistenter Konzepte wie das der „Verschwörung“ nachzuweisen, zu dem sie explizit keine klare Definition vorlegen (171-178). Als „Verschwörungstheoretiker“ etikettieren Verfassungsschutzbehörden solche Personen, die „‘unentwegt Scheinbelege für ihre Unterstellungen (propagieren). In ihrer geschlossenen verschwörungstheoretischen Filterblase immunisieren sie sich gegen jedwede Fakten, die ihre ideologischen Positionen relativieren oder gar widerlegen könnten.‘“ (BfV zitiert nach Brodkorb: 217). Gewollt schwammig werde die Einführung des neuen Beobachtungsfeldes der sogenannten „Delegitimierung des Staates“ auf einen vagen Begriff von „Delegitimierung“ gestützt (184); damit mutiere die vorgebliche Aufgabe des Verfassungsschutzes zu einem bloßen „Regierungsschutz“ (179). Bereits vor der Pandemie war in der Literatur deshalb von einem „ideologischen Regierungsgeheimdienst“ gesprochen worden (Gössner 2020: 37).
Plädoyer für die Auflösung des Verfassungsschutzes
In den Fallstudien dokumentieren sich aus Sicht Brodkorbs drei Probleme der Verfassungsschutzbehörden: (1) Als nachgeordnete Behörden der Innenministerien könnten sie von den Regierungen gezielt gegen die Opposition eingesetzt werden. (2) Die derzeitigen Rechtsgrundlagen verstießen gegen elementare rechtsstaatliche Prinzipien, etwa das Recht auf Gehör derjenigen, die beobachtet werden. (3) Schließlich hätten in einer digitalisierten Medienwelt die Prangerwirkung der Erwähnung in den Verfassungsschutzberichten qualitativ ein Niveau erreicht, das eine unbefangene öffentliche Debatte und damit eine essentielle Voraussetzung von Demokratie bedrohe (201).
Seine Diskussion möglicher Alternativen (201-205) mündet in ein Plädoyer für die Beibehaltung der im Grundgesetz aufgeführten Interventionsmöglichkeiten des Staates (Verwirkung bestimmter Grundrechte, Verbot von Parteien und anderen Organisationen), die Auflösung des behördlichen Verfassungsschutzes und die Begrenzung des Konzepts der Verfassungsfeindschaft auf Straftatbestände, die in den polizeilichen Aufgabenbereich von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung fallen (206-212).
Immanente Kritik: Der Verfassungsschutz verfehlt seine Aufgaben
Ähnlich wie bei früheren Plädoyers für die Auflösung der Verfassungsschutzbehörden, mit denen sich Brodkorb teilweise explizit auseinandersetzt, lassen sich immanente und externe Argumentationen unterscheiden (u.a. Leggewie/Meier 2012, Müller-Heidelberg 2013, Steinke 2023). Die Falldarstellungen setzen in diesem Sinne immanent an und konfrontieren die Praxis der Behörden mit den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Aufgabenbestimmungen des Verfassungsschutzes. Die Stärke der kritischen Argumentation beruht hier auf genauer Textlektüre der herangezogenen Dokumente und der Kenntnis der einschlägigen Fachdiskussionen.
Ein Problem der Untersuchung Brodkorbs besteht allerdings darin, dass er den von ihm analysierten politischen Texten eine Eindeutigkeit unterstellt, wie man sie zwar von wissenschaftlichen Arbeiten, nicht aber von politischen Äußerungen erwarten kann. So wird in einem Gerichtsurteil ein AfD-Dokument zitiert: „‘Wir wehren uns gegen den feuchten Traum von Claudia Roth, unser Volk gegen eine Horde von identitätsleeren Konsumenten auszutauschen‘“ (159). Brodkorbs Argumentation macht geltend, mit „Horde“ seien nicht Migranten, sondern „die autochthone Bevölkerung selbst“ gemeint (160). Damit soll die Argumentation des Gerichts entkräftet werden, die Passage bedeute eine Herabwürdigung von Einwanderern. Derartiges Insistieren auf der Möglichkeit von klaren Sinnerschließungen übergeht aber zu leicht die prinzipielle Mehrdeutigkeit von politisch-polemischen Positionierungen – ein Einwand sowohl gegen die vereindeutigende Lesart des Gerichts wie gegen deren Kritik.
Normative Kritik: Der Verfassungsschutz als „Fremdkörper der Demokratie“
Mit dem immanenten Kritikansatz allein lässt sich allerdings die Forderung nach dem Aus für die „Nachrichtendienstleister“ (Grumke/van Hüllen 2016: 178) nicht begründen. Aus den Fällen des Versagens und der Verdunkelung (Gössner 2020: 39) ließe sich auch lediglich der Schluss ziehen, den Verfassungsschutz künftig an einer kürzeren Leine zu führen, sprich: das Kontinuum einer Erweiterung seiner Aufgaben und Befugnisse zu beenden, unbestimmte Begriffe in den rechtlichen Grundlagen zu präzisieren und unbestimmbare zu vermeiden. Andere Kritiker beschreiten genau diesen Weg (Murswiek 2020: 18).
Systematisch ist Brodkorb deshalb darauf angewiesen, die Auflösungsforderung auf eine normative Begründung zu stützen, die über den aktuellen Rechtsrahmen hinausgeht. Angeführt werden die Grundsätze liberaler Rechtsstaatlichkeit und damit elementare Freiheitsrechte sowie die hohe Bedeutung freier gesellschaftlicher Diskurse für die Demokratie (208, 215). Meinungsfreiheit und Regierungskritik sind ein Bürgerrecht und für die Demokratie konstitutiv (20), da die „Quelle legitimer politischer Herrschaft nicht der Staat, sondern das Volk“ ist (28). Hinzu kommt ein zeitgeschichtliches Argument: Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist seit den 1960/70er Jahren von einer fundamental höheren Liberalität gekennzeichnet als zu Zeiten der Gründung der Verfassungsschutzbehörden 1950 zu Beginn des Kalten Kriegs (13). Sie hat damit zu anderen westlichen Demokratien aufgeschlossen, in denen dem deutschen Verfassungsschutz vergleichbare Beobachtungs- und Kontrollinstitutionen als „Fremdkörper der Demokratie“ (Gössner 2003) keinen Platz haben (14, 205).
Die klugen Ausführungen des Bandes zu den rechts- und geistesgeschichtlichen Konzepten substanzieller und formaler Demokratie oder zu wehrhafter und wahrhafter Demokratie sind souverän genug, sich ihrer Limitierungen zu vergewissern: Der Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit und damit die Legitimität eines präventiv orientierten Systems von Nachrichtendiensten ist letztlich kein wissenschaftliches, sondern ein politisches Problem (196). Solange es aber politische Mehrheiten gibt, die dezidiert den „hyperpräventiven Sicherheitsstaat“ (Frankenberg 2010: 237) ausbauen wollen, wird es die Aufgabe kritischer Publizisten bleiben, die damit verbundenen Freiheits- und Demokratieeinbußen zu bilanzieren. Mathias Brodkorb hat mit „Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?“ eine gelungene Dokumentation zu den Freiheitseinschränkungen durch entgrenzte Nachrichtendienste vorgelegt.
Literatur
- Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) (Hrsg.): Deutsche Minderheiten stellen sich vor (4. Aufl.), Berlin 2023: BMI
- Frankenberg, Günter: Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2010: Suhrkamp
- Gössner, Rolf: Geheimdienste als Fremdkörper der Demokratie. Beispiel "Verfassungsschutz", in: Humanistische Union (Hrsg.): Innere Sicherheit als Gefahr, Berlin 2003: Humanistische Union, S. 156-167
- Gössner, Rolf: Der "Verfassungsschutz" - Relikt des Kalten Krieges. Früh- und Skandalgeschichte eines ideologischen Inlandsgeheimdienstes, in: Kerth, Cornelia/Kutscha, Martin (Hrsg.): Was heißt hier eigentlich Verfassungsschutz? Ein Geheimdienst und seine Praxis, Köln 2020: PapyRossa, S. 9-43
- Grumke, Thomas/van Hüllen, Rudolf: Der Verfassungsschutz. Grundlagen. Gegenwart. Perspektiven? Opladen 2016: Barbara Budrich
- Leggewie, Claus/Meier, Horst: Nach dem Verfassungsschutz. Plädoyer für eine neue Sicherheitsarchitektur der Berliner Republik, Berlin 2012: Archiv der Jugendkulturen
- Müller-Heidelberg, Till: Schützt der „Verfassungsschutz“ die Verfassung, in: Roggan, Fredrik/Busch, Dörte (Hrsg.): Das Recht in guter Verfassung? Festschrift für Martin Kutscha, Baden-Baden 2013: Nomos, S. 205-215
- Murswiek, Dietrich: Verfassungsschutz und Demokratie. Voraussetzungen und Grenzen für die Einwirkung der Verfassungsschutzbehörden auf die demokratische Willensbildung, Berlin 2020: Duncker & Humblot
- Scherb, Armin: Präventiver Demokratieschutz als Problem der Verfassungsgebung nach 1945, Frankfurt a.M. 1987: Peter Lang
- Steinke, Ronen: Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht, Berlin 2023: Berlin Verlag
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