Schlaglichter vom DVPW-Kongress 2024: Politik und Recht
Vom 24. bis zum 27. September 2024 fand an der Universität Göttingen unter dem Titel „Politik in der Polykrise” der Kongress der der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) statt. Aufgrund der Menge an Inhalten können wir die vier Kongresstage nicht in ihrer Gesamtheit abbilden. Stattdessen veröffentlichen wir kurze Panelberichte unterschiedlicher Autor*innen als „Schlaglichter“, um das Kongressgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. In diesem Beitrag berichten David Kirchner (Portal für Politikwissenschaft) und Henning Schäckelhoff (Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg) über ein Panel zur europäischen Integration und einen Roundtable zum Instrument der strategischen Klage.
Ist die Theorie über die Asymmetrie von negativer und positiver Integration überholt?
Ein Schlaglicht von David Kirchner
Ist Fritz Scharpfs kanonische Theorie über die ungleichen Verwirklichungsbedingungen negativer und positiver Integration aus dem Jahr 19999 heute noch aktuell? So lässt sich die zentrale Fragestellung des Panels auf den Punkt bringen. Der Urheber der Theorie, Fritz Scharpf selbst, der als Discussant für das Panel vorgesehen war, konnte krankheitsbedingt kurzfristig nicht teilnehmen. Dementsprechend war er auch nicht in der Lage, am Folgetag den DVPW-Lebenswerkpreis persönlich entgegennehmen, war aber zumindest per Video präsent.
Und so bestand das Panel aus Susanne K. Schmidt (Bremen), Martin Höpner (Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung), die beide als enge Vertraute Scharpfs gelten können, und Sven Schreurs (Florenz). Vor dem inhaltlichen Teil sei vorausgeschickt, dass das Panel in Bezug auf seine Struktur unter den vielen des Kongresses positiv herausragte. Die Panelist*innen hatten sich, sicherlich vereinfacht durch ihre Vertrautheit, vorab besprochen und sich einen sinnvollen Aufbau für die 90 Minuten überlegt. In seiner Choreographie und Stringenz ähnelte das Panel damit eher einer Einheit eines Seminars.
Den Anfang macht Schmidt, indem sie die Grundzüge der Scharpf‘schen Integrationstheorie rekapitulierte. Scharpf unterscheidet zwischen zwei Modi der Integration. Während sich die negative Integration durch die Beseitigung von Zöllen und marktbeschränkenden Regularien auszeichne, bezeichnet die positive Integration die Schaffung neuer, gemeinsamer Regeln auf Unionsebene. Allerdings hätten Maßnahmen der negativen Integration deutlich höhere Verwirklichungschancen als positive Integrationsmaßnahmen. Während die negative Integration von der EU-Kommission und dem EuGH als „Verfassungsvollzug“ durchgesetzt werden kann, müssen positive Integrationsprojekte den komplexen und mit vielen Vetospielern gespickten Weg des Gesetzgebungsprozess in der EU gehen. Die Folge: Liberalisierungsprojekte haben strukturell einen prozeduralen Vorteil und „die Balance zwischen Staat und Markt [verschiebt sich] systematisch zuungunsten des Staates und seiner Fähigkeit, regulierend in Marktprozesse einzugreifen“ (Scharpf 2008: 49). Doch inwiefern trifft diese Beschreibung auf die EU im Jahr 2024 noch zu? Schließlich hat sich die EU seit Scharpfs Theorieformulierung durch die Ausweitung des Unionsrechts, die Einführung des Euros, der Verabschiedung wirtschaftspolitscher Steuerungsmaßnahmen sowie vereinzelte „Selbstkorrekturen“ der schlimmsten Liberalisierungsauswüchse massiv verändert.
Zwei mögliche Antworten auf diese Frage wurden anschließend von Höpner und Schreurs referiert. Höpner machte den Anfang und argumentierte präzise, weshalb trotz des veränderten politik-ökonomischen Kontextes die Asymmetrie von positiver und negativer Integration und die damit einhergehende Liberalisierungsdynamik weiterhin intakt seien, auch wenn ihr Wirkungsbereich inzwischen enger ausfalle. Die Dominanz negativer Integration sei trotz der jüngsten Welle sozialpolitischer Richtlinien wie der Mindestlohnrichtlinie oder der Revision der Entsenderichtlinie nicht behoben. Diese legislativen Korrekturen verblieben „theorieimmanent“ im Rahmen der Scharpf’schen Theorie und seien daher keineswegs als deren Falsifikation zu interpretieren.
Eine etwas andere Haltung, die als Gegenposition zu beschreiben jedoch zu weit ginge, nahm Schreurs ein. Auch er wollte die Asymmetrieannahme nicht vollends fallen lassen, betonte aber stärker die Neuartigkeit der Situation. So habe die positive Integration im Bereich der Sozialgesetzgebung aufgeholt, was durch Lerneffekte sowie eine progressivere (beziehungsweise weniger marktradikale) Handlungsorientierung zentraler Akteure wie der der Kommission erklärlich sei. Die veränderten Präferenzen der Akteure würden andere Politikergebnisse hervorbringen, denn „politics matters“. Allerdings müsse sich erst zeigen, wie stabil diese neue Orientierung tatsächlich sei.
Bevor es in die Diskussion zahlreicher interessanter Aspekte ging, denen gerecht zu werden, den Rahmen dieses Berichts sprengen würde, sei noch auf einen Einwand Höpners gegen den „politics matters“-Optimismus von Schreurs hingewiesen. Auch Höpner stimmte zu, dass sich die Präferenzen der zentralen Akteure (auch vor dem Hintergrund einer veritablen Legitimationskrise des Liberalisierungsprojekts) ein Stück weit von der „Marktreligion“ (Wolfgang Streeck) weg verschoben hätten, doch spreche das nicht zwangsläufig für ein Ende der Liberalisierungsdynamik. Denn die Theorie der Asymmetrie von negativer und positiver Integration hatte diese nie mit den neoliberalen Präferenzen von Kommission oder den Luxemburger Richter*innen begründet. Entscheidend seien die strukturell in die Regeln eingeschriebenen Verwirklichungschancen der beiden Integrationsmodi. Ein Argument, das die Unterscheidung zwischen Struktur und Agency verwische, gehe daher ins Leere. Dies bedeutet nicht, dass die Präferenzen der Akteure irrelevant sind und schließt das Gelingen positiver Integrationsprojekte nicht aus, macht aber deutlich, dass dies angesichts der bestehenden strukturellen Hürden relativ unwahrscheinlich ist und bewahrt so vor einem voluntaristischen „Wünsch dir was“.
Wer nun Lust bekommen hat, sich wieder einmal ganz grundsätzlich mit dem Zusammenspiel von Akteur und Struktur bei der Herstellung politischer Entscheidungen zu beschäftigen, wird in einem politikwissenschaftlichen Klassiker von 1995 und dem Stichwort „akteurszentrierter Institutionalismus“ fündig werden – natürlich formuliert von Renate Mayntz und Fritz Scharpf.
Literatur:
Mayntz, Renate; Scharpf, Fritz W. (1995): Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus, in: Mayntz, Renate; Fritz W. Scharpf (Hrsg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 39 – 72.
Scharpf, Fritz W. (1999): Regieren in Europa: Effektiv und demokratisch? Frankfurt am Main/New York: Campus.
Scharpf, Fritz W. (2008): Negative und positive Integration, in: Höpner, Martin; Schäfer, Armin (Hrsg.): Die Politische Ökonomie der europäischen Integration, Frankfurt/New York: Campus, S. 49-87.
Roundtable: Klagen in der Krise
Ein Schlaglicht von Henning Schäckelhoff
Der Roundtable begann mit den einleitenden Worten von Verena Frick (Universität Göttingen) und der thematischen Einordnung anhand des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Sache der „Klima-Seniorinnen“ gegen die Schweiz. Die Klimaseniorinnen, ein Zusammenschluss älterer Damen, hatte die Schweiz wegen unzureichender Maßnahmen gegen den Klimawandelt verklagt und argumentiert, dass sie aufgrund ihres Alters unter dem Klimawandel besonders zu leiden hätten und die Schweiz mehr dagegen tun müsse. Der EGMR gab ihnen Recht und urteilte, dass die Schweizer Regierung ihre Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawandel zu intensivieren habe.
Wie dieses Urteil von der Schweiz umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten, allerdings wurde anhand dieser Klage die Begrifflichkeit der „strategischen Prozessführung“ in die Diskussionsrunde eingeführt. Dahinter verbirgt sich das Konzept, dass Klagen nicht primär zu individuellen Rechtsschutzzwecken erhoben werden, sondern um das Recht gezielt für politische Interessendurchsetzung zu mobilisieren. Dies kann zur Folge haben, dass politische Probleme nicht mehr durch die Legislative, sondern durch Gerichte gelöst werden.
Mit dieser Eröffnung war der Ausgangspunkt der Diskussion gesetzt, in der Sarah Lincoln (Gesellschaft für Freiheitsrechte und Richterin am Hamburgischen Verfassungsgericht) sodann darlegte, warum strategische Prozessführung ihre Daseinsberechtigung habe und sowohl von NGOs als auch Unternehmen genutzt werde. Lincoln stellte dabei den Verein „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ vor, der sich auf Klagen in Grundsatzfragen zu Grund- und Menschenrechten spezialisiert hat. Auch im Migrations- und Asylrecht greift der Verein auf die strategische Prozessführung zurück, um „menschenwürdige Existenzrechte“ zu sichern. Aber auch Beispiele aus der Arbeitswelt wurden vorgestellt. Als Beispiel diente die erfolgreiche Klage einer Frau auf gleichen Lohn bei gleicher Position, obwohl in den Gehaltsverhandlungen zunächst schlechtere Bedingungen ausgehandelt wurden als von ihrem männlichen Kollegen.
Carolina Vestena (Universität Kassel), die für ihre Forschungskollegin Sonja Buckel eingesprungen war, ergänzte diese Ausführungen um die eigene Forschungsperspektive, die einen besonderen Fokus auf die Praxis der strategischen Prozessführung legt und die Frage nach dem Wer, Wie und Wann solcher Klagen thematisiert.
Anschließend war es Andreas Paulus (Universität Göttingen), der die bislang umgangene, aber durchaus kontroverse Frage nach der Legitimität solcher Prozesse aufwarf. In der Frage, ob politische Rechtsstreitigkeiten eine Gefahr für das Recht darstellen, skizzierte er den typischen Verlauf von Klagevorhaben, die auf politischen Entscheidungen basieren. Als Beispiel wählte er hierzu die Reform des Geschlechtsregisters. Diese Reform habe Auswirkungen, die möglicherweise zu Problemen führen, die dann wiederum vor Gericht verhandelt würden. Einschränkend stellte er aber fest, dass das Gericht seinen Platz in dieser Konstellation kennen sollte.
Svenja Ahlhaus (Universität Münster) beleuchtete erneut die Konsequenzen dieses neuen Konzepts der politischen Problemlösung mit rechtlichen Mitteln und wies auf einige Missverständnisse bei der Frage hin, wer überhaupt warum strategische klagt: Entgegen häufiger Annahmen sei die strategische Prozessführung weder eine Art „Last Resort“, auf das zurückgegriffen werde, wenn alle anderen Möglichkeiten bereits ausgeschöpft sind, noch seien strategische Klagen Ausdruck von Repräsentationsdefiziten.
Ahlhaus zeigte weiter auf, welche Auswirkungen die Etablierung strategischer Prozessführung haben kann: Erstens entstehe eine „legal community“, in der politische Probleme zu rechtlichen umformuliert würden, zweitens werde die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger gebunden, die dieses „Spektakel auf der Bühne“ nur beobachten könnten und drittens komme es zu einer negativen Adressierung des politischen Prozesses, nach dem Motto “Nur Gerichte liefern überhaupt noch Resultate“. Auf diese Weise würden die demokratischen Prozesse und Akteure abgewertet. Insofern lasse sich die Zunahme von strategischer Prozessführung auch als Ausdruck der Krise der Demokratie interpretieren. Wie mit dieser Entwicklung umgegangen werden soll, bleibt als Thema für den nächsten Roundtable.
Das Fach Politikwissenschaft
Weiterführende Links
„Politik in der Polykrise“
Webseite des 29. Wissenschaftlichen Kongresses der DVPW an der Georg-August-Universität in Göttingen
Mehr zum Themenfeld Das Fach Politikwissenschaft