Nora Markard, Ronen Steinke: Jura not Alone. 12 Ermutigungen, die Welt mit den Mitteln des Rechts zu verändern
Wie kann Recht helfen, die Welt zu verändern – etwa beim Klimaschutz, gegen Überwachung oder beim Kampf für gleiche Löhne? In "Jura not Alone" schildern die Juraprofessorin Nora Markard und der Journalist Ronen Steinke, wie Menschen mit Klagen gegen das Klimaschutzgesetz, den BND oder das ZDF bemerkenswerte Erfolge erzielten. Unser Rezensent Werner Reutter lobt das Buch als „lesenswert und ermutigend“, vermisst jedoch eine fehlende Verbindung zwischen den Einzelfällen.
Eine Rezension von Werner Reutter
„Recht ist politisch. Immer“ (7). Mit diesen Worten führen Nora Markard und Ronen Steinke in ihre „12 Ermutigungen“ ein, bei denen mit dem Mittel des Rechts die Welt verändert wurde – und zwar in der Regel zum Besseren. In den Geschichten, die das Autorenduo präsentiert, erscheint Recht dabei nicht als „Herrschaftsinstrument“, wie in vielen anderen Analysen, die sich mit dem Verhältnis von Recht und Politik beschäftigen. Vielmehr dient Recht in den Darstellungen von Markard und Steinke als „Mittel zur Befreiung von Herrschaft“ und zur „Emanzipation von Minderheiten“ (7). Mit Recht, so das Credo der Juristin und des Journalisten, lassen sich „Verbesserungen“ erkämpfen – „wenn man weiß wie“ (7).
Inhaltlich decken Markard und Steinke das gesamte Spektrum eines rechtswissenschaftlichen Studiums ab. Das öffentliche Recht ist mit sechs Kapiteln vertreten, die sich mit Grundrechten und dem Demokratieschutz sowie dem Klimaschutz-, dem Polizei-, dem Asyl- und dem Sozialrecht beschäftigen. Dem Privatrecht sind die Kapitel über das Eigentum, das Familien- und das Arbeitsrecht gewidmet. Zudem enthält das Buch noch Abhandlungen über das Strafrecht, das Völkerrecht und die Menschenrechte. Allgemeine Schlussfolgerungen, wie sich mit dem Recht Verbesserungen erkämpfen lassen, können auf Grundlage der Analysen allerdings nicht gezogen werden. Denn Rolle und Funktion des Rechts variieren beträchtlich zwischen den dargestellten Fällen. Bisweilen sind es Gerichte, die durch ihre Rechtsprechung der „Politik Beine“ machen (15 ff.), bisweilen sind es Änderungen von Gesetzen, mit denen Rechte von Minderheiten durchgesetzt oder Diskriminierungen beseitigt werden; und bisweilen waren bestehende Rechte durch langwierige Verfahren und viele Instanzen durchzusetzen.
Ausgangs- und Kristallisationspunkt der Analysen sind konkrete Anliegen von Menschen. Beim Kapitel zum Klimaschutzrecht waren es die vier Geschwister der Familie Backsen von der Nordseeinsel Pellworm und Lüke Recktenwald von der Nordseeinsel Langeoog; sie alle wohnten – oder wohnen noch immer – auf Inseln, die von einem stetig steigenden Meeresspiegel bedroht sind. Die Jugendlichen wollten diese Gefahr nicht als unabweisbares Schicksal hinnehmen, sondern eine effektive Klimapolitik durchsetzen. Sie wussten sogar, ihr politisches Anliegen in eine rechtliche Form zu überführen, und „zogen nach Karlsruhe“, soll heißen: sie legten Verfassungsbeschwerde gegen das 2019 verabschiedete Klimaschutzgesetz ein – und erzielten einen „riesigen Erfolg“ (15). Denn der Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 24. März 2021 verschaffte dem Klimaschutz Verfassungsrang und wurde von nicht wenigen als bahnbrechendes Urteil verstanden.
Auch das Autorenduo findet die Strategie, Klagen anzustrengen, um Gerichten die Möglichkeit zu verschaffen, Verbesserungen beim Klimaschutz durchzusetzen, „[w]underbar ermutigend“ (16). Allerdings fällt die Bilanz zwei Jahre nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes, deutlich „nüchterner“ aus als noch 2021, findet Thomas Groß, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Osnabrück. Die unmittelbare Wirkung des Beschlusses sei „denkbar gering“ gewesen und der Beschluss weder von der Politik noch den Gerichten umgesetzt worden.[1]
Geltung und Durchsetzung von Grundrechten
Das zweite Kapitel behandelt die Frage: „Gibt es Situationen, in denen sich deutsche Behörden nicht an die Grundrechte halten müssen?“ (27). Eine, wie man meinen sollte, absurde Frage, denn das Grundgesetz ist eindeutig: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“ (Art. 1 Abs. 3 GG). Ausnahmen sind nicht vorgesehen, auch nicht für Geheimdienste. Dennoch hatte sich der Bundesnachrichtendienst (BND) eine „Weltraumtheorie“ (34) zurechtgelegt, nach der Art. 1 Abs. 3 GG für ihn nicht gelte, weil er seine Aufklärungsarbeit im Ausland betreibe, wo das Grundgesetz nicht anwendbar sei. Markard und Steinke beschreiben nun im Detail, wie es den Juristen Bijan Moini, Matthias Bäcker und einigen Mitstreiter*innen von der Gesellschaft für Freiheitsrechte gelungen ist, den BND an die grundrechtliche Kandare zu nehmen. Wieder half das Bundesverfassungsgericht, nach dessen Urteil vom Mai 2020 klar ist: „Es gibt keine grundrechtsfreien Zonen. Auch nicht für den BND“ (43).
In der Geschichte über Theresia Degener spielen Gerichte keine Rolle. Theresia Degener wurde 1961 ohne Arme und Hände geboren, was zur damaligen Zeit nahezu zwangsläufig ein Leben „im gesellschaftlichen Abseits, in einer Sonderschule für Behinderte“ (175) bedeutete. Theresia Degners Vater, Arzt in dem bayerischen Dorf, in dem die Familie wohnte, wollte sich damit nicht abfinden. Er wollte Besseres für seine Tochter und sicherte dem Schulleiter zu, dessen fünf Kinder zu behandeln, wenn dieser Degeners fünf Kinder in die „reguläre Schule“ (175) aufnehmen würde. Für Theresia Degener und die Behindertenbewegung war dies ein Glücksfall. Theresia Degener schloss die „reguläre Schule“ ebenso erfolgreich ab wie ihr Jurastudium und kämpfte danach – wieder erfolgreich – dafür, die UN-Behindertenkonvention in Deutschland als bindendes Recht anzuerkennen.
Wieder anders gelagert ist der Fall von Birte Meier. Die Journalistin verklagte 2015 ihren Sender, das ZDF, ihr den gleichen Lohn zu zahlen wie ihren männlichen Kollegen, denn sie mache ja auch die gleiche Arbeit. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, zumal das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit schon viele Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland gilt – aber eben „nur“ als Recht. Die Durchsetzung ihres Rechts wurde für Birte Meier ein langer und aufreibender Kampf, den sie nur durchhalten und letztlich gewinnen konnte, weil sie sich mit anderen Frauen vernetzte, die unter derselben diskriminierenden Praxis zu leiden hatten. Birte Meier war zugleich bewusst gewesen, dass sie trotz allem „privilegiert“ war, weil sie sich diesen Kampf habe leisten können (143). Die „modernen Tagelöhner“ (143 ff.) bei Lieferdiensten haben schlechtere Voraussetzungen und müssen bisweilen schon dafür kämpfen, überhaupt Lohn zu erhalten.
Wann wirkt Recht emanzipativ, wann als Herrschaftsinstrument?
Alle Geschichten werden spannend, kenntnisreich, mit großer Empathie erzählt und daraufhin geprüft, wie Recht eingesetzt wurde, um „Verbesserungen“ zu erzielen. Allein die beiden letzten Kapitel zum Völkerrecht und zu den Menschenrechten fallen aus dem Rahmen. Die Ermutigungen, die das Autorenduo daraus ableitet, sind eher zum „Haareraufen“ (209) denn Aufforderungen zum politischen Kampf. So hat die Ukraine das Verfahren beim Internationalen Strafgerichtshof „gewonnen“, das Russland am 16. März 2022 dazu verurteilte, die am 24. Februar 2022 begonnene Militäroperation „umgehend“ zu beenden, doch passiert ist: „nichts“ (191). Ebenso wenig scheinen Menschenrechte effektiv durchsetzbar. Bei Markard und Steinke mutieren sie in eine „Sprache für Kritik“, die es lediglich erlauben, „verbindliche Ansprüche auf Anerkennung und Gleichbehandlung zu formulieren“ (226). Doch ergeben sich aus den Ansprüchen keine durchsetzbaren Rechtstitel gegen Staaten.
Zu kritisieren bleibt lediglich, dass Markard und Steinke es versäumen, die Geschichten zu einer Geschichte zusammenzubinden. Es fehlt ein abschließendes Kapitel und es fehlen Überlegungen, was wir aus den präsentierten Fällen lernen können. Zu unterschiedlich sind die Rollen, die Recht, Gerichte und der Gesetzgeber darin spielen. Es bleibt letztlich unklar, ob es systematische Gründe dafür gibt, wann Recht zur „Emanzipation“ beiträgt oder doch eher als „Herrschaftsinstrument“ dient. Wichtiger noch: Die Geschichten provozieren die grundsätzliche Frage, ob und wann genuin politische Fragen von Gerichten beantwortet werden sollten.[2] Wie hoch sind also die demokratischen Kosten, wenn die Welt mit den Mitteln des Rechts und durch Gerichte verändert wird – und zwar auch dann, wenn es an sich zu „Verbesserungen“ führt?
Doch ändern diese Monita nichts daran, dass Nora Markard und Ronen Steinke ein ebenso lesenswertes wie ermutigendes Buch vorgelegt haben, dem möglichst viele Leser*innen zu wünschen sind.
Anmerkungen:
[1] Groß, Thomas: Zwei Jahre Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts: Eine Zwischenbilanz der weitgehenden Rezeptionsverweigerung, Verfassungsblog 2023/3/18, online unter: https://verfassungsblog.de/zwei-jahre-klimabeschluss-des-bundesverfassungsgerichts/, DOI: 10.17176/20230318-185144-0; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18 -, Rn. 1-270; online unter: https://www.bverfg.de/e/rs20210324_1bvr265618
[2] Möllers, Christoph, Recht kann Leben retten. Ein Fall von höchstrichterlicher Selbstüberschätzung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 75 vom 29. März 2006, S. 42